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4. E VIDENZBASIERTE P RAXIS (EBP)

4.1 Evidenzbasierte Praxis lernen

Da – nicht nur unter Sozialarbeiter_innen – ein gewisser Mangel an Kompetenzen rund um das wissenschaftlich fundierte, evidenzbezogene Arbeiten vorzuliegen scheint, stellt sich die Frage, wie sie vermittelt werden können. Einerseits hielt die EBP massiv Einzug in die soziale Arbeit, was sich an der Gründung des Social Care Instituts für Excellence, oder der Entstehung diverser Zeitschriften ablesen lasse, andererseits gebe es nur spärliche Anzeichen dafür, „dass diese Entwicklung einen signifikanten Einfluss auf die Ausbildung in Sozialer Arbeit“ genommen hat (Howard, Allen-Meares, Ruffolo 2007: 134).

Grundsätzlich stehe es um die (klinische) soziale Arbeit als akademische Disziplin schlecht, was deutlich würde durch die geringe Anzahl an Doktoranden, zu geringe wissenschaftliche Produktivität oder auch eine „alternde Professorenschaft“ (ebd.: 135).

Angesichts dieser (man könnte sagen) Multiproblemlagen sei es ein „bescheidenes erstes Ziel der EBP-Ausbildung in den Hochschulen […] das Bewusstsein der Studierenden für wissenschaftlich nicht gesicherte Praktiken […] zu steigern“ (ebd.: 136).

Neben diesem Ziel formulieren die Autor_innen elf weitere, von denen einige erwähnt sein sollen:

- Methoden der Informationswissenschaften sollten vermittelt werden, „zumindest sollten sich die Studierenden des breiten Angebots an verfügbaren elektronischen bibliographischen Datenbanken bewusst sein (ebd.: 138)

25 - Studierenden höherer Semester sollte eine breit gefächerte Auswahl an systematischen Reviews, Metaanalysen, Praxisleitlinien und Fachzeitschriften näher gebracht, oder zumindest zur Verfügung gestellt werden (ebd.: 138)

- Die Einführung der Methoden des problembasierten Lernens im Gegensatz zu konventionellen didaktischen Ansätzen (Vorlesungen), da „Studierende so mit den Unsicherheiten und Komplexitäten der Praxis konfrontiert werden“ (ebd.: 142).

Außerdem erhalte man so die Kompetenzen, wissenschaftliche Erkenntnisse zu identifizieren und zu bewerten, sie anzuwenden und die erzielten Ergebnisse zu evaluieren. Das problembasierte Lernen ist auf Praxissituationen fokussiert, denen Studierende begegnen werden und daher „kann es ihnen dabei helfen, EBP-Fertigkeiten zu erwerben“ (ebd.: 142).

- Studierende sollen lernen „die wissenschaftlichen Grundlagen und die Stärke der Evidenz zu beschreiben, auf die sich die Empfehlungen stützen, die sie ihren Klientinnen und Klienten in der Praxis geben (ebd.: 142).

- Jede Hochschule solle ein Gremium aus Mitgliedern einrichten, die an EBP interessiert sind. Diese sollten neben den Entwicklungen innerhalb der evidenzbasierten Praxis auch die pädagogischen Entwicklungen in der Vermittlung derselben verfolgen und beforschen.

- Studierende sollten in Hinblick auf ihre Fähigkeiten in Sachen EBP geprüft werden und zwar in Hinblick darauf, ob sie nach Abschluss die Praxis umsetzen können.

Die Autor_innen empfehlen u.a. „kriterienorientierte Prüfungen mit Fallsimulationen“ (ebd.: 143).

- Aus epistemologischer Sicht muss die Vorläufigkeit aller wissenschaftlichen Erkenntnisse betont werden, d.h. dass es „keine evidenzbasierten Interventionen an sich gibt, sondern lediglich Vorgehensweisen, die sich in Art und Grad der gegenwärtig verfügbaren wissenschaftlichen Untermauerung unterscheiden (ebd.: 143).

