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7. I NTERVIEWS ZUR EVIDENZBASIERTEN P RAXIS

7.1 Auswertung und Diskussion

In den Interviews sprachen sich zwei Personen für evidenzbasierte Praxis aus und zwei sehr explizit dagegen. Hier die Ergebnisse im Überblick. Es wurden drei Kategorien

71 gebildet und die jeweiligen Themen zusammengefasst. Sie werden anschließend diskutiert:

1) Begriffsverständnis

- Wie evidenzbasierte Medizin

- Nachgewiesene Interventionen und Maßnahmen

- Aus Vorwissen und Theorie Interventionsformen ableiten

- „Ausübung einer Profession unter Beachtung des aktuellen Forschungsstandes, der sich an üblichen wissenschaftlichen Kriterien orientiert“

- Nachgewiesene Wirkung

2) Kritik an EBP

- Berufserfahrung wichtiger als Wissen aus Forschung - Verfehlt Individualität

- Soziale Arbeit und EBP nicht vereinbar, Gegensätze - Fundierte Maßnahmen nicht immer praktikabel - Standardisierung vs. Individualität

- „Expertokratie“

- Ökonomisches Diktat vs. Beziehungsprofession - Verfehlt Multiproblemlagen

- Fokus auf quantitative Studien - Empirische Maßstäbe fragwürdig

- Fehlende Orientierung an qualitativen Studien oder Falldarstellungen - Interdisziplinarität statt „einer muss alles wissen/können“

3) positive Aspekte der EBP

- Wissenschaftliche Fundierung für Praxis - Klient_innen keine Versuchskaninchen

- Vorwissen und Theorie wird reflektiert eingesetzt - Hilfreich in Beurteilung von Phänomenen

72 Die einzelnen Themen und ihre Aspekte werden nun ausführlicher vorgestellt. Auszüge aus den Interviews werden beispielhaft angeführt und sollen die Themenanalyse nachvollziehbar machen.

1) Begriffsverständnis

Die wesentlichen Charakteristika der evidenzbasierten Medizin wurden in den Interviews genannt, es fehlten jedoch der Aspekt der Evaluation, sowie der der Adressat_innenperspektive. Ein sozusagen sehr technisches Verständnis zur EBP lag hier vor. Die Idee außerdem, dass man im Sinne der EBP aus Vorwissen und Theorien Interventionsformen ableiten solle, stimmt nicht gänzlich. Diese Aussage (Propand_in mit BA und MA (klinische) soziale Arbeit) war als Vermutung formuliert: „Damit habe ich mich bisher noch nich auseinandergesetzt“ (iepb3). Die anderen Teilnehmer_innen waren mit dem Begriff und der Thematik vertrauter. Im Grunde werden Interventionen nicht aus Vorwissen und Theorien abgeleitet, zumindest nicht explizit. Ableitungen verlaufen vor allem oder lediglich entlang aktueller Studien. EBP im Sinne eines kritischen Denkens wiederum lässt Raum offen für z.B. Theorien als Referenzrahmen für Entscheidungen im Fallverlauf. Zentral wäre dann, dass Überlegungen und Entscheidungen reflektiert werden, ebenso allerdings auch die Theorien und im weitesten Sinne Forschungsergebnisse. EBP als kritische Praxis schien den Teilnehmer_innen unbekannt. Der Fokus lag wesentlich auf dem Aspekt der nachgewiesenen Wirkung, Interventionen und Maßnahmen. Kurzes Fazit: Man bezieht sich in dieser Praxis auf Dinge, die nachgewiesen sind und sich bewährt haben.

Eine Studie aus China befasste sich mit der Frage nach dem Begriffsverständnis, in dem Studien aus den Jahren 2004-2016, sowie diverse Datenbanken nach evidenzbasierter Praxis in der sozialen Arbeit durchsucht wurden. Sie fanden heraus, dass EBP in China zwar sehr präzise als Prozess definiert ist, das Verständnis aber nicht über Basisdefinitionen hinausgeht. Sprachliche Barrieren und kulturelle Unterschiede werden als Gründe angeführt, weshalb die Übersetzung und Integration der evidenzbasierten Praxis in die soziale Arbeit (in China) problematisch sei (Zhang et al. 2018: 3). Das aus den USA stammende Konzept lasse sich nicht direkt auf die Praxis sozialer Arbeit in China übertragen, weshalb sich die Autor_innen für eine breite Diskussion aussprechen oder auch die Etablierung einer „practitioner to researcher pipeline“ (ebd.: 8). Im Zuge der Professionalisierung gibt es dieselben Ansprüche im deutschsprachigen Raum. Auch hier wird die Diskussion um EBP in der sozialen Arbeit geführt, im Speziellen auch über das Verständnis dieser Praxis und wie sie für soziale Arbeit definiert werden kann. Die

73 Ergebnisse der Interviews zeigten, das EBP relativ unterschiedlich wahrgenommen wird.

Gibt es zu wenig Auseinandersetzung mit diesem Thema an den (Fach-)Hochschulen?

