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5. E MPIRISCHER T EIL

5.4 Epistemische Aktivitäten als Kategorienschema

Im Falle der Auswertung der auf die Fallvignette bezogenen Interviews wurde das Kategorienschema nach Fischer et al. herangezogen. Die Kategorien der qualitativen Auswertung, also die sogenannten acht epistemischen Aktivitäten wie sie Fischer et al zusammengefasst haben, werden nun nochmals erläutert, allerdings kontextbezogen.

Anhand von sogenannten Ankerbeispielen, also Zitaten aus den Interviews, soll verdeutlicht werden, welche Aussagen zu welchen Kategorien gezählt wurden. Das Kategorienschema wurde deduktiv entwickelt, d.h. theoriegeleitet und nicht anhand des Materials. Problematisch war manchmal die klare Abgrenzung der Kategorien voneinander. Um die interne Validität, also die „Varianz von Lesarten zu erhöhen“ (Kruse 2015: 57) zu gewährleisten, wurden zwei fachfremde Personen für die Auswertung hinzugezogen. Sie werteten das Material ebenfalls aus und es wurde zum Teil des Prozesses, klare Zuordnungsregeln zu finden. Die Ergebnisse waren sehr ähnlich, andernfalls hätte das Kategorienschema einer Überarbeitung bedurft.

Im Folgenden werden die Kategorien nochmals mittels Ankerbeispielen dargestellt (vgl.

Fischer et al. 2014):

1) Problem identification, Problemidentifikation: Hier geht es um Orientierung, welche Problemlagen liegen vor? Es kann sich um Fragen handeln wie „Wie ist sein soziales Umfeld? Gibt es important others?“ (I3) wenn ein Problem im sozialen Umfeld vermutet wird. In welche Richtungen weisen nun die gestellten Fragen und auf was beziehen sich die Teilnehmer_innen, auf ihre etwaigen Erfahrungen im Suchtbereich, oder im weiteren Verlauf auf die Studie zur Substanz Kratom? Wird vermutet, dass es sich beim Konsumverhalten um ein Problem handelt, könnte eine hier vertiefende Frage lauten: „Ist sein Konsumverhalten als eine Copingstrategie zu sehen?“ (I3).

Welche Aspekte wollen als Problem eingekreist werden? Die Substanz? „Ich kenne Kratom nicht und würde gerne wissen, was das ist und wie es wirkt, wieviel es kostet“

(I13)

2) Questioning, systematisches Fragen: Beispielsweise könnte das Konsumverhalten als Problem identifiziert (Punkt 1) werden und sämtliche Fragen, die es als solches versuchen einzukreisen, gehören zum systematischen (Nach)Fragen. Auch

33 Aussagen bezüglich einer adäquaten Intervention, wenn von einem Rückfall ausgegangen wird, können hier auftauchen, „welche Intervention wäre sinnvoll“. „Ich frage mich, ob der junge Mann körperliche Beschwerden, bzw. Schmerzen hat und die Substanz deswegen konsumiert“ (I3).

3) Hypothesis generation, Hypothesen generieren: Ein_e Teilnehmer_in könnte beispielsweise Überlegungen anstellen, ob es sich beim Klienten um einen Rückfall handelt. Man könnte auf körperliche Symptome achten und Gedanken äußern wie

„Wenn er glasige Augen hätte, dann…“. Aufgrund spezifischer körperlicher Reaktionen könnte man zur Hypothese gelangen, dass die Suchtproblematik weiterhin virulent ist „and that professional support would decrease the likelihood of recurrent incarceration“ (Ghanem et al 2018 : 5). In Bezug auf das Abstract und die Substanz könnte eine Hypothese lauten „Die Gefährlichkeit kann ich nur bedingt rauslesen, es soll stärker sein als Morphium [.] Das dürfte ein hohes Abhängigkeitspotential erzeugen“ (I3), oder: “Und wenn Kratom da sitzt, dann wirken Opioide nicht mehr“ (I2). Im Kontext eines potentiellen Konsumverhaltens wird die Substanz in ihrer Wirkung versucht, einzuschätzen. „Kratom könnt ja, so wie CBD, was sein, was ihm hilft, clean zu bleiben [.] aber geht´s nur damit, also is das ne neue Sucht?“ (I4). Es stehen hier also Thesen im Raum, die in weiteren Schritten geprüft und hinterfragt werden.