Das Council on Social Work Education (CSWE) betont, Studierende zur „research-informed practice“ als auch „practice-„research-informed research“ zu motivieren (Chonody, Teater 2018: 1237). Unter anderem werden folgende Kernkompetenzen, die es zu fördern gelte, angeführt: das kritische Denken gegenüber qualitativen und quantitativen Methoden und Studien, oder auch die Nutzbarmachung praktischer Erfahrungen für wissenschaftliche Untersuchungen. Bis dato scheint es allerdings unklar zu sein, wie EBP tatsächlich (an den rund 770 Einrichtungen in den USA) unterrichtet oder vermittelt werde, da unterschiedliche Definitionen dieser Praxis zu unterschiedlichen Auslegungen führen (vgl.

26 ebd.: 1237). Die Frage nach einer evidenzorientierten Praxis (klinischer) sozialer Arbeit in Österreich bietet bis dato kontrastreiche Antworten. Eine reflektierte Orientierung an Theorie und Methodik im Sinne wissenschaftlich fundierter Praxis ist allerdings bereits state of the art. Inwieweit mit den oben genannten Zielen evidenzbasierte Praxis in sozialer Überbetont wird oder sinnvolle Schritte darstellen könnten, bleibt offen, da die Debatten um das Für und Wider der EBP wahrscheinlich noch lange nicht abgeschlossen sind.

Profitieren könnte diese Debatte von einer ähnlichen Diskussion, wie sie aktuell in Deutschland im psychotherapeutischen Bereich geführt wird. Im Zuge der Psychotherapiereform gebe es Bestrebungen, „Psychotherapieverfahren durch einen sogenannten evidenzbasierten Pluralismus im zukünftigen Psychotherapiestudium zu ersetzen“ (Benecke 2019: 348). Die deutsche Gesellschaft für Psychologie argumentiert, dass die Verankerung an traditionellen Verfahren durch einen evidenzbasierten Pluralismus ersetzt werden sollen. Benecke kritisiert daran die implizite Behauptung, dass die bis dato wissenschaftlich anerkannte Verfahren weder evidenzbasiert noch zukunftsorientiert seien (ebd.: 348). Psychotherapieverfahren liegen umfassende Theoriesysteme der Krankheitsentstehung zugrunde, so Benecke, wovon sich Behandlungsstrategien ableiten lassen. Jene Theoriesysteme gelten laut dem Wissenschaftlichen Beirat Psychologie als evidenzbasiert, wiederum aber sei das „neue Konstrukt eines evidenzbasierten Pluralismus bisher nirgends definiert“, ebenso wenig liege für eine derart konzipierte Psychotherapie empirische Evidenz vor (ebd.: 348). Es verhält sich in der sozialen Arbeit sehr ähnlich. Es gibt Theorien, Methoden, Interventionsformen und diagnostische Instrumente, die wissenschaftlich fundiert sind und sich bewährt haben. Die Frage, die sich hier stellt, ist jene: Bedeutet EBP eine ausschließliche Orientierung an Studien, wie es im genannten Artikel suggeriert wird, dann verlieren die Theorien massiv an Stellenwert. Benecke betont die Wichtigkeit, auf Basis einer umfassenden Theorie zu behandeln, also auch durch die Ausbildung eine umfassende Behandlungskompetenz zu erlangen, um dann auch „eventuell auftauchende Komplikationen im Behandlungsverlauf in ihrer Komplexität zu verstehen und darauf wiederum basierend auf einem Gesamtverständnis angemessen zu reagieren“ (ebd.: 348). Implizit heißt das, dass eine rein evidenzorientierte Ausbildung und Praxis das nicht gewährleisten kann. Für die (klinische) soziale Arbeit gilt im Grunde dasselbe: Um mit Multiproblemlagen, komplexen Fallverläufen, Widerständen etc.

