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Fallbericht- Ein ungewöhnlicher Fall eines monozygoten Thorakopagus

Thorakopagus parasiticus bei einem Deutschen Holstein Kalb 33

4 Fallbericht- Ein ungewöhnlicher Fall eines monozygoten Thorakopagus parasiticus bei einem Deutschen Holstein Kalb

SCHULZE, U. ¹, KOCH, R.², KÖCHLING, M. ³, WOHLSEIN, P. ³, DRÖGEMÜLLER, C.¹, MEYER, W.², DISTL, O.¹, WAIBL, H. ²

¹Institut für Tierzucht und Vererbungsforschung der Stiftung Tierärztliche Hochschule Hannover, ²Anatomisches Institut der Stiftung Tierärztliche Hochschule Hannover,

³Institut für Pathologie der Stiftung Tierärztliche Hochschule Hannover

SCHULZE, U., KOCH, R., KÖCHLING, M., WOHLSEIN, P., DRÖGEMÜLLER, C., MEYER, W., DISTL, O., WAIBL, H. (2006): Fallbericht - Ein ungewöhnlicher Fall eines monozygoten Thorakopagus parasiticus bei einem Deutschen Holstein Kalb. Dtsch. tierärztl. Wschr. 113, 72-78.

Zusammenfassung

Bei einem Kalb der Rasse Deutsche Holsteins trat eine komplexe Doppelmissbildung in Form eines Thorakopagus parasiticus auf. Mit einer molekulargenetischen Untersuchung konnte die Entstehung der Doppelmissbildung aus einer Zygote nachgewiesen werden. Beide Wirbelsäulen wiesen starke Lordosen auf. Die Wirbelsäule eines Tieres endete in einem Kopfrudiment. In der Nähe des Kopfrudimentes wurden zwei Kiemenbogenderivate gefunden. Es waren zwei Brustkörbe angelegt, die zu einem gemeinsamen „Brustkorb“ verschmolzen waren. In der gemeinsamen „Brusthöhle“ befand sich ein Herz, in dessen rechter Vorkammer eine kirschgroße Struktur gefunden wurde, die histologisch Herzmuskulatur und glatte Muskulatur eines Gefäßes aufwies. Die Aorta teilte sich kurz nach ihrem Ursprung, um beide Tiere mit jeweils einer Aorta zu versorgen. Ein größeres Paar von Lungen war mit einer Trachea verbunden, die zum Kopf führte. Ein kleineres Lungenpaar entsprang aus einer Trachea, die aus dem Kopfrudiment stammte.

Das Diaphragma war partiell verdoppelt; es besaß zwei Durchtritte für die Aorten, aber nur ein Foramen venae cavae. Ein solitärer Oesophagus zog durch eine Hiatushernie und führte in zwei Vormagensysteme, die wiederum in einen Labmagen

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mündeten. Der Darm war bis zum Jejunum nur einfach angelegt und teilte sich dann im weiteren Verlauf. Das betroffene Tier war nach den Pedigreeinformationen nicht ingezüchtet, noch waren weitere betroffene Tiere für das Pedigree des untersuchten Tieres in dem Bestand bekannt.

Schlüsselwörter: Doppelmissbildung, Kalb, Deutsche Holsteins, Thorakopagus

SCHULZE, U., KOCH, R., KÖCHLING, M., WOHLSEIN, P., DRÖGEMÜLLER, C., MEYER, W., DISTL, O., WAIBL, H. (2006): Case report – An exceptional case of a monozygotic thoracopagus parasiticus in a German Holstein calf. Dtsch.

tierärztl. Wschr. 113, 72-78.

Summary

A black and white German Holstein calf displayed a complex double malformation in shape of a thoracopagus parasiticus. By means of a molecular genetic investigation the genesis of the malformation from one zygote could be demonstrated. Both vertebral columns showed a pronounced lordosis, with the vertebral column of one animal ending in a rudimentary head. Close to this rudiment two derivates of branchial arches were found. The two thoracic cavities merged into one „thorax“. In the shared thoracic cavity one heart was found. In its right atrium, a cherry-sized structure was found in which heart- and vascular smooth muscles were demonstrated histologically.

The aorta split shortly after its origin to provide both animals with one aorta each. The larger pair of lungs was connected with a trachea leading to the head while the smaller pair of lungs originated from a trachea deriving from the rudimentary head.

The diaphragm was partially duplicated with two passages for the aortas but only one foramen venae cavae was present. A single esophagus was found in a hiatus hernia leading into two forestomach systems that ended in one abomasum.