4) „Construction and redesign of artefacts“, Hier kann man an die interventionelle Anwendung von z.B. Skalen („decisional balance sheets“), oder Tagebüchern denken. Also diverse Skalen als Mittel zur Intervention und zur Gewinnung weiterer Informationen, die sich rasch und fallgerecht konstruieren lassen, um Befinden, Suizidalität, Schmerz, etc. abzufragen und einzuschätzen. Äußerungen, die in diese Richtung weisen, tauchten in keinem Interview auf, weshalb sie für die Auswertung nicht weiter von Relevanz ist.

5) Evidence Generation: Die weiter oben beschriebene Technik, eine Gegenthese zur eigenen zu vertreten, um sie zu prüfen, kann auch eine Technik in der sozialen Arbeit sein. Eine Entscheidung, die aufgrund diverser Faktoren getroffen wurde, kann getestet werden, in dem das Gegenteil angenommen wird. Dadurch zeigt sich, wie quasi stabil die Belege bleiben. Grundsätzlich geht es hier um Gedanken, die Vermutungen stützen sollen und Bezug zu wissenschaftlichem Material, wie z.B.

„Kratom is scheinbar ein Rezeptorantagonist, der sich an den Rezeptoren festsetzt, wo sich auch Opiate festsetzen“ (I2). Oder auch Äußerungen, die auf eine Recherche hinweisen, wie z.B. „Würde mal so verbleiben, dass ich mich informiere“ (I4).

34 6) Evidence Evaluation: Inwieweit werden Annahmen, die aus dem Fallverlauf entstanden sind, die Aspekte aus den vorherigen Punkten - im Speziellen Punkt 5 - durch theoretisches Fachwissen gestützt, oder allgemeiner formuliert: inwieweit korrespondieren Elemente der Praxis mit Elementen der Theorie und Forschung?

Beispielsweise könnte die Einschätzung, dass das Konsumverhalten problematisch ist, durch den wissenschaftlichen Artikel, oder anderes Fachwissen gestützt werden.

Eine entsprechende Schlussfolgerung und Intervention könnten dann begründet werden. Bezüglich des vorliegenden Abstracts kann folgende Aussage als Evaluation betrachtet werden: „Das Abstract is von 2008 [.] gibt es da nicht schon andere Erkenntnisse? Gibt es vielleicht auch Trends dazu in Wien?“ (I14).

7) Drawing Conclusions, Schlussfolgern: Hier werden aufgrund der vorigen Schritte Entscheidungen getroffen, „in social work this epistemic activity typically involves formulating a diagnosis or deciding on an intervention“ (Ghanem 6). Die Vermutung, dass beim Klienten weiterhin eine Suchtproblematik vorliegt, könnte sich in den vorigen Schritten erhärtet haben und eine entsprechende Intervention wäre nun die Folge. „Diese Fragen wären auch gleichzeitig eine Intervention. Sie können dazu anregen, das Konsumverhalten zu überdenken“ (I3). Eine andere Schlussfolgerung lautete: „Auf jeden Fall würde ich Psychoedukation zum Thema Drogen, gerade legale Suchtmittel, für wichtig halten“ (I45).