umgehen zu können, reicht es wahrscheinlich nicht, die jeweils (aktuellste) Studie zu recherchieren, um dann gebotenes anzuwenden. Wie schon angemerkt, ist eine evidenzbasierte Praxis in vielen Disziplinen sinnvoll, jedoch gibt es im Bereich soziale

27 Arbeit (ähnlich wie in der Psychotherapie) Problemlagen, die sich nicht so leicht durch randomisierte Studien untersuchen lassen und es gibt einen anderen Anspruch, den der Beziehungsarbeit. EBP schließt diese natürlich nicht aus, es besteht allerdings, wie schon erläutert, die Gefahr, zugunsten eines Zieles auf Basis der sogenannten besten Evidenz diverse Bedürfnisse zu übersehen.

Als Fazit und Kompromiss lässt sich sagen, dass es wichtig ist, in erster Linie Kernkompetenzen wie kritisches und reflektiertes Denken zu vermitteln und in Folge diverse Kompetenzen im Umgang mit qualitativen und quantitativen Studien. Letzteres dient dazu, Absolvent_innen zu befähigen, selbst zu forschen und andere Studien kritisch lesen zu können. Wäre (klinische) soziale Arbeit ‚besser‘, wenn evidenzbasiert gearbeitet würde? Gibt es hierzu Evidenzen? Es wird wohl darauf ankommen, wie EBP in die (klinische) soziale Arbeit eingebunden wird. Das eine evidenzbasierte- oder orientierte Praxis Sinn macht, sollte durch vorhergehende Diskussion klar geworden sein.

Bei Pauls und Gahleitner ist die evidenzbasierte Praxis ganz klar in der Fachsozialarbeit zu verorten, also bei den Masterabschlüssen. Die sogenannte grundständige soziale Arbeit (Diplom- oder Bachelorabschluss) umfasst Basiskompetenzen, während das zweite Level, die Fachsozialarbeit einen Masterabschluss (klinische soziale Arbeit) und Berufserfahrung meint und u.a. folgende Befähigungen fordert (vgl. Pauls, Gahleitner 2008: 6f): Eine evidenzbasierte Praxis, die präzise Fragen stellen kann und in externen Forschungsergebnissen und Fachliteratur nach Antworten sucht. Diese Ergebnisse können kritisch eingeschätzt werden. Die Einschätzung des individuellen Falls und die

„Formulierung eines Interventionsplans“ erfolgt entlang der spezifischen Situation, der Fachkenntnisse sowie der „best evidence“ (vgl. ebd.: 7). Eine abschließende Evaluation soll die Wirkung der Intervention überprüfen.

Die Unterscheidung in zwei Levels wird für die Auswertung relevant werden und im empirischen Teil wird darauf noch einmal Bezug genommen. Als nächstes wird nun das Forschungsdesign, also Erhebungs- und Auswertungsmethoden, vorgestellt, sowie die Auswertungen und Analysen selbst, woraufhin dann die Ergebnisdiskussion folgt.

Anschließend wird das Forschungsdesign kritisch beurteilt und es werden weitere Möglichkeiten für künftige Forschung mit diesem Design diskutiert.

Im zweiten empirischen Teil wurden vier Expert_inneninterviews geführt.

Sozialarbeiter_innen beider Levels wurden zur evidenzbasierten Praxis in der (klinischen) sozialen Arbeit befragt. Die Ergebnisse werden auch in Hinblick auf die statistische Auswertung diskutiert werden.

28 5. Empirischer Teil

Die Erhebung und Auswertung setzt sich aus drei Teilen zusammen: Zunächst sind es die auf die Fallvignette bezogenen Interviews, die anhand der sogenannten „acht epistemischen Aktivitäten“ ausgewertet werden. Das Material wird in Sequenzen aufgeteilt und anhand eines vorab theoretisch entwickelten Schemas („Kodier-Apparat“) gelesen, dessen Kategorien also vorab festgelegte Sinnbezugsgrößen darstellen (vgl.

