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4 Empirische Befunde

4.1 Ethnizität, Inklusion und Exklusion – die Verhandlung der Opfer und der Täter/-innen

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Abbildung 2: Foto ‚Claudia R.’, Quelle: BILD vom 29.09.1980, S. 1.

Versehen wurde das Bild mit folgendem Text:

Die 14jährige Claudia R. [...]: Die Bombe hatte ihr den Fuß aufgerissen. Ihr Freund schleppte die blutende ohnmächtige Claudia fünf Kilometer durch die Nacht bis zur Wohnung seiner El-tern. (bild_80_09_29_s1)

Hierbei wird eine emotionale Bindung der Leserschaft zum Opfer aufgebaut. Das Foto scheint im Krankenhaus aufgenommen worden zu sein und zeigt Claudia R. hierdurch in einer sehr persönli-chen und verletzlipersönli-chen Situation, die dadurch verstärkt wird, dass das Mädpersönli-chen nachdenklich wirkt.

Durch den Verweis darauf, dass ihr Freund sie blutend „fünf Kilometer durch die Nacht bis zur Wohnung seiner Eltern“ getragen habe, wird den Lesern und Leserinnen das Grauen, das die Opfer zu erleiden haben, stärker vor Augen geführt, da die Beschreibung eher plastisch als abstrakt wirkt.37 Durch den Verweis auf das Elternhaus wird deutlich gemacht, dass es sich bei Claudia R.

um eine unschuldige Minderjährige handelte.

Am selben Tag veröffentlichte die BILD sehr drastische Darstellungen von Zeug(inn)en. Im ge-nannten Artikel tauchen sechs verschiedene Schilderungen auf, von denen zwei stellvertretend für die anderen näher beleuchtet werden sollen. So äußerte sich eine Zeugin wie folgt:

Ein Mann mit einem Strohhut auf dem Kopf wollte seine ohnmächtige Freundin durch Mund-zu-Mund-Beatmung wiederbeleben. Er merkte gar nicht, daß sie stark blutete. Ich riß ihn zurück – das Mädchen wäre sonst unter seinem Lebenskuss erstickt. (bild_80_09_29_s2b)

Durch dieses Zitat wird wieder eine persönliche Nähe zu den Opfern aufgebaut. Der Verweis auf die (vermutliche) Partnerschaft der beschriebenen Personen lässt die Leserschaft an die, falls vor-handen, eigene Beziehung denken und weckt hierdurch eine Verbindung zu den Opfern. Auch wird

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die Leserschaft durch die Darstellung des Überlebenskampfes emotionalisierend an das Schicksal der Ohnmächtigen und die Verzweiflung ihres Freundes gebunden. Eine andere Zeugin berichtete Folgendes:

Ein Mann stürzte auf einen Polizisten zu. Er versuchte, ihm die Pistole zu entreißen und schrie:

„Gebt mir die Waffe! Erschießt mich! Betet ein Vaterunser!“ Fünf Polizisten mußten sich auf den weinenden Mann werfen. Neben ihm lag seine kleine Tochter – tot. (bild_80_09_29_s2b) Zusätzlich zu der eindringlich beschriebenen Trauer und dem Schmerz des Mannes, aufgrund des-sen er nicht mehr weiterleben möchte, kommt ein weiterer Aspekt hinzu: Er wird in seiner Rolle als Vater beschrieben. Hierdurch bekommt die Beschreibung etwas Persönliches. Der Mann wird nicht nur als Opfer eines Attentats, sondern auch als Vater verstanden, der eben seine Tochter durch ei-nen Bombenanschlag verloren hat. Somit könei-nen sich andere Menschen, die den Artikel lesen, mit ihm identifizieren und eine persönliche, emotionale Nähe zu diesem Mann empfinden. Auch ohne fotografische Abbildung bekommt er so in gewisser Weise ein Gesicht. Am selben Tag erschien außerdem ein weiterer Artikel über eine Familie. Der BILD zufolge betet ein Vater für zwei seiner Kinder, die bei dem Anschlag getötet wurden, sowie für seine Frau und zwei weitere seiner Kinder, die bei dem Anschlag verletzt wurden und in Lebensgefahr schwebten.38 Der Artikel transportiert eine ähnliche Botschaft wie das eben beschriebene Zitat, weshalb dieser zwar nicht mehr ausführ-lich analysiert, an dieser Stelle jedoch trotzdem erwähnt werden soll.