8) Communicating and Scrutinizing, geteiltes Problemlösen: Die Interaktion mit anderen ist hiermit gemeint. Andere werden in den Problemlöse- und Begründungsprozess miteinbezogen. Ein kollegialer Austausch, oder auch die Miteinbeziehung anderer Professionist_innen kann hier beispielsweise relevant sein (Suchtberatung, Therapeut_In, Psychiater_In, etc.), beispielsweise: „[…] und mit einem Suchtmediziner Kontakt aufgenommen habe [.] finde Vernetzung wichtig“ (I14) oder

„mit dem Ziel ihn zu einem Gespräch mit einem Psychiater zu bringen, mit dem er genau so offen über diese Substanz spricht wie mit mir“ (I2). Es kann in diesem Schritt aber auch einfach darum gehen, Informationen an Klient_innen oder weitere Beteiligte weiterzugeben und mit ihnen abzusprechen. An die Fallvignette denkend, könnte es auch bedeuten, eine Schlussfolgerung, oder die Setzung einer Maßnahme an Kolleg_innen oder das Gericht weiterzugeben und die nächsten Schritte abzusprechen.

35 5.5 Fallvignetten als Erhebungsinstrument

Diese Art der Erhebung hat sich in verschiedenen Wissenschaften als praktische und interessante Methode etabliert. Auch für die soziale Arbeit spielt sie eine zentrale Rolle in z.B. Längsschnittstudien, interkulturellen Studien oder auch Vergleichsstudien zwischen Professionist_innen (vgl. Hughes, Huby 2004: 37). Sie findet Anwendung, um unterschiedlichste Phänomene zu untersuchen, die Spannbreite reiche von beispielsweise Motivation und Kognition bis hin zu sensiblen sozialen Phänomenen, wie Akzeptanz psychisch Kranker in der Nachbarschaft (vgl. Schoenberg, Ravdal 2000: 64).

Es handelt sich um ein Medium, durch das eine spezifische Situation simuliert wird. Dabei kann Text, Bild, oder anderes (als Stimuli geeignetes) Material zum Einsatz kommen. Für die Befragten stellt sie eine stimulierende Ausgangssituation dar, die Beurteilungen, Einschätzungen oder zu weiterführenden Handlungsmöglichkeiten anregen solle (vgl.

Reutlinger et al. 20126). Explizit begründen ließe sich die Verwendung von Vignetten in

„Hinblick auf tiefenpsychologische Konzepte der Projektion, sozialkonstruktivistische und kognitionspsychologische Ansätze“ (vgl. ebd.: 64).

Grundsätzlich ermöglicht der Einsatz von Vignetten als methodisches Instrument den subjektiven Handlungssinn durch imaginierte Situationen hervorzubringen und festzuhalten (vgl. Reutlinger et al. 2012 und Jann 2003: 5). Beim Erstellen einer Fallvignette in Hinblick auf ihre interne Validität ist der Bezug zur sozialen Wirklichkeit und dem zu untersuchenden Phänomen zentral. Sie muss die dargestellten Umstände möglichst wirklichkeitsgetreu repräsentieren. Daher sei bei der Entwicklung einer spezifischen Vignette also zunächst die Erschließung der themenbezogenen, realen Situation grundlegend (vgl. ebda. und Gould 1996: 210). Durchaus kann eine Fallvignette z.B. aus einer ‚echten‘ Falldokumentation heraus entwickelt werden, insofern sämtliche Bezüge zu den realen Personen dekontextualisiert und anonymisiert werden (vgl.

Hughes, Huby 2004: 39)

Um zu gewährleisten, dass genannte Kriterien möglichst erfüllt werden, sollte eine Vignette von Expert_innen untersucht werden und einem Pretest unterzogen werden (vgl.

Hughes, Huby 2004: 37). Ausgehend von der Forschungsfrage analysiert man also zunächst mit Hilfe von z.B. Literaturrecherche oder Interviews die entsprechende soziale Realität, auf die die Forschungsfrage abzielt und erstellt anhand der gewonnen Erkenntnisse die Fallgeschichte. Die Übertragung der Situation auf eine prägnante Geschichte („verbalisierte Vignette“), oder auch auf reale Bildgeschichten („visualisierte Vignetten“) solle außerdem altersgerecht in Hinblick auf die Befragten sein (vgl.