Kruse 2015: 382). Die so qualitativ erhobenen Daten werden dann in die quantitative Auswertung transferiert und mit SPSS analysiert. Bachelorabsolvent_innen werden mit Masterabsolvent_innen in Hinblick auf die epistemischen Aktivitäten verglichen.

Zusätzlich wurde der Gruppenvergleich auch ohne Quereinsteiger_innen gemacht.

Anhand einer Varianzanalyse (MANOVA) wurde geprüft, ob das Alter und die Praxiserfahrung einen wesentlichen Einfluss bei den zwei zentralen Gruppen (BA und MA) haben. Eine Clusteranalyse diente dazu, die Verteilung der Fälle zu analysieren und zwar in Hinblick auf die epistemischen Aktivitäten: Wie verteilen sich Bachelor- und Masterabsolvent_innen und zwar auch in Hinblick auf die Handlungsfelder.

Anschließend liegen vier Expert_inneninterviews vor, die sich auf die Einstellung zur evidenzbasierten Praxis in sozialer Arbeit beziehen. Vier Personen wurden befragt, ob ihnen der Begriff der evidenzbasierten Praxis etwas sagt, sowie ihre Einstellung dazu in der sozialen Arbeit. Es wurden Kategorien aus dem Material heraus entwickelt. Ob man nun von Kategorien oder von Codes spricht, lässt sich nicht auf ein bestimmtes Verfahren beziehen, denn die Verwendung der Begriffe zeige keine Konsistenz in der Sprachpraxis qualitativer Forschung (vgl. Kruse 2015: 383). Mit Codieren oder Kategorisieren ist die

„komplexe Zuordnung von zentralen Begriffen zu Textabschnitten gemeint, anhand derer die Lesart des Texts expliziert wird“ (vgl. Kruse 2015: 379). Diese Sinneinheiten können abstrahierte Begriffe sein oder in der Sprache des Textes selbst bleiben („in-vivo-code“), d.h. dass Textabschnitte in Hinblick auf ‚ihren Sinn‘ interpretiert, aber auch reduziert werden (vgl. Kruse 2015: 380). Hier wird der Begriff der Kategorie verwendet, die sich aus einzelnen Sequenzen ergibt und aus Subthemen zusammensetzt.

29 5.1 Die Stichprobe

Die Stichprobe setzt sich aus Absolvent_innen Masterstudiengangs klinische soziale Arbeit (mit Bachelor soziale Arbeit oder andere) und Absolvent_innen des Bachelorstudiengangs Soziale Arbeit zusammen. Alle Teilnehmer_innen haben in Österreich studiert und sind ebenda berufstätig. Mithilfe diverser Emailverteiler (z.B.

Berufsverbände, FH Campus Wien Departement Soziales) und einschlägiger Gruppen im Internet (z.B. Gruppen zur Sozialen Arbeit auf Facebook) wurden Proband_innen für die Erhebung gesucht. Geplant waren mindestens 40 Teilnehmer_innen, davon mindestens 20 mit einem Bachelor in sozialer Arbeit und 20 in klinischer sozialer Arbeit.

Schlussendlich wurden es 46 Teilnehmer_innen, die zwei zentralen Gruppen sind ausgeglichen. Einige der Teilnehmer_innen mit Masterabschluss sind sogenannte Quereinsteiger_innen, haben also einen Bachelor in Bildungswissenschaften, Psychologie oder Internationale Entwicklung. Im Kapitel zu den deskriptiven Ergebnissen wird die Stichprobe ausführlicher dargestellt.

5.2 Fallvignette und Abstract

Die Vignette (siehe Anhang) wurde für diese Arbeit von Christian Ghanem freundlicherweise zur Verfügung gestellt. Sie wird nun wiedergegeben:

Sie handelt von einem jungen Erwachsenen, der aufgrund von Raub und Cannabiskonsum verurteilt wurde und nun eine Strafaussetzung hat. Er darf keine illegalen Substanzen konsumieren, das ist die einzige Auflage seitens des Gerichts. Die simulierte Situation ist ein Erstgespräch, zu dem er pünktlich erscheint. Er gibt sich sehr offen. Er erzählt auf Nachfrage, dass er bereits zweimal wegen einer kleinen Menge Cannabis zu Geldstrafen verurteilt wurde. Er konsumiere jetzt außer Kratom nichts mehr.