Auf derselben Seite beschreibt ein Artikel, wie die Opfer aufgefunden wurden. Unter der Über-schrift „Die Explosion riß den Opfern die Schuhe von den Füßen“ wurde ein Foto von eingesam-melten Schuhen mit der nachfolgenden Bildunterschrift veröffentlicht:

Diese Schuhe stehen aufgereiht im Münchner Landeskriminalamt. Die Druckwelle der Explosi-on riß sie Toten und Verletzten vExplosi-on den Füßen. Über 40 Opfer wurden fast nackt geborgen. Die Gewalt der Explosion hatte ihnen die Kleider vom Leib gefegt. Polizisten sammelten Schuhe und Kleider ein. (bild_80_09_29_s2)

Durch diese Beschreibung wird betont, wie stark die Explosion war, der die Menschen zum Opfer gefallen sind. Der Verweis darauf, dass sie beim Fund ihrer Leichen fast nackt gewesen seien, drückt ihre Wehrlosigkeit aus. Nacktheit ist in der Regel ein Zustand einer fast nicht zu überbieten-den Intimität und Schutzlosigkeit und kann durch die Tatsache, dass Menschen nackt geboren wer-den, auch als Zeichen der Unschuld gedeutet werden. Des Weiteren werden auf derselben Seite exemplarisch drei Opfer mit Fotos und ihrem Schicksal sichtbar gemacht: alle drei Fotos von

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chelnden und fröhlich aussehenden Menschen.39 Hinsichtlich des ersten beschriebenen Opfers, das bei der Explosion ein Bein verlor, merkt die BILD an, dass die Hausfrau noch nicht wisse, dass ihr Mann unter den Toten sei. Im Hinblick auf das zweite beschriebene Opfer, einen 25-jährigen Offi-ziersanwärter, schreibt die BILD, dass seine Mutter, nachdem sie geglaubt habe, dass er nicht in Lebensgefahr schwebe, einen Anruf erhalten habe, dass er tot sei.40 Beim dritten beschriebenen Op-fer handelt es sich um eine Vertriebsangestellte. Laut der BILD rief ihr Mann im Krankenhaus an und musste erfahren, dass seine Frau verstorben sei.41 Auch bei diesem Artikel fällt wieder auf, dass die BILD eine emotionale Bindung und Nähe zwischen Leserschaft und Opfern aufbaut. Durch die Beschreibung ihrer Angehörigen und die sympathisch anmutenden Porträtfotos werden sie aus einer Sphäre des Abstrakten heraus in eine Sphäre des Persönlichen gehoben. Es handelt sich bei ihnen somit nicht um anonyme Opfer, sondern um Menschen mit Gesichtern und Familiengeschichten.

