• Keine Ergebnisse gefunden

3.2 Familiäre Bedingungen von Schülerleistungen

3.2.2 Familiäre Lernmilieus und Schulerfolg

Ausgehend von den Befunden zur mediierenden Funktion von Bildungsaspirationen stellt sich die Frage, ob es weitere Mediatoren im Sinne von familiären Prozessmerkmalen gibt, welche Schülerleistungen erklären können und den Effekt des SES vermitteln, und wie diese mitein-ander interagieren.

Wie in Kapitel 1.2 eingeführt, dürften fünf Faktoren aus dem Familienkontext zur Erklärung

SES

hungsstil, autonomieförderliche Unterstützung bei Hausaufgaben, leistungsbezogene Erwar-tungen und Aspirationen sowie leistungsunterstützende Elternattributionen.

Neue Sichtweisen der Familie legen ein systemtheoretisches Verständnis nahe. Familien sind soziale Systeme, welche differenzielle Lernumgebungen schaffen. Sozialisationseffekte der Familien lassen sich in einem systemtheoretischen Verständnis nicht auf einzelne Variablen reduzieren, sondern es sind Konstellationen von Variablen und Zuständen in sozialen Syste-men, welche bedeutsam auf die Sozialisation der Kinder einwirken (Neuenschwander &

Goltz, 2008). Diesem Ansatz folgend gilt es, solche Konstellationen von Variablen zu finden und miteinander zu vergleichen. Familien bilden also keine einheitlich gestalteten Kontexte, sondern lassen sich in verschiedene Typen gruppieren. Durch die Typologisierung von Fami-lien können die Wirkungen verschiedener Lernmilieus auf die schulischen Leistungen unter-sucht werden. In methodischer Hinsicht erlauben Typologisierungen im Sinne des person-centered approach Interaktionen zwischen verschiedenen Variablen und Prozessen zu unter-suchen (Bergmann & El-Khouri, 2003).

Pädagogische Typologien von Familien sind bisher selten. Viel bekannter sind Klassifikatio-nen von Erziehungsstilen, wie sie etwa Lewin (1936) oder Baumrind (1971) entwickelt haben.

Diana Baumrind sowie Buri, Louiselle, Misukanis und Mueller (1988) postulierten die vier Erziehungsstile autoritativ, autoritär, vernachlässigend und permissiv. Bei der Entwicklung von Familientypen orientierte ich mich an diesen vier Erziehungsstilen und leitete daraus vier pädagogische Orientierungen von Familien ab.

Mit den vier oben eingeführten Dimensionen Erziehungsstil, kognitive Stimulation, Hausauf-gabensituation und Elternerwartungen rechneten wir iterative Clusteranalysen, um solche Fa-milientypen empirisch zu bilden (vgl. ausführlicher Neuenschwander & Goltz, 2008). Wir be-zogen uns dabei auf die Angaben von Kindern der 6. Klasse und ihren Eltern. Diese Clustera-nalyse erklärte 68% der Varianz und ist daher sehr aussagekräftig. Im vorliegenden Fall er-brachte die Analyse für eine zweite Stichprobe von Kindern der 8. Klasse die gleichen Ergeb-nisse. Die Cluster sind also mit einer zweiten Stichprobe gut replizierbar. Die vier familiären Lernmilieus lassen sich wie folgt umschreiben (Abbildung 3.4):

1. Atomistische Familien sind durch geringe Zuwendung, Stimulation und Autonomie der Kinder charakterisiert. In Schulfragen, etwa bei Hausaufgaben, sind Konflikte häu-fig. Zwischen den Familienmitgliedern gibt es nur wenig oder aber konfliktreichen Austausch.

2. In autonomieorientiert-anregenden Familien erleben Kinder eine hohe Zuwendung und Autonomie. Gleichzeitig richten Eltern hohe Leistungserwartungen an ihre Kinder und bieten ein kognitiv stimulierendes Umfeld, indem sie zum Besuch kultureller Ver-anstaltungen, Lektüre von Büchern usw. anregen. Zuwendung und Gewähren lassen werden mit hohen Erwartungen gekoppelt. Konflikte bei Hausaufgaben sind sehr sel-ten.