6 Socialnet: https://www.sozialraum.de/der-einsatz-von-fall-vignetten.php

36 Reutlinger et al. 2012 und Hughes, Huby 2004: 39). Bei der Konstruktion der Geschichte ist es wichtig, sie nicht nur nah an Realität anzulegen, sondern auch so zu formulieren, denn „if situations presented in vignettes appear hypothetical rather than realistic then responses may be answered in a similar, hypothetical fashion“ (Hughes, Huby 2004: 40).

Ein Argument gegen die Verwendung von Fallvignetten knüpft hieran an: Sie könnten die zu untersuchende Realität nicht erschöpfend einfangen und darstellen, weshalb die Befragten auch häufig mit einem Informationsdefizit konfrontiert seien. Jedoch sei die erschöpfende Darstellung nicht der Anspruch der Methode, denn „the selectivity of vignettes is one the valuable features of the method (ebd.: 45). Gerade auch der Mangel an Informationen kann Überlegungen stimulieren und Interpretationen (vgl. ebd.: 46) anstoßen und stellt somit vielmehr eine mögliche Technik in der Gestaltung der Vignette dar.

Bei der Ermittlung von z.B. Entscheidungen sei es ratsam, den Befragten nur eine Vignette zu präsentieren, da dies Lerneffekte („carry-over-effect“) im Antwortverhalten vermindere (vgl. Auspurg, Hinz, Liebig 2009: 62, sowie Hughes, Huby 2004: 40).

Außerdem ist auf die Länge zu achten, denn eine eher pointiert und kurz gehaltene Vignette werde fallweise die Rücklaufquote, sowie die Konzentration der Proband_innen begünstigen und bei face-to-face Erhebungen Zeit sparen (vgl. Hughes, Huby 2004: 40).

Der Einsatz von Vignetten schwäche außerdem Effekte sozialer Erwünschtheit (vgl.

Auspurg, Hinz, Liebig 2009: 62, sowie Reutlinger, Stiehler, Liebig 20120). Dies sei der Fall, da durch die fiktive Situation eine Art Depersonalisierung stattfinde. Vor allem für Studien sensibler sozialer Phänomene ist dies interessant, da beispielsweise die Befangenheit auf Seiten der Teilnehmer_innen umgangen werden könne (vgl.

Schoenberg, Ravdal 2000: 64). Allerdings lässt sich einwenden, dass der Effekt eher dann zum Tragen kommt, wenn aus Sicht der Charaktere der Vignette geantwortet werden solle „rather than on the basis if their [der Befragten] own lives“ (Hughes, Huby 2004: 43).

Die Antworten der Proband_innen können mittels offener oder geschlossener Fragen evoziert werden. Letztere seien bei eher quantitativen Modellen hilfreich, allerdings schränken sie das Antwortverhalten ein, insofern mit offenen Fragen inhaltlich mehr Raum für die Gedanken der Proband_innen und deren Realität gegeben sei (vgl.

Hughes, Huby 2004: 42). Einige der Vor- und Nachteile lassen sich durch eine Kombination beider Techniken gut kompensieren.

Die Perspektive, die die Befragten einnehmen sollen, kann je nach Forschungsfrage anders gewählt werden. Die Möglichkeiten sind vielfältig: Die Teilnehmer_innen sollen in

37 die Rolle einer Person, einer Gruppe aus der Vignette schlüpfen, oder die eigene Perspektive beibehalten. In dieser Arbeit ist es die Rolle eines_einer Sozialarbeiter_in und da die Befragten alle aus dem Berufsfeld (klinische) soziale Arbeit stammen, ist eine relative Nähe zur eigenen Perspektive gegeben. Wichtig ist, dass es für die Befragten möglich ist, die Perspektive überhaupt einzunehmen: Der Perspektivenwechsel kann sich als schwierig herausstellen, wenn sich z.B. 20-jährige in 70-jährige Personen eindenken sollen (vgl. ebd.: 43). Jedoch hängt es von der Forschungsfrage ab, ob diese Schwierigkeit problematisch oder vielleicht sogar gewünscht ist. Die Techniken, wie man Reaktionen und Einschätzungen erheben kann, sind also vielfältig, man kann sie eine Perspektive aus der Vignette übernehmen lassen, man kann anhand einer Vignette eine Situation darstellen und fragen, was als nächstes passieren soll, oder ob sie an eine Begebenheit aus dem eigenen Leben erinnert und derlei mehr. Eine Kombination der Möglichkeiten kann manchmal von Vorteil sein und unabhängig davon ist es wesentlich, dass den Teilnehmer_innen klar ist, dass es im Antwortverhalten weder „Richtig“ noch

„Falsch“ gebe (vgl. ebd.: 44f).