Diese Informationen sind Teil des ersten Interviewabschnitts. Im zweiten Abschnitt kommt das Abstract (siehe Anhang) zu besagter Substanz Kratom dazu. In der Vignette wird eine Internetrecherche simuliert, durch die Teilnehmenden auf einen Artikel der kriminologischen Abteilung des Max-Planck-Insituts stoßen. Die Substanz Kratom wird darin thematisiert. Sie wird als relativ neu bezeichnet und es wird darauf hingewiesen, dass sie inzwischen legal über das Internet erhältlich ist. Der Artikel betont eine starke Gefährlichkeit dieser Substanz.

Das Abstract selbst ist in englischer Sprache verfasst und nimmt etwa eine halbe DIN A 4 Seite ein. Der Artikel trägt den Titel „Opioid receptors and legal highs: Salvia divinorum and Kratom“ und ist in Clinical Toxology (2008/2) erschienen. Er richtet sich vor allem an

30 Toxikolog_innen und Fachpersonal für Vergiftungseinrichtungen. Das Abstract bezieht sich also auf einen realen Artikel.

Auch das Abstract soll an dieser Stelle gekürzt wiedergegeben werden, um einen Eindruck davon zu bekommen. Kratom setzt sich zusammen aus Salvia divinorum und Mitragyna speciosa. Es wird beschrieben als ein aktivierendes Opioid (opioid receptor agonists) mit psychoaktiver Wirkung. Visuelle Halluzinationen und Synästhesien können aufgrund des hochselektiven kappa-opioid Rezeptoragonisten Salvinorin A hervorgerufen werden. Der Bestandteil des Mitragyn wiederum sei in seiner Wirkung stärker als Morphin. Es werden einige weitere spezifische, neurologische Informationen angeführt, die erklären sollen, warum Kratom auch bei Entzugserscheinungen konsumiert werde.

Die Verbreitung durch das Internet wird erwähnt, sowie eine alarmierende Entwicklung, die mit dem sogenannten legal high Kratom einhergehe.

Im zweiten Abschnitt also geht es also um das zweite Gespräch mit besagtem Klienten.

Wie im ersten Teil, sollen die Teilnehmenden spontan alles äußern, was ihnen durch den Kopf geht. Wie gehen sie mit den komplexen Informationen um? Der genaue Ablauf des Interviews wird im folgenden Kapitel erläutert.

5.3 Simulierte Praxis: Leitfadeninterviews

Die Interviews fanden alle im Großraum Wien statt. Zu Beginn des Interviews wurden die Befragten nochmals über das Projekt aufgeklärt und wie der Ablauf des Interviews sein wird. Ihnen wurde also auch vorab mitgeteilt, dass sie anhand einer Fallvignette eine Fallarbeit simulieren werden und das eine fallrelevante Zusatzinformation zu lesen sein wird. Es wurde der Verlauf und die etwaige Dauer erläutert und außerdem wurden die Teilnehmer_innen darüber aufgeklärt, was mit den Daten passiert, also die Aufzeichnung der Interviews anhand eines Diktiergeräts, die anschließende Transkription und Interpretation. Außerdem wurde auf den vertrauensvollen Umgang mit den Daten und deren Anonymisierung hingewiesen.

Es handelt sich um Leitfadeninterviews mit offenen Fragestellungen. Der Ablauf der Interviews wurde von Ghanem et al übernommen und gliedert sich wie folgt (vgl. Ghanem et al. 2018: 8): Zunächst wird der erste Abschnitt der Vignette vorgelegt, die Teilnehmer_innen werden dazu angehalten, erste Assoziationen spontan zu äußern. Sie wurden darauf hingewiesen, dass es weder richtige noch falsche Aussagen gibt, sondern jede Idee und Frage, jeder Einfall und Gedanke relevant sein können. Entstehen Pausen

31 in diesem Prozess, werden - auch um das „laute Denken“ besser zu strukturieren - diese Folgefragen gestellt:

- An was denken Sie?