Am 30. September 1980 veröffentlichte die FAZ einen Artikel, der sich mit dem mutmaßlichen At-tentäter Gundolf Köhler beschäftigte. Sie beschrieb ihn als Abiturienten und Geologiestudenten, der dem Verfassungsschutz schon früher einmal aufgefallen war. Dennoch habe er keinerlei „auffällige politische Aktivitäten“ entwickelt. Lediglich für eine „Hakenkreuzschmiererei“ in Tübingen komme er infrage, was ihm aber nie nachgewiesen werden konnte.42 Insgesamt beschreibt die FAZ ihn als seltsame Person mit Geltungsbedürfnis. Er habe seiner Zimmerwirtin zufolge keine Freunde gehabt und habe in seinem Heimatort Donaueschingen einen Brunnen restauriert, wofür er von der ‚Badi-schen Zeitung‘ gelobt werden wollte.43 Dieses „Geltungsbedürfnis“ deute darauf hin, „daß die Tat von München das Werk eines Einzeltäters sein könnte, der allenfalls seinem ‚Gruppenchef‘ [Karl-Heinz Hoffmann] demonstrieren wollte, was er für ein Kerl sei“.44 Hierbei vermittelte die FAZ die These einer Einzeltäterschaft Köhlers und beschreibt diesen als verschroben. Hierdurch entsteht der Eindruck einer bedingten Zurechnungsfähigkeit gepaart mit einer Verschlossenheit gegenüber ande-ren Personen. Somit wird Köhler weniger als Mensch, sondern mehr als Sonderling ohne große Emotionalität verhandelt, was einem ansatzweisen Ausschluss Köhlers aus der ‚normalen’ Gesell-schaft entspricht.

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Die BILD widmete Köhler am 29. September 1980, also einen Tag vor der FAZ, einen umfangrei-cheren Artikel. Unter der Überschrift „Der Attentäter: Köhler liebte Bäume, zündete Bomben“ legte sie sich auf Köhler als Täter fest und druckte zudem ein großes, unverpixeltes Foto Köhlers ab, wie er gerade einen Baum pflanzte.45 Die BILD betonte, dass ihm niemand die Tat zugetraut hätte und auch sein „Hang zum Militarismus, zum Rechtsextremismus“ von niemandem ernst genommen wurde.46 Des Weiteren sprach sie sein Geologiestudium und thematisierte, dass er Tiere, Pflanzen und Höhlen fotografiert hätte und ein Buch über Heldensagen schreiben wollte. Auch beschrieb die BILD, dass Köhler zu Gymnasialzeiten Sprengstoff im elterlichen Keller herstellen wollte und bei der daraus resultierenden Explosion schwer verletzt wurde.47 Zudem seien er und seine Brüder vom Vater, der es gut gemeint habe, streng erzogen worden.48 Zu seiner Persönlichkeit schrieb die BILD Folgendes:

Er war 1,78 groß, kräftig gebaut, breitschultrig, ein Sportlertyp. Aber er war kontaktarm, psy-chologisch unausgereift, verstockt. Wenn er unter Leuten war, zog er den Kopf ein. „Er war schwierig, hatte kaum Kameraden“, sagt der Medizinstudent Carlo R., der ihn schon vom Gym-nasium kannte. (bild_80_09_29_s4b)

Darüber hinaus habe Köhler sich bis auf eine Ausnahme nicht an Schulstreichen beteiligt.49 Ähnlich wie in der FAZ wurde also hier ebenfalls das Bild einer Person gezeichnet, mit der sich viele andere Menschen nur schwerlich identifizieren konnten und können. Auch die BILD grenzte Köhler hier-durch bis zu einem gewissen Grad aus der Gesellschaft aus und pathologisierte diesen hier-durch den Verweis darauf, dass er „psychologisch unausgereift“ sei noch zusätzlich.50 Die ‚WSG Hoffmann‘

wurde von der BILD als „sein Leben“ beschrieben, da er hier etwas bedeutet hätte.51 Hierdurch wird Köhlers Selbstbestimmtheit als eingeschränkt suggeriert. Er habe „sogar“ versucht, Pistolen für die

‚WSG Hoffmann‘ zu besorgen.52 Hiermit deutet die BILD an, dass Köhler dazu bereit gewesen wä-re, alles für die ‚WSG Hoffmann‘ zu geben und auch entsprechend zu handeln.

