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2 Stand der Forschung und Theorie

2.1 Ereignisgeschichte und Berichterstattung

2.1.4 Der ‚NSU’

1996 schlossen sich Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe dem sog. ‚Thüringer Hei-matschutz’ (‚THS’) an und wurden hierdurch Teil „eines neonazistisch dominierten Dachverbands, der bis zu 170 Mitglieder umfasste“ (Erb 2012, S. 393). Der Soziologe Rainer Erb charakterisiert den ‚THS’ folgendermaßen:

Die Ablehnung von Fremden war im THS ein wesentlicher Bezugspunkt der Vergemeinschaf-tung. Dass dabei zu Methoden außerhalb rechtlicher Bindung gegriffen wurde, führte zu einer ideologischen wie habituellen Radikalisierung. Für viele verschmolzen in dieser Zeit die Schlagworte „Ausländer“, „Fidschis“, „Linke“, „Juden“ zu einem diffusen Feindbild, das leichthin ausgesprochen werden konnte und zu Attacken aufforderte. (Erb 2012, S. 395)

Im Anschluss daran begannen Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe in Jena damit, Briefbombenattrap-pen zu versenden und KofferbombenattrapBriefbombenattrap-pen an öffentlichen Plätzen zu deponieren. Aus diesem Grund gerieten sie schließlich ins Visier der Polizei (Virchow 2014, S. 147). Am 26. Januar 1998 untersuchte die Polizei in Jena zwei von Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe genutzte Garagen. Es wurden Rohrbomben, TNT und Propagandamaterial gefunden. Als unmittelbare Folge der Durch-suchung seien Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe abgetaucht10 und hätten sich von jenem Zeitpunkt an im Untergrund bewegt (Erb 2012, S. 392).

Bei der Garagenuntersuchung wurden auch Adress- und Telefonlisten gefunden, die von den Er-mittlern und Ermittlerinnen jedoch nicht beachtet wurden, obwohl sie genauestens die Kontakte der drei zum deutschen Neonazinetzwerk aufzeigten (Virchow 2014, S. 147). In den Jahren 2000 bis 2007 beging der sog. ‚Nationalsozialistische Untergrund’ (‚NSU’) – so nannten Böhnhardt, Mund-los und Zschäpe ihre Gruppe – insgesamt zehn Morde. Dem ‚NSU’ fielen acht türkischstämmige und ein griechischstämmiger Kleinunternehmer zum Opfer, außerdem wurde eine deutschstämmige Polizistin ermordet (Siri/Schmincke 2013, S. 11). Des Weiteren werden dem ‚NSU’ verschiedene

10 Böhnhardt hatte kurz davorgestanden, eine zweieinhalbjährige Haftstrafe antreten zu müssen, auf Mundlos und Zschäpe wäre eine Ermittlung wegen des Sprengstofffundes zugekommen (Erb 2012, S. 401).

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Bombenattentate zugeschrieben, wobei eine abschließende Klärung der Sachverhalte noch ausstehe (Siri/Schmincke 2013, S. 11). Rainer Erb schildert die immer größere Radikalität und Gewalttätig-keit Böhnhardts, Mundlos’ und Zschäpes folgendermaßen:

Begonnen hat die Karriere von Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe mit antisemitischen Aktionen.

An die Stelle der Judenfeindschaft trat dann wohl eher der Hass auf Türken und den Islam.

Möglicherweise spielte eine Rolle, dass antimuslimische Vorurteile anschlussfähiger an die Mehrheitsgesellschaft sind als antisemitische. Vielleicht aber waren es eher pragmatische Grün-de, wie etwa die, dass Planung und Durchführung von Angriffen auf türkische Gewerbetreiben-de mit einem geringeren Schwierigkeitsgrad durchzuführen waren. (Erb 2012, S. 397)

Die Polizei ermittelte im Zusammenhang mit der Mordserie in die falsche Richtung:

Die Zielgruppe der menschenverachtenden Anschläge hat mehr geahnt als die Polizei. Das apa-biz Berlin machte darauf aufmerksam, dass türkische Zuwanderer bereits vor Jahren die Mord-serie tatsächlich so empfanden, wie sie von den Tätern beabsichtigt war: Angst und Schrecken unter allen Migranten zu verbreiten. (Erb 2012, S. 392 f.)