The intestine was shared up to the jejunum and split afterwards. The pedigree of the affected animal showed neither inbreeding nor any other affected animal.

Key words: conjoined twins, calf, German Holsteins, thoracopagus

Einleitung

Zusammenhängende Doppelbildungen werden in symmetrische und asymetrische Doppelbildungen unterteilt. Von den symmetrischen Doppelbildungen weist die

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Duplicitas completa eine vollständige Verdopplung der Wirbelsäule auf, wohingegen es bei der Duplicitas incompleta nur zu einer unvollständigen Verdopplung kommt.

Bei asymmetrischen Doppelbildungen ist ein Individualteil (Autosit) weitgehend normal ausgebildet, wohingegen der andere Individualteil (Parasit) hochgradige Anomalien zeigt. Obwohl es einige Berichte zu Doppelbildungen gibt, sind Duplikaturen des kaudalen Endes, d.h. eine Verdopplung im Beckenbereich, nur selten beschrieben (HIRAGA et al. 1989). Bei dieser „Duplicitas posterior“ kann eine Auftrennung des Embryos am kaudalen Pol der Embryonalplatte bis zum späteren ersten Brustwirbel oder darüber hinaus festgestellt werden. Dabei sind vier Hintergliedmaßen vorhanden (HERZOG 2001).

Die Ursachen zur Entstehung von spontanen Doppelbildungen sind bisher nicht geklärt. Eine unvollständige Spaltung der Embryonalachse oder eine Fusion von Embryonen vor der Implantation werden als mögliche Ursache gesehen.

Bei unvollständiger Spaltung eines Embryos separieren sich die Zellen der inneren Zellmasse wie bei einer Zwillingsbildung. Im Gegensatz zu monozygoten Zwillingen liegt jedoch keine vollständige Trennung vor, so dass keine zwei eigenständige Embryonalachsen gebildet werden (BARON et al. 1990). Diese Doppelbildungen besitzen immer zwei Chordae dorsales, die sich parallel zueinander entwickeln.

Senkrecht zueinander stehende Körperachsen bei Doppelmissbildungen sind auf diese Weise nicht zu begründen (MACHIN 1993).

Von monozygoten Zwillingen vermutet man, dass sie das Resultat einer Aufspaltung von frühembryonalen Entwicklungsstadien während der ersten Woche nach der Befruchtung der Eizelle sind; auch Doppelmissbildungen entstehen ungefähr zu dieser Zeit (SPENCER 2000). Diese liegen aber weiterhin so eng beieinander, dass sie sich eine Amnionhöhle oder aber auch das Amnion und den Dottersack teilen.

Setzen die Embryonen ihr schnelles Wachstum fort, können sie an bestimmten Stellen miteinander in Kontakt treten und wieder vereint werden. Dadurch kann es zu

„ventralen“ oder „dorsalen“ Zwillingen kommen (SPENCER 2000). HERZOG (2001) sieht als Ursache für Doppelmissbildungen polygene Effekte an und vermutet, dass Doppelmissbildungen und höhere Raten von Mehrlingsgeburten von denselben Genen verursacht werden. Dagegen konnte MODROVICH (1969) keine Beziehung zwischen der Häufigkeit von Doppelmissbildungen und Zwillingsgraviditäten nachweisen. Mit Inzuchtpaarungen und dem Konzeptionsalter der Mütter konnte das

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Auftreten von Doppelmissbildungen ebenfalls nicht erklärt werden. Allerdings ergab ein Vergleich der Konzeptionstermine der Mütter eine erhöhte Frequenz von Doppelmissbildungen in den Wintermonaten.

Doppelmissbildungen mit senkrecht angeordneten Körperachsen könnten durch eine Fusion zweier Embryonen zustande kommen. Eine Fusion noch vor der Implantation im Uterus hielten THOMPSON et al. (1991) für wahrscheinlich. Die These der Fusion wurde durch die Beobachtung von LOGRONO et al. (1997) gestützt, die in einem Fall von Doppelbildung dizygote Zwillinge vorfanden.

Durch die Fusionstheorie sind Phänomene zu erklären, die durch die Spaltungstheorie bisher nicht begründet werden konnten. Verbindungen zweier Embryonen bestehen immer an acht Stellen (Tabelle 1), während nach der Spaltungstheorie eine höhere Diversität zu erwarten wäre. Die Fusionstheorie kann erklären, warum einige Doppelbildungen eine Nabelschnur, andere aber auch zwei besitzen.