3. In kontrollierend-anregenden Familien erleben die Kinder eine autoritäre Führung kombiniert mit hoher emotionaler Zuwendung. Konflikte sind eher häufig.

4. In wachsen lassenden (permissiven) Familien erleben die Kinder wenig Führung und geringe kognitive Anregung. Kinder geniessen aber eine hohe Autonomie und Zunei-gung und sie können in hohem Mass über sich selber bestimmen. Die einzelnen

Fami-lienmitglieder leben weitgehend unabhängig voneinander und interessieren sich pri-mär für die eigenen Anliegen, was sich - im Unterschied zu den atomistischen Famili-en - konfliktarm vollzieht.

Abbildung 3.4: Ergebnis der Clusteranalyse (Cluster 1: atomistisch, 2: autonomieorientiert-anregend, 3: kontrollierend-anregend, 4: wachsen lassend)

Im ersten Schritt untersuchten wir die Zusammensetzung der Cluster. Die Clusterzugehörig-keit unterschied sich nicht nach dem Geschlecht der Kinder oder nach der Familienzusam-mensetzung. Allerdings gehörten Familien des zweiten und vierten Typs häufiger der Ober-schicht an (F(3, 332)=9.8, p<.001). Überdies traten Kinder aus Cluster 2 und 4 nach dem 6.

Schuljahr häufiger in einen Schultyp mit erweiterten Ansprüchen ein (χ2(6)=104.1, p<.001).

Das Hauptinteresse richtete sich darauf, ob die Kinder je nach familiärem Lernmilieu unter-schiedliche Leistungen in der Schule erbrachten. Wir führten neben einer Befragung der El-tern und der Kinder zu zwei Messzeitpunkten auch Leistungstests in Deutsch und Mathematik durch. Diese Leistungstests wurden von uns selber für dieses Forschungsprojekt entwickelt und sie erwiesen sich als reliabel und valide. Die Leistungstests hatten einen Mittelwert von 50 und eine Standardabweichung von 10 (vgl. Kapitel 2.3.3.2).

Wie der Abbildung 3.5 entnommen werden kann, erbrachten die Kinder aus dem autonomie-orientiert-anregenden familiären Lernmilieu deutlich höhere Leistungen in Deutsch und Ma-thematik als die Kinder aus atomistischen und kontrollierend-anregenden Familien. Der Un-terschied war grösser als eine Standardabweichung. Die Leistungen der Kinder aus wachsen lassenden Familien lagen in der Mitte. Der Unterschied war statistisch bedeutsam

(Mathema--1,5 -1 -0,5 0 0,5 1 1,5 2

1 2 3 4

1. Erziehungsstil:

Kontrolle /Struktur (S) 2. Erziehungsstil:

Autonomie/ Zuwendung (S)

3. Stimulation (S)

4. Hausaufgaben:

Selbständigkeit E 5. Hausaufgaben:

Konflikte E

6. Bildungsaspirationen E

7. leistungsbezogene Erwartungen E

sozioökonomische r Status der Familie kontrolliert worden waren, betrug die Effektstärke in Mathematik 1.45 und in Deutsch 1.09, was sehr starken Effekten entspricht. Diese familiären Lernmilieus vermögen also in hohem Mass Unterschiede zwischen den Leistungstests zu er-klären.

Im nächsten Schritt interessierte es uns, ob die familiären Lernmilieus in einer längsschnittli-chen Analyse auch die Veränderungen der Leistungen beim Übergang vom 6. ins 9. Schuljahr erklären können. In einer Kovarianzanalyse zeigte sich, dass dies sehr wohl möglich ist: Auch wenn man die früheren Leistungen und den sozioökonomischen Status der Familie als Kova-riate kontrolliert, vermag das familiäre Lernmilieu am Ende der Primarschule die Leistungen drei Jahre später, im 9. Schuljahr, vorherzusagen (Mathematik: Cluster: F(3, 211)=6.5, p<.001, η2Cluster=8.5%; ISEI: F(1, 211)=1.6ns., η2ISEI=0.7%; Test: F(1, 211)=112.6, p<.001, η2Test=34.8%; Deutsch: Cluster: F(3, 209)=7.3, p<.001, η2Cluster =9.5%, ISEI: F(1, 209)=2.4ns., η2ISEI =1.2%, Test: F(1, 209)=180.8, p<.001, η2Test=45.3%). Man kann daraus folgern, dass diese vier Familientypen unterschiedliche familiäre Lernmilieus bildeten, welche nicht nur mit unterschiedlichen Leistungen korrespondierten, sondern auch die Leistungsent-wicklung im Zeitraum von 3 Jahren vorhersagten und den Effekt des sozioökonomischen Sta-tus vollständig kompensierten. Diese Analysen konnten für den Übergang von der Primar-schule in die Sekundarstufe I durchgeführt werden, aber nicht für den Übergang von der Se-kundarstufe I in die SeSe-kundarstufe II, weil in dieser Teilstichprobe zu wenig ausgefüllte Leis-tungstests vorlagen.