Hinsichtlich der Darstellung Gundolf Köhlers als Täter ist zu bemerken, dass die ZEIT am 17. Ok-tober 1980 einen Artikel veröffentlichte, in dem sie, auch für Köhler, das Recht von Beschuldigten

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auf eine juristische Unschuldsvermutung forderte.53 Hierbei übte sie vor allem eine scharfe Medi-enkritik, indem sie der Illustrierten Quick vorhielt, vorschnell über Köhler berichtet zu haben, was durch einige andere Presseerzeugnisse „ungeprüft und unkritisch“ übernommen worden sei.54 Im Fokus der Kritik seitens der ZEIT stand hierbei vor allem, dass viele Medien Köhler als ‚Täter‘, nicht jedoch als ‚mutmaßlichen Täter‘ präsentiert hätten. Zwar deuteten viele Indizien auf eine Tä-terschaft Köhlers hin, man könne auch durchaus davon ausgehen, dass sich diese Indizien bald durch Beweise bestätigten. Dennoch sei es falsch, einen Toten, der sich nicht mehr verteidigen kön-ne, unbewiesen als zweifellosen Täter darzustellen.55 Wie aus dem analysierten Material hervor-geht, hatte die FAZ Köhler als „mutmaßlichen Attentäter“ bezeichnet, während die BILD von ihm als „Der Attentäter“ schrieb.56 Des Weiteren bemerkte die ZEIT Folgendes:

Je größer das Verbrechen und demgemäß der Jagdeifer der Medien, um so vorsichtiger muß der Verdächtige behandelt werden, auch wenn er tot ist. Die diskriminierende und widerliche Sip-penhaftung der Familie Köhler liefert einen wichtigen Grund dafür, wie weise die vom Gesetz befohlene, aber von den Medien in den Wind geschlagene Vorsicht wäre. (zeit_80_10_17) Es wird nicht nur auf Köhler, sondern auch auf seine Familie eingegangen. Durch Begrifflichkeiten wie „Jagdeifer“ oder „Sippenhaftung“ macht die ZEIT das Ausmaß, in dem die Medien Köhler und auch seine Familie vorverurteilten, deutlich.57 Sie verlangt eine faire und rechtsstaatliche mediale Behandlung Köhlers und vor allem seiner Familie. Durch diese Beschreibung und den Verweis auf sein familiäres Umfeld gesteht die ZEIT Köhler seine Menschlichkeit zu und verzichtet somit auf eine Dämonisierung des mutmaßlichen Täters.58 Die ZEIT geht außerdem noch weiter auf die Fami-lie und die Unschuldsvermutung ein:

Die Köhlers, eine intakte Familie, in der es CDU- und SPD-Mitglieder gibt, haben sich gewehrt.

Die Brüder des Verdächtigen haben Gegenindizien genannt und ihre Kenntnis von Person und Charakter des jüngeren Familienmitglieds preisgegeben. Auch urteilsfähige Bekannte von Gun-dolf Köhler zweifelten an dessen Täterschaft. (zeit_80_10_17)

Auch die FAZ und die BILD berichteten über die Gegenargumente der Familie Köhler. Während die FAZ schlicht berichtete, dass die Köhlers die Behauptung geäußert hätten, ihr Sohn sei unschuldig, ging die BILD etwas näher darauf ein und zitierte die Familie, die aussagte, dass Köhler keine tiefe-ren Verbindungen zur ‚WSG Hoffmann‘ hätte und die Chemikalien, die im Haus der Familie

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funden wurden, Gundolf Köhlers Bruder, einem Chemiker, gehören würden.59 Als Zugeständnis an die Unschuldsvermutung kann man die Berichte der FAZ und BILD jedoch nicht bezeichnen, da sie sehr kurz sind und die Aussagen der Familie Köhler nicht weiter kommentierten. Die ZEIT hinge-gen wurde etwas deutlicher. Der Hinweis darauf, dass es in Köhlers Familie CDU- und SPD-Mitglieder gebe, verweist darauf, dass Köhler in einem ‚stabilen‘ politischen und persönlichen Um-feld aufgewachsen sei. Auch die Betonung, dass nicht nur die Familie, sondern auch Bekannte Köh-lers ihm die Tat nicht zutrauten, sprechen für ihn.60 Insgesamt lässt sich festhalten, dass sich die ZEIT gegen die Vorverurteilung eines mutmaßlichen Täters und Spekulationen über diesen ver-wahrte. Dies ist ein im gesamten Datenkorpus im Hinblick auf alle drei untersuchten Ereignisse einzigartiger Vorgang.