- Was geht Ihnen im Kopf rum?

- Er fragt sie nach Ihrer Fachmeinung bzgl. Konsum. An was denken Sie?

- Wie reagieren Sie?

Daraufhin werden die Teilnehmer_innen mit weiteren Informationen konfrontiert, nämlich mit besagtem Abstract, also einer Zusammenfassung einer Studie zu der Substanz Kratom. Die Idee dahinter ist, Eindrücke davon zu erhalten, wie die Teilnehmer_innen mit diesem zusätzlichen Wissen umgehen werden, also jene zusätzlichen, eventuell unverständlichen Informationen in ihren Problemlösungsprozess einbetten. Ein zweiter Termin mit dem Klienten wird simuliert, der nach der Recherche stattfindet. Auch im zweiten Abschnitt gibt es Folgefragen, um das laute Denken zu unterstützen und zwar

- Was denken Sie? Was geht Ihnen im Kopf rum?

- Wie besprechen Sie das Konsumthema beim nächsten Treffen?

- Welche Interventionen wären angemessen?“

Beendet wurden die Interviews durch nochmaliges Nachfragen, ob noch Etwas zu erwähnen ist.

5.3.1 Transkription

Die Befragungen werden aufgezeichnet und dann in geglätteter Form transkribiert. Die Narrative wurden in Abschnitte aufgeteilt und dann mittels Kategoriensystem codiert. Als Hauptregel für die Segmentierung in Abschnitte gilt, dass jeder Punkt ein Segment abschließt, wie es auch Ghanem et al von Chi (1997) übernommen haben (vgl. Ghanem et al 2018: 8). Außerdem wurde die Syntax als Instrument zur weiteren Unterteilung bestimmt, d.h. dass Kommata und Konjunktionen Segmente abgrenzen (vgl. ebd.: 8). Die Autor_innen führen Chinn, Buckland und Samarapungavan (2011) an, um diese Methodik als geeignet zu unterstreichen, innere kognitive Prozesse einzufangen (vgl.

ebd.: 8). Mithilfe dieser Analyse der Narrative können verschiedene Informationen in den Sätzen isoliert und ausgewertet werden.

Die Transkriptionsregeln finden sich im Anhang. Die Regeln orientieren sich am GAT2 Minimal- und Basistranskript, wie sie bei Kruse dargestellt werden (vgl. Kruse 2015: 353).

Wenn aus den Interviews zur Fallvignette zitiert wird, wird es mit I (für Interview) und der Fallnummer dargestellt (z.B. I3). Die Interviews, die zur evidenzbasierten Praxis geführt

32 wurden, werden mit iebp (für Interview evidenzbasierte Praxis) und Fallnummer dargestellt (z.B. iebp2).

5.4 Epistemische Aktivitäten als Kategorienschema

Im Falle der Auswertung der auf die Fallvignette bezogenen Interviews wurde das Kategorienschema nach Fischer et al. herangezogen. Die Kategorien der qualitativen Auswertung, also die sogenannten acht epistemischen Aktivitäten wie sie Fischer et al zusammengefasst haben, werden nun nochmals erläutert, allerdings kontextbezogen.

Anhand von sogenannten Ankerbeispielen, also Zitaten aus den Interviews, soll verdeutlicht werden, welche Aussagen zu welchen Kategorien gezählt wurden. Das Kategorienschema wurde deduktiv entwickelt, d.h. theoriegeleitet und nicht anhand des Materials. Problematisch war manchmal die klare Abgrenzung der Kategorien voneinander. Um die interne Validität, also die „Varianz von Lesarten zu erhöhen“ (Kruse 2015: 57) zu gewährleisten, wurden zwei fachfremde Personen für die Auswertung hinzugezogen. Sie werteten das Material ebenfalls aus und es wurde zum Teil des Prozesses, klare Zuordnungsregeln zu finden. Die Ergebnisse waren sehr ähnlich, andernfalls hätte das Kategorienschema einer Überarbeitung bedurft.