Sowohl Omphalopagus als auch Thorakopagus entstehen als Ergebnis einer Verbindung des rostralen Endes der Embryonalplatte ungefähr nach der zweiten Woche post conceptionem. Das ist der Zeitraum, in dem die Anlagen für das Septum transversum und das Herz entstehen. Bei minimaler Fusion zwischen zwei rostral orientierten Embryonalplatten in diesem sehr frühen Stadium fusioniert nur das Septum transversum und führt zu einem Omphalopagus (mit Verbindung der Diaphragmen, eventuell auch der Perikardien aber nicht der Herzen). Eine intensivere Fusion führt auch zur Verschmelzung des Herzursprungs wie es bei einzelnen multiventrikulären Herzen der Thorakopagen zu sehen ist, dabei entwickeln sich beide Typen von Doppelbildungen aus einem einzigen Dottersack.

McGEADY et al. (1979) beobachteten, dass normale, monozygote Zwillinge beim Rind etwa 0,1% der Geburten ausmachen. MASSIP et al. (1983) berichteten über eine wesentlich höhere Inzidenz von monozygoten Zwillingen beim Embryotransfer als bei normaler Befruchtung. Das Auftreten von Doppelmissbildungen beim Rind wurde bisher mit einer Häufigkeit von 0,0001% (KELLER u. NIEBODA 1937) bis 0,0004% (MODROVICH 1969) angegeben. Am häufigsten sind dabei Duplikationen des vorderen Körperteils, vor allem in Form der Doppelgesichtigkeit (Diprosopus) (MODROVICH 1969). MASSIP et al. (1983) zeigten durch Zeitraffer-Kinematographie, dass Rinderembryonen durch einen schnellen und reibungslosen

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Prozess von Herniation durch einen Spalt aus ihrer Zona pellucida schlüpfen. Sie demonstrierten auch, dass die Blastozyste bei atypischem Verlauf nur teilweise aus der Zona pellucida herausragte. Dadurch kann es für kurze Zeit zu einer teilweisen Separation der Blastozyste kommen. Dies kann auch zur Entwicklung von monozygoten Zwillingen führen.

Die experimentelle Doppelbildung gelang bisher durch verschiedene Techniken:

SPEMANN (1903) induzierte Doppelbildungen in Molchembryos, indem er einen Faden um die Prägastrula band. Dadurch verursachte er eine separate Entwicklung beider Hälften. LUTZ (1949) erreichte Zwillinge aus Vogelembryonen, indem er in den vorderen Teil des Primitivstreifens kleine Schnitte machte. LAMBETH et al. (1983) und WILLIAMS et al. (1984) teilten 5,5 bis 7,5 Tage alte Rinderembryonen durch Mikrochirurgie und erhielten so Zwillinge. MCGEADY et al. (1979) gelang bei ihren Versuchen mit bovinen Blastozysten eine partielle Teilung einer 8 Tage alten Blastozyste, die eine Verbindung in der Thoraxregion aufwies.

Duplikationen der kaudalen Region führen eventuell zu einer partiellen oder auch vollständigen Verdopplung des Beckens. Dabei können ein drittes median gelegenes Hinterbein oder vier Hintergliedmaßen vorhanden sein (HIRAGA u. DENNIS 1993).

VANDERZON et al. (1998) berichteten über ein Kalb mit zwei Köpfen und zwei Hälsen, das nach Embryotransfer geboren wurde. Die Wirbelsäulen waren vom Kopf bis zu den Schwänzen vollkommen separat, doch kam es durch eine gemeinsame Brust- und Bauchhöhle zu einer Fusion der ursprünglich zwei Individuen; dadurch hatte das Kalb lediglich ein Becken und zwei Hinterbeine. Zwei Vorderbeine lagen zwischen den beiden Köpfen und waren verbogen. Zwei weitere, anatomisch normal geformte Beine, lagen jeweils lateral der Köpfe. Die Rippen bildeten einen gemeinsamen Thorax. Zwei Herzen lagen in einem gemeinsamen Herzbeutel, von denen jedes eine Hälfte der Doppelmissbildung versorgte. Es konnten zwei vollständige Lungenpaare nachgewiesen werden. Der Verdauungstrakt war bis zum Jejunum doppelt angelegt; das Urogenitalsystem war einfach vorhanden.

Ein Holstein Friesian-Kalb mit 6 Beinen beschrieben LEIPOLD und DENNIS (1972).