Rostock-Lichtenhagen

Auch bei der Berichterstattung zu Rostock-Lichtenhagen wurden die Opfer der Gewalt thematisiert.

Einzelnen Personen wurde jedoch lediglich in der BILD ein Gesicht gegeben. So berichtete sie am 25. August 1992 auf Seite 1 über die gewalttätigen Übergriffe und ging näher auf die Opfer ein:

Zwei Nächte stürmten Rechtsradikale gegen dieses Asylantenheim. Feuer loderte auf, Tränen-gas zischte. Und 2000 Menschen klatschen Beifall, als die Rechtsradikalen das Haus zu stürmen versuchten. Da draußen, hier drinnen – die Welt von 200 Asylbewerbern. Eine Welt der Angst.

Vor vier Tagen kam die Schneiderin Joana aus Rumänien, wurde hier einquartiert. Die Wände sind verschmiert, es riecht streng nach Urin. Joana erzählt: „Abends prasselten die Steine gegen die Hauswand – wie ein dumpfes drohendes Klopfen. Zwei Steine schossen durch die Scheibe und krachten gegen die Küchentür. Draußen klatscht die Menge, als hätte jemand ein Tor ge-schossen.“ (bild_92_08_25_s1a)

Die Tatsache, dass es sich bei den Opfern nicht einfach nur um ‚die Asylanten‘ handelt, wahrt ihre Würde und ihre Menschlichkeit. Haben die Menschen Gesichter, so kann man sich mit ihnen identi-fizieren und denkt über die individuellen Geschichten hinter diesen nach. Auch die Beschreibung der „Welt der Angst“ in Verbindung mit den hygienischen Zuständen, in der die Asylsuchenden verharren mussten, macht ihr Schicksal emotional (be)greifbarer.61 Die Betonung, dass Joana Schneiderin ist, widerspricht außerdem dem verbreiteten Vorurteil, bei den Geflüchteten handle es sich ausschließlich um ‚Sozialschmarotzer‘.62 Die Darstellung der jubelnden Menge lässt die ge-samte Situation des Weiteren surreal wirken. Menschen, die andere als Individuen zu betrachtende Menschen angreifen und sich auf dieser Grundlage belustigen, sind in ihren Beweggründen für viele

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Leser/-innen wohl nur schwer nachzuvollziehen. Im Artikel wird noch eine weitere Person mit ihren Kindern beschrieben:

Ein Zimmer weiter lebt Retan mit seinen beiden kleinen Söhnen. Ein Deutscher aus Rumänien, er wollte zurück in die Heimat. Das eine Kind spricht fließend deutsch: „Wir versteckten uns hinter einem Schrank, als die Steine flogen. Im Fenster sah ich den Feuerschein. Papa weinte, sagte immer wieder: Das ist nicht Deutschland.“ (bild_92_08_25_s1a)

Ähnlich wie bei den Opfern des Oktoberfests bereits analysiert wurde, ist auch hier Retans Rolle als Vater von großer Bedeutung. Er wird in der Position eines Familienvaters verstanden, der sich für sich und seine Kinder eine Zukunft in Deutschland wünscht. Dadurch erscheint seine Schilderung sehr persönlich und er wirkt noch verletzlicher als bspw. Joana. Noch entscheidender ist aber der Hinweis, dass er „ein Deutscher aus Rumänien“ sei, der „zurück in die Heimat“ wolle.63 Hierdurch bekommt er von der BILD, die an anderen Stellen nicht nur empathisch über Asylsuchende berich-tet, die Legitimation und Absolution, in Deutschland zu leben, da er Deutscher ist. Der Hinweis darauf, dass eines seiner Kinder fließend Deutsch spreche, verweist noch stärker auf diesen Aspekt, da dieser suggeriert, dass Retan sich seines Deutschseins bewusst ist und dafür gesorgt hat, dass sein Kind die deutsche Sprache gelernt hat. Man kann hier also eine Identifikation Retans mit Deutschland herauslesen, die nicht erst mit dem Entschluss begonnen hat, in die „Heimat“ zurück-zukehren.64 Hierdurch wird der Leserschaft die Willkürlichkeit der Gewalt vor Augen geführt.