2) Kritik an EBP

In jedem Interview gab es Aussagen, die sich auf die Nachteile der evidenzbasierten Praxis beziehen, oder sich per se gegen sie aussprechen. Wie im theoretischen Teil erläutert, gibt es im Diskurs um die EBP Anstrengungen, sie für die soziale Arbeit fruchtbar und nutzbar zu machen. Zwei Teilnehmer_innen sprachen sich explizit gegen evidenzbasierte Praxis in der sozialen Arbeit aus, ein_e Teilnehmer_in sah soziale Arbeit und EBP als klare Gegensätze (iepb1). Erfahrung sei wichtiger, als Kenntnisse zu aktuellsten Studien. „wenn du einen Psychiater hast, der die neusten Studien gelesen oder verstanden hat, heißt das noch nicht, dass er einschätzen kann, ob das Medikament aus der Studie das richtige für den ist, der da jetzt sitzt“ (iepb1). Neben der Erfahrung als wichtiger Teil einer beruflichen Praxis war hier auch die Individualität im Gegensatz zu standardisierten Verfahren implizit angesprochen. Ein weiteres Argument bezog sich auf die Interdisziplinarität, also das Informationen zu relevanten Studien nicht selbst recherchiert werden müssten, sondern im Austausch mit entsprechenden Kolleg_innen zustande kommen. „Dass das einfach verschiedene Sache sind, wo man gut voneinander lernen kann, was aber nicht einer Person verbunden sein muss. Wo´s gut is, wenn´s einen gibt, der die Studien kennt und ein anderer, der viel Erfahrung hat und die können miteinander reden. Es muss nicht jeder alles wissen“ (iepb1). Das ist ein Aspekt, der in der Literatur nicht aufgetaucht ist. Im Sinne einer (klinischen) sozialen Arbeit als explizit interdisziplinäre Profession, wäre dies ein Punkt, der Einzug in die aktuellen Debatten um EBP finden könnte.

Besonders stark spiegelten sich Bedenken wider, dass die Beziehungsarbeit in der EBP zu wenig berücksichtigt wird. Im theoretischen Teil wurde verdeutlicht, dass einige Vertreter_innen der (klinischen) sozialen Arbeit ebendiese als sozialtherapeutische Beziehungsarbeit verstehen, während EBP als zu stark ergebnisorientiert verstanden wird. In einem Interview drückten sich die Bedenken folgendermaßen aus: „[…] dass es in der Praxis Sozialer Arbeit wichtig bleibt, die Individualität der Menschen mit denen gearbeitet wird, immer zu berücksichtigen“ (iebp 3). EBP wird hier ganz klar als Verfahren verstanden, dass sozusagen am Einzelfall vorbeiarbeitet. Im selben Interview wurde das noch deutlicher: „also das soll heißen keine Standardisierungen vorzunehmen, die eine Expertokratie ohne Einbeziehung der Betroffenen nach sich ziehen können“ (iepb3).

74 Evidenzbasierte Praxis wurde in dem selben Interview als etwas kapitalistisch-neoliberales verstanden: „Ansonsten wird eine professionelle soziale Arbeit im Sinne einer Beziehungsprofession, also nach Gahleitner, einem ökonomischen Diktat unterworfen […] Menschen unter Einsatz von standardisierten Verfahren möglichst schnell zu möglichst produktiven Mitgliedern zu machen“ (iebp3). Diese Äußerungen decken sich sehr gut mit den mehr oder weniger aktuellen Debatten um EBP („Nutzen-Kalkül“) in der sozialen Arbeit. Dasselbe gilt für die Kritiken an den empirischen Maßstäben, die ebenfalls in den Interviews auftauchten. Sie stammen von jenen Teilnehmer_innen mit Bachelor in Psychologie und Master in klinischer sozialen Arbeit.

Die Orientierung allein an quantitativen Studien wurde kritisiert und andersherum ein Mangel an Alternativen. Im Interview wurde dies so begründet: „So sind beispielsweise quantitative Studien in vielen Bereichen sinnvoll, in manchen allerdings [.] zum Beispiel in Humanwissenschaften, scheinen sie mir dem Gegenstand oftmals nicht gerecht zu werden“ (iebp4). Die Frage, an was sich EBP orientieren kann, ist wesentlicher Bestandteil in den Debatten, dies wurde im theoretischen Teil verdeutlicht. Ähnlich wie es Schmidt (2006) formulierte können andere Quellen ebenso relevant für eine evidenzbasierte Praxis sein, oder wie er es formulierte, unterschiedliche Grade von Evidence als Orientierungspunkte dienen (vgl. Schmidt 2006: 101). In einem Interview wurden als Alternativen qualitative Studien, Falldarstellungen oder klinische Erfahrung implizit vorgeschlagen (iepb4). Ein anderes Argument bezweifelte, dass wissenschaftliche Fundierung automatisch eine gelingende Praxis mit sich bringt:

„Dennoch denk ich, dass nich alles wissenschaftlich belegt sein muss. Vor allem wenn fundierte Maßnahmen nicht greifen, sollte man flexibel sein“ (iebp2).

3) positive Aspekte der EBP

Die Teilnehmer_innen mit BA Psychologie und MA klinische soziale Arbeit betonten, trotz aller Kritik an der EBP auch ihre Relevanz für eine professionelle Arbeit. Als Vorteil evidenzbasierter Praxis wurde z.B. implizit eine Rücksichtnahme auf Klient_innen genannt. Nachgewiesene und fundierte Maßnahmen beziehen auch Kenntnisse zu etwaigen negativen Effekten mit ein: „da man sonst ja auch nicht wirklich über eventuelle negative Effekte Bescheid weiß und Probanden, also Klienten so zu

<Anführungszeichen> Versuchskaninchen werden können“ (iebp2). Jene_r Teilnehmer_in, der_die sich sehr stark gegen die EBP aussprach („Expertokratie“ etc.) betonte durchaus die Wichtigkeit einer reflektierten Praxis: „Ich finde es schon wichtig, Vorwissen und theoretisches Wissen in den Unterstützungsprozess einzubeziehen [.] und

75 reflektiert einzusetzen“ (iebp3). Evidenzbasierte Praxis kann hierfür eine Orientierung, im Sinne eines strukturierten Prozesses, darstellen. Die Frage danach, an was sich orientiert wird, ist in der sozialen Arbeit noch offen. Qualitative Studien, Falldarstellungen etc.

können Teil einer EBP sein und genau das Thema wird aktuell, oder nach wie vor, verhandelt.