Das Tier besaß ein normales Becken, an dem zwei zusätzliche Hinterbeine hingen.

MUYLLE et al. (1998) fanden ein weibliches Kalb mit zwei Köpfen, vier Vorderbeinen, drei Hinterbeinen und zwei voll ausgebildeten Wirbelsäulen. Ein Perikard beinhaltete

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zwei Herzen. An der Mündung der Vena cava waren diese Herzen miteinander verbunden.

BEREPUBO (1986) untersuchte eine Doppelmissbildung, bei der die Anlagen zu zwei Kälbern der Rasse Holstein Friesian an den Brustkörben zusammengewachsen waren; es wurden ein Kopf und acht Beine festgestellt. An der kranio-kaudalen Achse, die zum größeren Körper gehörte, waren ein solitärer Kopf, zwei Vorderbeine und zwei Hinterbeine ausgebildet. Die Beine des kleineren Kalbes lagen rechtwinklig und an entgegen gesetzten Seiten des Brustkorbes des größeren Kalbes. Das Cranium des kleineren Tieres fehlte. Eine morphologische Untersuchung des Tieres wurde nicht vorgenommen.

Auf einem Milchviehbetrieb wurde ein Kalb mit acht Beinen, einem Kopf und einer Verdopplung der Hinterhand geboren. Da bisher ein derartiger Fall von Doppelmissbildung beim Kalb noch nicht bekannt war, wurde in der vorliegenden Arbeit dieses Kalb einer pathologisch-anatomischen und genetischen Untersuchung unterzogen, um mögliche Ursachen einzugrenzen.

Material und Methoden

Ein Kalb der Rasse Deutsche Holsteins, Farbrichtung schwarzbunt, wurde mit einer Doppelmissbildung dem Institut für Tierzucht und Vererbungsforschung der Stiftung Tierärztliche Hochschule Hannover gemeldet. Das Kalb stammte aus einem Milchviehbetrieb mit ca. 40 Kühen. Der Betrieb war laut Angabe des Landwirtes IBR- und BVD-frei. Im Institut für Pathologie sowie im Anatomischen Institut der Tierärztlichen Hochschule Hannover wurde eine makroskopische Untersuchung des Tieres durchgeführt, außerdem erfolgte eine histologische Untersuchung (Gefrier- und Paraffinschnitte; Toluidinblaufärbung und HE-Färbung). In der Klinik für Pferde der Tierärztlichen Hochschule Hannover wurden digitale Röntgenbilder (Gerät:

ROTALIX, Fa. Philips Medizinsysteme, Hamburg) angefertigt. Die Bildbearbeitung erfolgte an einer digitalen Luminiszenzradiographie-Anlage, dem Philips Computed Radiography System, PCR AC3 (Fa. Philips Medizinsysteme, Hamburg), bestehend aus einem Bedienterminal, dem Speicherfolien-Lesegerät AC3, und einer EasyVision Station (EasyVision RAD).

Alle Informationen zur Abstammung des Tieres wurden ausgewertet Für molekulargenetischen Untersuchungen wurden Gewebeproben von allen acht Beinen

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gewonnen. Hierdurch sollte geklärt werden, ob die Doppelmissbildung auf nur eine Zygote oder auf zwei Zygoten zurückgeführt werden kann. Deshalb wurde aus je einer Hautprobe der vier Vordergliedmaßen hochreine genomische DNA mittels des DNeasy Tissue Kit (Qiagen, Hilden) gewonnen. Für die PCR Amplifizierung von sechs hochpolymorphen Mikrosatelliten-Markern vom Rinderchromosom 1 (Tabelle 2) betrug das Reaktionsvolumen 15 µl. Es enthielt ca. 25 ng genomische DNA, 1,5 mM MgCl2, je 5 pmol Primer, 100 mM von jedem Desoxyribonukleosidtriphosphat (dNTP) und 1 U Taq DNA Polymerase (Q-Biogene, Heidelberg). Eine Auftrennung der mit dem IRD700 Farbstoff (MWG Biotech, Ebersberg) fluoreszenzmarkierten PCR Amplifikate erfolgte auf Polyacrylamidgelen unter Einsatz eines automatischen Sequenziersystems (LI-COR 4300, Lincoln, NE, USA). Die Bestimmung der aufgetretenen Mikrosatelliten-Allele erfolgte visuell an Hand eines Größenstandards durch zwei unabhängige Personen.