5.5.1 Tiefenpsychologische Konzepte

Die bereits genannten theoretische Zugänge werden nun kurz vorgestellt. Das Projektive Verfahren: Ursprünglich aus der klinischen Psychologie als Instrument zur Persönlichkeitsdiagnose herstammend, haben diese Verfahren zum Ziel „unterdrückte, geleugnete oder schwer ermittelbare Einstellungen des Probanden herauszuarbeiten“

(vgl. ebd.: 44). Ist die Rede von der attributiven Projektion, gehe es darum, eigene Gefühle, Motive und Verhaltensweisen den Personen einer Vignette zuzuschreiben, es solle also eine Identifizierung mit den Protagonisten der Vignette hergestellt werden (vgl.

ebd.: 44). Die Befragten fungieren quasi als Stellvertreter_innen und erläutern, wie sie sich fühlen, was sie denken und wie sie handeln würden (vgl. ebd.: 44). Daneben kann das projektive Verfahren - wie in dieser Arbeit - zum Ziel haben, den Befragten einen Interaktionskontext mit Aufforderungscharakter anzubieten, damit sie darauf reagieren,

„je nach eigenen Gewohnheiten, Interessen, Gefühlen, Erwartungen und Wünschen“ (vgl.

ebd.: 44). Für die Zwecke dieser Erhebung kann man zusätzlich Wissen und Erfahrungswissen als jeweils eigenen Horizont nennen.

Bei der Kognitionspsychologischen Skripttheorie geht es um die Erhebung sogenannter kognitiver Skripte, also Wahrnehmungs- und Handlungsschemata, die bei Bachmann definiert seien als „prototypische Folgen von Situationen und Ereignissen […],

38 die wir regelmäßig in Interaktion mit der Umwelt absolvieren“, wobei die individuelle, erfahrungsabhängige Ausprägung einen wichtigen Aspekt darstelle (vgl. ebd.: 45). Die Idee dahinter ist, dass Regelmäßigkeiten zu Gewohnheiten führen, im Verhalten sowie in Denken und Wahrnehmung.

Schlussendlich bietet die von Simon und Gagnon entwickelte Script-Theorie einen theoretischen Ansatzpunkt, der Reziprozität zum Ausgangspunkt hat und somit ein sozialkonstruktivistisches Konzept darstellt. Es werde davon ausgegangen, dass

„Menschen sich und ihre Wirklichkeit in wechselseitiger Auseinandersetzung von kulturellen Vorgaben, sozialer Umwelt und eigenen Motivationen selbst herstellen und darstellen“ (vgl. ebd.: 45). Sie verwenden dafür die Metapher einer Bühnenaufführung, da die Befragten durch die Vignette eine Bühne erhielten, „auf der sie als Regisseur agieren und eine soziale Situation selbst ausgestalten können“ (vgl. ebd.: 45). Keinesfalls sei eine solche Konstruktion willkürlich, denn sie von den jeweiligen Erfahrungen und Empfindungen abhängig (vgl. ebd.: 45).