Durch den Verweis, dass Retan geweint habe und die Angriffe nicht als repräsentativ für Deutsch-land erachte, wird diesen außerdem jegliche Legitimation abgesprochen. Im selben Artikel veröf-fentlichte die BILD ein Foto einer Mutter mit ihrem Kind:

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Abbildung 3: Foto ‚Verängstigte Mutter’, Quelle: BILD vom 25.08.1992, S. 1.

Auf dem Foto ist zu sehen, wie eine ängstlich wirkende Frau ein schlafendes Kleinkind in den Ar-men hält. Das Bild wirkt bedrückend und vermittelt die Erschöpfung von Mutter und Kind. Auch hier ist das Muster der Elternschaft wiederzuerkennen und lässt ein Gefühl der Intimität aufkom-men. Ein weiterer Aspekt ist die Schutz- und Hilfslosigkeit der Mutter, die nicht viel mehr tun kann, als das Kind im Arm zu halten und auf den in der Bildunterschrift beschriebenen „Abtransport“ zu warten.65 Verstärkt wird der Eindruck dadurch, dass die Bildunterschrift besagt, dass es immer die

„Wehrlosen“ seien, die leiden würden.66 Hierdurch werden die Mutter und ihr Kind, wie auch Joana und Retan mit seinen Kindern, stellvertretend für die anderen Opfer als Unschuldige markiert, die die Gewalt nicht verdient hätten. Dieser Eindruck wird durch die Titelseite des darauffolgenden Tages intensiviert:

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Abbildung 4: Foto ‚Die Schande von Rostock’, Quelle: BILD vom 26.08.1992, S. 1.

Hätten die vorherigen Berichte über die Angriffe noch nicht ausgereicht, so würde der Leserschaft hier der endgültige Zivilisationsbruch durch die Berührung des gesellschaftlichen Tabus, Kindern etwas anzutun, vor Augen geführt. In dem das Bild begleitenden Artikel heißt es wie folgt:

Die dritte Nacht von Rostock war die grauenhafteste: Hunderttausende von neuen Nazis stürm-ten das Asylanstürm-tenheim in Rostock, zündestürm-ten das Haus an, trieben die Flüchtlinge auf die Dächer und brüllten: „Wir hängen euch, wir hängen euch.“ Erst um Mitternacht wurden die Asylbewer-ber befreit, zitternd gingen sie ins Freie, so wie das kleine Mädchen (Foto), dem man eine De-cke umgelegt hatte. (bild_92_08_26_s1)

Durch den Artikel wird klar, dass die Überschrift zum Artikel irreführend ist. Die Vorgänge sollen an dieser Stelle nicht relativiert oder verharmlost werden, dennoch muss erwähnt werden, dass die BILD mit der Überschrift suggerierte, dass genau jenes dargestellte Kind gezielt von den Angreifern und Angreiferinnen herausgesucht wurde, damit es gehängt werden könne. Es verhält sich aber eher so, dass die BILD das Kind stellvertretend für die Angegriffenen sieht. Trotzdem oder gerade des-halb verfehlte das Foto seine Wirkung nicht. Das in eine Decke eingewickelte Kind wirkt verängs-tigt, wehrlos und verloren und steht repräsentativ für alle angegriffenen Asylsuchenden. Es verdeut-licht das Ausmaß der „Schande von Rostock“ und lässt die Angegriffenen als das wirken, was sie sind, Menschen.67 Dennoch wird gerade Retan am persönlichsten verhandelt. Er ist die einzige Per-son, über mit tiefergehenden Hintergrundinformationen berichtet wird. Auch hinsichtlich Joana erhält die Leserschaft nähere Informationen, die jedoch weniger persönlich als diejenigen über

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Retan sind. Die Menschen auf den Bildern werden zwar gezeigt, sie sind jedoch prinzipiell aus-tauschbar, da über ihre persönlichen Hintergründe keine Informationen vermittelt werden.