Im Folgenden werden die Kategorien nochmals mittels Ankerbeispielen dargestellt (vgl.

Fischer et al. 2014):

1) Problem identification, Problemidentifikation: Hier geht es um Orientierung, welche Problemlagen liegen vor? Es kann sich um Fragen handeln wie „Wie ist sein soziales Umfeld? Gibt es important others?“ (I3) wenn ein Problem im sozialen Umfeld vermutet wird. In welche Richtungen weisen nun die gestellten Fragen und auf was beziehen sich die Teilnehmer_innen, auf ihre etwaigen Erfahrungen im Suchtbereich, oder im weiteren Verlauf auf die Studie zur Substanz Kratom? Wird vermutet, dass es sich beim Konsumverhalten um ein Problem handelt, könnte eine hier vertiefende Frage lauten: „Ist sein Konsumverhalten als eine Copingstrategie zu sehen?“ (I3).

Welche Aspekte wollen als Problem eingekreist werden? Die Substanz? „Ich kenne Kratom nicht und würde gerne wissen, was das ist und wie es wirkt, wieviel es kostet“

(I13)

2) Questioning, systematisches Fragen: Beispielsweise könnte das Konsumverhalten als Problem identifiziert (Punkt 1) werden und sämtliche Fragen, die es als solches versuchen einzukreisen, gehören zum systematischen (Nach)Fragen. Auch

33 Aussagen bezüglich einer adäquaten Intervention, wenn von einem Rückfall ausgegangen wird, können hier auftauchen, „welche Intervention wäre sinnvoll“. „Ich frage mich, ob der junge Mann körperliche Beschwerden, bzw. Schmerzen hat und die Substanz deswegen konsumiert“ (I3).

3) Hypothesis generation, Hypothesen generieren: Ein_e Teilnehmer_in könnte beispielsweise Überlegungen anstellen, ob es sich beim Klienten um einen Rückfall handelt. Man könnte auf körperliche Symptome achten und Gedanken äußern wie

„Wenn er glasige Augen hätte, dann…“. Aufgrund spezifischer körperlicher Reaktionen könnte man zur Hypothese gelangen, dass die Suchtproblematik weiterhin virulent ist „and that professional support would decrease the likelihood of recurrent incarceration“ (Ghanem et al 2018 : 5). In Bezug auf das Abstract und die Substanz könnte eine Hypothese lauten „Die Gefährlichkeit kann ich nur bedingt rauslesen, es soll stärker sein als Morphium [.] Das dürfte ein hohes Abhängigkeitspotential erzeugen“ (I3), oder: “Und wenn Kratom da sitzt, dann wirken Opioide nicht mehr“ (I2). Im Kontext eines potentiellen Konsumverhaltens wird die Substanz in ihrer Wirkung versucht, einzuschätzen. „Kratom könnt ja, so wie CBD, was sein, was ihm hilft, clean zu bleiben [.] aber geht´s nur damit, also is das ne neue Sucht?“ (I4). Es stehen hier also Thesen im Raum, die in weiteren Schritten geprüft und hinterfragt werden.

4) „Construction and redesign of artefacts“, Hier kann man an die interventionelle Anwendung von z.B. Skalen („decisional balance sheets“), oder Tagebüchern denken. Also diverse Skalen als Mittel zur Intervention und zur Gewinnung weiterer Informationen, die sich rasch und fallgerecht konstruieren lassen, um Befinden,

4) „Construction and redesign of artefacts“, Hier kann man an die interventionelle Anwendung von z.B. Skalen („decisional balance sheets“), oder Tagebüchern denken. Also diverse Skalen als Mittel zur Intervention und zur Gewinnung weiterer Informationen, die sich rasch und fallgerecht konstruieren lassen, um Befinden,