Die Fallvignette dieser Arbeit nutzt die drei theoretischen Zugänge, denn einerseits sollen die – wie erläutert – schwer zugänglichen epistemischen Denkprozesse erhoben werden mit Hilfe des Lauten Denkens. Die Vignette und die zusätzliche Information beinhalten den Aufforderungscharakter, so wie diverse Stimuli, um diesen Prozess anzuregen. Die simulierte Situation soll die Befragten außerdem mit einer typischen Situation aus dem Arbeitsalltag konfrontieren, d.h. ein Erstgespräch liegt vor, bei dem noch relativ wenig Informationen vorhanden sind, diese verarbeitet werden sollen, um z.B. etwaige Hypothesen zu bilden, oder über mögliche Interventionen nachzudenken. Der individuelle Erfahrungs- und Wissenshorizont stehen hierbei im Mittelpunkt.

Um die interne Validität der Vignette für diese Arbeit (nochmals) sicher zu stellen, wurde ein Pretest mit Personen aus der Sozialen Arbeit und aus der Klinischen Sozialen Arbeit gemacht. Dadurch konnte abgeschätzt werden, wie nah sie an der Realität, sowie an der Forschungsfrage ist. Die Vignette ist zum zweiten Mal Gegenstand einer Erhebung, d.h.

dass auch die wiederholte Anwendung zur Sicherung von Validität und Reliabilität beiträgt (vgl. Hughes, Huby 2004: 39).

Schlussendlich ist noch anzumerken, dass jede Methode ihre Vor- und Nachteile hat und keine tatsächlich soziale Wirklichkeit im vollen Sinne abbilden kann. Methoden stellen vielmehr einen jeweiligen, spezifischen Zugang dar, mit Hilfe dessen Ausschnitte generiert werden können, oder wie es Denzin (1978) formuliert:

39

„each method implies a different line of action toward reality – and hence each will reveal different aspects of it, much like a kaleidoscope, depending on the angle at which it is held, will reveal different colors and confi gurations of objects to the viewer. Methods are like the kaleidoscope: depending on how they are approached, held, and acted toward, different observations will be revealed“ (Hughes, Huby 2004: 47)

Das Erhebungsinstrument und dessen theoretische Fundierungen wurden nun erläutert, weshalb nun die Fallvignette und das wissenschaftliche Abstract inhaltlich vorgestellt werden können. Anschließend wird der Ablauf der Erhebung dargelegt.

6. Analyse und Auswertung der Interviews

Die Häufigkeiten, die sich aus den Erhebungen ergeben, also wie oft eine der acht epistemischen Handlungen als solche jeweils codiert werden konnten, zeigen, welche Proband_innen sich wie im erkenntnistheoretischen Prozess verhalten und also ihr Wissen praktisch anwenden. Die Datenauswertung erfolgte mit SPSS 26. Mit Hilfe des t-Tests für Mittelwertgleichheit bei kleiner Fallzahl werden die Unterschiede zwischen den Gruppen bezüglich der epistemischen Handlungen ermittelt. Mittelwert (Mw) und Standardabweichung (Sta) geben Auskunft darüber, ob signifikante Unterschiede bestehen. Dasselbe Prozedere gilt für etwaige Unterschiede in der konkreten Anwendung von Wissen. Es werden folgende Gruppen untersucht: Bachelorabsolvent_innen (soziale Arbeit und andere) vs. Masterabsolvent_innen, sowie Bachelorabsolvent_innen (nur soziale Arbeit) vs. Masterabsolvent_innen. D.h., dass zwei t-Tests berechnet werden mit je diesen Gegenüberstellungen. Mittels einer multivariaten Analyse wird untersucht, ob das Alter oder Praxiserfahrung in Jahren einen wesentlichen Einfluss darauf haben.

Außerdem wird anhand einer Clusteranalyse geprüft, ob sich verschiedene Typen in der Anwendung von Wissen finden lassen.

6.1 Deskriptive Befunde und Ergebnisse

Zunächst wird nun die Stichprobe vorgestellt, um dann die genannten Analysen zu erläutern. Anschließend folgt die Ergebnisdiskussion, bei der auch die Ergebnisse der Originalstudie pointiert erläutert werden. Es folgt die Relevanz für die klinische soziale Arbeit. Danach folgt der zweite empirische Teil dieser Arbeit, Methode und Auswertung der vier Interviews zur evidenzbasierten Praxis in der (klinischen) sozialen Arbeit.