Ergebnisse Anamnese

Das Kalb stammte von einer Färse der Rasse Deutsche Holsteins, Farbrichtung schwarzbunt. Zwei Wochen vor Beendigung der Trächtigkeit fiel die Kuh durch starke Abmagerung und Gelenkentzündungen auf. Der Landwirt stellte bei einer geburtshilflichen Untersuchung eine Hinterendlage fest. Gleichzeitig fand er auch zwei Vorderbeine im Geburtsgang. Der hinzu gerufene Tierarzt konnte an den im Geburtsgang befindlichen Hintergliedmaßen einen Klauenreflex auslösen. Da alle Auszugsversuche scheiterten, wurde das Muttertier notgeschlachtet und dabei das Kalb entbunden, das jedoch keine Lebenszeichen mehr zeigte. In diesem Betrieb traten bis zum jetzigen Zeitpunkt keine Doppelmissbildungen auf, und in der Verwandtschaft des Tieres konnten bisher ebenfalls keine Missbildungen nachgewiesen werden. Von den Vorfahren der Mutter gibt es keine Berichte von Zwillingsträchtigkeiten. Der Vater des Kalbes war ein Besamungsbulle, in dessen Nachkommenschaft keine weiteren Fälle von Doppelbildungen bekannt sind. Sowohl der Vater des Kalbes als auch der Vater der Mutter vererbten keine erhöhte Frequenz von Mehrlingsträchtigkeiten.

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Beschreibung des Tierkörpers einschließlich Skelettsystem

Die Doppelmissbildung besaß einen Kopf, einen Hals und zwei ventrolateral miteinander verschmolzene Brustkörbe (Abb. 1). Bis zur Höhe des Nabels waren auch die Bauchhöhlen vereinigt. Dort trennten sich die Körper, so dass zwei in unterschiedliche Richtungen weisende Becken mit jeweils zwei unauffälligen Beckengliedmaßen vorlagen. Beide Tiere besaßen jeweils einen Anus, einen Penis sowie ein Skrotum. In den Skrota waren keine Hoden fühlbar.

Zur Unterscheidung wurden die zwei Körper „rechtes Tier (Tier R)“ bzw. „linkes Tier (Tier L)“ genannt.

Durch Öffnung des Wirbelkanals und Darstellung des Rückenmarks beider Tiere wurde gezeigt, dass der voll ausgebildete Kopf samt Hals zum Tier R gehört.

Kaudal des vierten Halswirbels bog der hintere Teil des Körpers des rechten Tieres in einem Winkel von ca. 130° entgegen dem Uhrzeigersinn um, so dass die Hintergliedmaßen von Tier R in kranioventrolaterale Richtung wiesen, sich somit auf Höhe des Kopfes und zweier dem Kopf anliegender Schultergliedmaßen befanden (Abb. 1 und 2). Während die ersten vier Halswirbel im Röntgenbild normal erschienen, waren die letzten drei Halswirbel und die ersten zwei bis drei Brustwirbel im Bereich der hochgradigen Lordose stark verformt. Der Wirbelkanal war in diesem Bereich auffallend erweitert. Die hinteren Brustwirbel waren normal ausgebildet.

Die Dornfortsätze der Lendenwirbel und die kaudalen Brustwirbel von Tier L wiesen nach dorsal, während die vorderen Brustwirbel nach links gerichtet waren. Die Wirbelkörper waren mit 1,5 – 1,6 cm deutlich kürzer als jene von Tier R mit 1,8 – 2,0 cm. Die Wirbelsäule bog vor dem 3. Brustwirbel um ca. 110° nach rechts und endete auf Höhe der Biegung der rechten Wirbelsäule in einer bindegewebig-knöchernen Masse. Diese war im Röntgenbild ca. 7 x 5 cm groß, inhomogen und wies nicht zu identifizierende, röntgendichte Strukturen auf.

Thorax und Diaphragma (Abb. 2 und 3)

Die rechte Wand des Thorax von Tier R wurde von 13 Rippen gebildet, von denen die vierte bis neunte Rippe zu einer gewinkelten Platte verschmolzen. Die Rippen waren über ein „Brustbein“ mit der linken Brustwand des linken Tieres verbunden. Auf der linken Seite von Tier R waren lediglich neun Rippen ausgebildet, die über ein

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zweites „Brustbein“ mit Rippen der rechten Brustwand des linken Kalbes verbunden waren.