Die Angreifer/-innen werden in einem BILD- und einem FAZ-Artikel ausführlicher beschrieben.

Werden die Täter/-innen mehrfach lediglich oberflächlich als Kollektiv verhandelt, so beschreibt die BILD in dem Artikel, in dem sie auch auf Joana und Retan eingeht, einige der Angreifer/-innen genauer:

Sonntagabend, die Nacht bricht herein, jetzt stehe ich draußen – draußen bei den anderen.

Leuchtraketen mit pinkem Schweif zischen direkt auf die Polizisten zu – durch Schwaden von Tränengas. „Schmeißt die Bullen kaputt“, schreit ein 18jähriger ganz in Schwarz, Glatze, Sprin-gerstiefel. Im Steinhagel und Wasserwerferfontänen drängen 500 Beamte die Radikalen zurück [...]. (bild_92_08_25_s1a)

Der beschriebene 18-Jährige wirkt bedrohlich, auch weil Gewalt sein einziges Ziel zu sein scheint.

Diese richtet sich längst nicht nur auf die Asylsuchenden, sondern in dieser Szene vor allem gegen die Polizist(inn)en. Äußerlich beschrieben wird er nach dem damals für männliche Neonazis geläu-figen Muster: Glatze und Springerstiefel. Im weiteren Verlauf des Artikels heißt es wie folgt:

Der jüngste Werfer scheint gerade 14 Jahre alt zu sein. Anja (16), geschminkt, enge Jeans:

„Toll, endlich geile Action hier!“ Unter einem roten Tuch vermummt, ein 18jähriger: „200 Ber-liner sind gekommen, um uns zu helfen. Aber die Schweine schmeißen mit Gas. Wie sollen wir dagegen ankommen? Aber wir machen die ganze Woche weiter.“ (bild_92_08_25_s1a)

Es fällt auf, dass von den drei in dem Artikel beschriebenen Angreifern und Angreiferinnen keiner über 18 Jahre alt ist, die BILD betont gar, dass „der jüngste Werfer“ vermutlich erst 14 Jahre alt sei.68 Anja wird tendenziell entpolitisiert beschrieben, ihr scheint es mehr um die „geile Action“ zu gehen.69 Hierzu passt auch die Beschreibung ihres Äußeren. Schminke und enge Jeans wirken im Vergleich zu Glatze und Springerstiefel wie ein alltägliches Outfit. Der mit dem „roten Tuch“ be-kleidete Angreifer hingegen wirkt, ähnlich wie der Angreifer mit Springerstiefeln, gewalttätig und fanatisch. Er sagt zwar, dass er gegen das Gas der Polizei nicht ankommen könne, aber trotzdem

„die ganze Woche“ weitermachen würde.70 Wichtig ist auch der von ihm selbst gegebene Hinweis auf die 200 anwesenden Berliner/-innen. Hierdurch wird klar, dass es sich bei den Angriffen mit-nichten ‚nur‘ um die Proteste besorgter Rostocker Bürger/-innen, sondern vielmehr um gewalttätige Übergriffe auch durch angereiste Personen handelt. Gepaart mit den in dem Artikel beschriebenen Opfern wird den Angreifern und Angreiferinnen in diesem Artikel wenig Sympathie zugesprochen.

Vielmehr werden sie als dumpfe Gewalttäter/-innen beschrieben, die ihre blinde Wut nicht nur auf

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