Die Stichprobe umfasst n=46 Fälle. Davon sind 16 Personen männlich (34,8%) und 30 Personen weiblich (65,2%). Das Alter aller Teilnehmenden liegt zwischen 25 und 41

40 Jahren (Mw 32,2, Sta 4,5). Die facheinschlägige Berufspraxis liegt zwischen 2 und 19 Jahren (Mw 8,5 und Sta 3,9).

37 Personen der Stichprobe haben einen Bachelor in Sozialer Arbeit (80,4%). Die facheinschlägige Praxiserfahrung in dieser Gruppe liegt zwischen 2 und 14 Jahren (Mw 8,1, Sta 3,6). Von den 37 Bachelorabsolvent_innen haben 15 Fälle zusätzlich einen Master in klinischer sozialer Arbeit abgeschlossen.

Der Master Klinische Soziale Arbeit insgesamt wurde von der Hälfte aller Teilnehmenden abgeschlossen, also n= 23. Das Alter dieser Gruppe reicht von 25 bis 39 Jahren (Mw 31,2 und Sta 4,2). Die Praxiserfahrung reicht von 2,5 bis 13 Jahre (Mw 7,2, Sta 3,3). Der Rest der Stichprobe setzt sich wie sich folgt zusammen: 5 Fälle haben einen Bachelor in Bildungswissenschaften (10,9%), 3 einen Bachelor in Psychologie (6,5%) und 1 Person einen Bachelor in Internationaler Entwicklung (2,2%). Das Alter dieser Gruppe der Quereinsteiger_innen reicht von 27 bis 36 Jahre (Mw 30,3 und Sta 2,9). Deren facheinschlägige Praxiserfahrung von 3 bis 10 Jahre MW 5,6, Sta 2,2).

Es gibt also drei Gruppen: Absolvent_innen mit Bachelor Soziale Arbeit, mit Master Klinische Soziale Arbeit und Quereinsteiger_innen ohne Bachelor Soziale Arbeit, mit Master Klinische Soziale Arbeit.

41 Die meisten Teilnehmer_innen sind im Handlungsfeld Suchtberatung tätig, lediglich eine Person arbeitet im geriatrischen Bereich (siehe Tabelle 1).

Tab.1 Verteilung der Stichprobe auf Handlungsfelder

Handlungsfeld

Suchtberatung 13 28,3%

Wohnungslosenhilfe 10 21,7%

Frauenhaus 5 10,9%

Kinder und Jugend 5 10,9%

Bewährungshilfe 5 10,9%

Betreutes Wohnen 3 6,5%

Gemeinwesenarbeit 2 4,3%

Psychiatrie 2 4,3%

Hospiz 1 2,2%

Es handelte sich also in Hinblick auf Alter, Berufsfeld und Berufserfahrung um eine relativ heterogene Stichprobe. In den folgenden Kapiteln wird die Stichprobe anhand der Merkmale der epistemischen Aktivitäten, Abschluss, Berufserfahrung, Alter und Handlungsfeld genauer untersucht.

6.2 Statistische Auswertung: Master vs. Bachelor

Für die Beantwortung der Hypothese und Forschungsfrage wurden verschiedene statistische Analysen gemacht, deren Ergebnisse nun vorgestellt werden.

Die erste Fragestellung lautete: Unterscheiden sich grundständige Sozialarbeiter_innen von klinischen Sozialarbeiter_innen im erkenntnistheoretischen Prozess? Davon ausgehend, lässt sich die Hypothese bilden:

Wenn Sozialarbeiter_innen einen Master absolviert haben, dann werden höhere Werte bei den epistemischen Aktivitäten erreicht, als bei Bachelorabsolvent_innen.

Anhand des t-Tests bei unabhängigen Stichproben lassen sich die epistemischen Aktivitäten und die Gruppen Master ja oder nein in Beziehung setzen (siehe Tab. 2). Die Normalverteilung wurde geprüft und ist gegeben, der Levene Test hat gezeigt, dass in