Die Diaphragmen beider Tiere verschmolzen im Centrum tendineum, so dass sich

„ein Zwerchfell“ vom rechten Rippenbogen des rechten Kalbes bis zum linken Rippenbogen des linken Kalbes ausspannte. Die beiden anderen Brustwände begrenzten im Wesentlichen den nicht getrennten, intrathorakalen Teil der Bauchhöhle beider Tiere. Während ein regelgerechter Hiatus aorticus auf beiden Seiten ausgebildet war, fand sich ein Foramen venae cavae nur auf der rechten Seite. Der Oesophagus trat durch eine 10 mal 12 cm große querovale Öffnung, die als kongenitale Hiatushernie angesehen werden konnte. Sie wurde begrenzt von den Ventral- und Seitenschenkeln der rechten Zwerchfellpfeiler beider Tiere sowie dem linken Pfeiler des rechten Tieres.

Schultergliedmaßen

Das Fell der beiden nach kranial weisenden Schultergliedmaßen war bis zum Karpus schwarz, die distalen Gliedmaßenenden einschließlich des Karpus waren weiß.

Radiologisch erkannte man anhand der Weite der Epiphysenfugen und der Ausbildung der sekundären Ossifikationskerne einen unterschiedlichen Reifegrad.

Beide Gliedmaßen wiesen eine Fehlstellung (Auswärtsdrehung) im Bereich der Füße auf. Die im Winkel zwischen Kopf und Tier R gelegene Gliedmaße besaß ein um die Hälfte kleineres Schulterblatt, zudem war der Humerus verkürzt und axial verdreht.

Kaudal der Verbindungsstelle befanden sich auf der rechten Seite zwei weitere, im Fell schwarze Schultergliedmaßen mit weißen Klauen, die mit den Schulterblättern zur Brustwand jeweils eines Tieres Kontakt hatten (Abb. 1). Die Schulterblätter waren an ihren Kranialrändern verwachsen. Die beiden Lateralflächen bildeten einen Winkel von ca. 100°, so dass die Dorsalflächen der Vorderfüße einander zugewandt waren.

Auch diese Gliedmaßen ließen radiologisch einen unterschiedlichen Entwicklungsgrad erkennen (Abb. 4). Sekundäre Ossifikationskerne der linken Gliedmaße von Tier R, z. B. Tuberculum majus (a), Epicondylus medialis humeri (b) und Tuber olecrani (c), waren deutlich größer als die der rechten Gliedmaße von Tier L.

Im Bereich der starken Krümmungen der beiden Wirbelsäulen berührte das Rückenmark des einen Tieres das Rückenmark des anderen. Von jedem

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Rückenmark führte ein Plexus brachialis zu einer zusammengewachsenen Schultergliedmaße.

Brusthöhle und Respirationstrakt

Die rechte Brusthöhle wurde durch das Mediastinum in zwei Brustfellhöhlen unterteilt, von denen die linke in Verbindung mit der nicht unterteilten Brusthöhle des linken Tieres stand.

Eine Trachea (Durchmesser: 1,5 x 2 cm) führte vom Kopf zu zwei vollständig ausgebildeten Lungen. Diese lagen jeweils rechts und links des Herzbeutels und zeigten die für das Rind typische Lappung. Ein zweites, kleineres und kaum gelapptes Lungenpaar lag links kranial im Teilungswinkel der beiden Tierkörper. Eine nur ca. 7 mm starke Trachea begann in der rudimentären Kopf-Halsregion von Tier L.

Hier befanden sich zwei etwa haselnußgroße Strukturen, die histologisch Anlagen von Knorpel, Schlundtaschen (Abb. 5) und Lungengewebe in der tubulären Phase aufwiesen (Abb. 6) und als Kiemenbogenderivate anzusprechen waren.

Kardiovaskuläres System (Abb. 7 und 8)

Für den gesamten Tierkörper war nur ein Herz ausgebildet. Der rechte Ventrikel war vergrößert und erreichte die Herzspitze. Es mündete jeweils nur eine Vena cava cranialis und caudalis in die rechte Vorkammer. Die Vena azygos sinistra und der Sinus coronarius waren mit ca. 1,5 cm Durchmesser annähernd so stark wie die

Für den gesamten Tierkörper war nur ein Herz ausgebildet. Der rechte Ventrikel war vergrößert und erreichte die Herzspitze. Es mündete jeweils nur eine Vena cava cranialis und caudalis in die rechte Vorkammer. Die Vena azygos sinistra und der Sinus coronarius waren mit ca. 1,5 cm Durchmesser annähernd so stark wie die