Abbildung 3.5: Familientypen Leistungen in Deutsch und Mathematik

Die präsentierten Ergebnisse brachten nun eine Differenzierung: Es ist offenbar nicht in erster Linie die Schichtzugehörigkeit der Familie, welche die Art der familiären Bildung zu charak-terisieren erlaubt, sondern es sind die unterschiedlichen familiären Lernmilieus, die sich mit den Einstellungen und Interaktionsformen von Eltern und Kindern beschreiben lassen.

Motivation: Im vorliegenden Zusammenhang interessierte ausserdem die Motivationsentwick-lung beim Übergang in die Berufsbildung. Eine wichtige Unterscheidung ist die zwischen

in-40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60

atomistisch auton.-anregend führend-anreg wachsen lassend Familientypen

Leistungen

Mathematik 6 Deutsch 6

trinsischer und extrinsischer Motivation. Während die intrinsische Motivation ein spontanes Interesse an schulischem Lernen meint (Beispielitem: „Ich lerne, weil ich etwas verstehen möchte“), bezieht sich die extrinsische Motivation auf die Handlungsregulation durch äussere Anreize und instrumentelles Handeln (Beispielitem: „Ich lerne, weil es von mir erwartet wird“). Erlauben die Familientypen im 8. Schuljahr die Vorhersage der intrinsischen und extrinsischen Motivation im 11. Schuljahr bzw. im 2. Lehrjahr?

Zur Prüfung dieser Frage rechneten wir wiederum Kovarianzanalysen mit den abhängigen Variablen intrinsische und extrinsische Motivation im 11. Schuljahr und den unabhängigen Variablen intrinsische bzw. extrinsische Motivation im 8. Schuljahr sowie dem Faktor Famili-entyp. Tatsächlich vermochte der Familientyp die intrinsische Motivation im 11. Schuljahr vorherzusagen (F(3, 208)=3.0, p<.05), selbst nach Kontrolle der Kovariate intrinsische Moti-vation (8. Schuljahr) (F(1, 208)=196.5, p<.001). Die Vorhersage ins 3. Lehrjahr verpasste knapp das Signifikanzniveau (F(1, 208)=2.1, p<.10). Die Familientypen vermochten aber die extrinsische Motivation nicht vorherzusagen (F(3, 208)= 1.6ns.), die Kovariate war auch hier signifikant (F(1, 209)=37.4, p<.001). Bei Jugendlichen aus autoritär-anregenden und wachsen lassenden Familien war die intrinsische Motivation höher als bei Jugendlichen aus den beiden anderen Familientypen. Bei der Vorhersage des 3. Lehrjahrs wurden aber die Familientypen signifikant (F(3, 281)=16.5, p<.001) sowie die Kovariate extrinsische Motivation zum 1.

Messzeitpunkt (F(1, 281)=16.3, p<.001): Bei atomistischen und wachsen lassenden Familien ist die extrinsische Motivation höher als bei Jugendlichen aus den anderen Familientypen.

Diese familiären Lernmilieus waren offenbar Bildungskontexte, welche auf den Lernprozess und die Entwicklung der Kinder im schulischen Umfeld aber auch bereichsübergreifend einen nachhaltigen Einfluss ausübten. Damit wird exemplarisch die enge Wechselwirkung von fa-miliärer und schulischer Bildung sichtbar.