Ein Grund, weshalb die Polizei jahrzehntelang in die falsche Richtung ermittelte, war auch, dass es keine Bekennerschreiben gab. Die Polizist(inn)en erwarteten dies bei politisch motivierten Taten (Pfeiffer 2013, S. 33). Christian Pfeiffer, ehemaliger niedersächsischer Justizminister (SPD) und ehemaliger Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (KFN), bemerkt rückblickend:

Von diesen Hintergründen wusste ich damals nichts, als ich in der Ermittlungsgruppe mitdisku-tiert habe. Rückblickend bin ich über unsere einseitige Betrachtung schon verwundert, das ge-stehe ich ein. Rückblickend ist es in der Tat schwer verständlich, warum immer nur nach dem vermeintlich Naheliegenden gesucht wurde. Auffallend ist im Rückblick auch das sehr geringe Engagement, mit dem die Polizei ermittelt hat. Bedrückend ist auch das geringe Interesse, das die Journalisten an den Tag gelegt haben; kaum jemand versuchte auch nur, die Ermittlungsar-beit der Länderpolizeien kritisch zu hinterfragen – Die Etikette „Döner Mord“ [sic] war be-quem, denn damit konnte man diese Ungeheuerlichkeit in die Welt einer befremdlichen Min-derheit gleichsam exportieren. (Pfeiffer 2013, S. 33)

Jasmin Siri (2014, S. 131) zufolge genügte den Ermittlern und Ermittlerinnen alleine die Tatsache, dass die Opfer nicht deutscher Abstammung waren, um von sog. ‚Ausländerkriminalität’ auszuge-hen. Die Opfer wurden sowohl von den Ermittlern und Ermittlerinnen als auch von weiten Teilen der Medien nicht als Opfer, sondern als Täter angesehen, die angeblich in Drogenkriminalität oder Schutzgelderpressungen verwickelt sein sollten (Siri 2014, S. 131). Des Weiteren wurden die Taten von vielen Journalist(inn)en als sog. „Döner-Morde“11 bezeichnet (Siri/Schmincke 2013, S. 11).

11 Es gibt bezüglich des Begriffes keine einheitliche Schreibweise. Einige Autor(inn)en schreiben von

„Döner-Morden“, andere von „Dönermorden“. In der vorliegenden Arbeit wird die Schreibweise

‚Dönermorde’ gewählt.

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Der ‚NSU’ finanzierte sich u.a. durch von Böhnhardt und Mundlos begangene Banküberfälle. Am 4. November 2011 überfielen sie eine Bank in Eisenach. Nach ihrer Flucht wurden sie von der Poli-zei in ihrem Wohnwagen umstellt und richteten sich selbst (Siri/Schmincke 2013, S. 11). Beate Zschäpe stellte sich infolgedessen der Polizei. Seit Mai 2013 muss sie sich mit Unterstützern, bzw.

mutmaßlichen Mitgliedern des ‚NSU’ in München vor Gericht verantworten.

Siri (2013, S. 195) merkt zum medialen Diskurs, der sich auf den ‚NSU’ und seine Opfer bezieht, an, dass den Opfern der menschliche Subjektstatus und ihre Zugehörigkeit zur Gesellschaft ge-nommen worden sei: „Die Schilderung von Opferfamilien über den Verlust sozialer und beruflicher Kontakte nach der Ächtung ihrer toten Verwandten als ‚kriminelle Ausländer’ machen deutlich, wie solch eine Auslöschung als Verweigerung der Anrede funktioniert“ (Siri 2013, S. 195). Ein weiteres Beispiel hierfür ist ihr zufolge die Anrede der Opfer als „Döner“, was die Bezeichnung „Dönermor-de“ impliziere (Siri 2013, S. 195). Laut Siri (2013, S. 196) muss man sich aufgrund der Entmensch-lichung und Exklusion der Opfer aus der Gesellschaft durch Teile der Medien die Frage stellen, warum es in vielen Situationen so opportun zu sein scheint, rassistisch zu klassifizieren. Ein Grund dafür sind ihrer Meinung nach soziale Exklusionsmechanismen:

Ob und wie um einen Menschen oder eine Gruppe von Menschen getrauert wird, ob und wie der Verlust von Angehörigen von Menschen, die ermordet worden sind, sozial thematisiert (oder dethematisiert) wird, ist also nicht nur eine Frage des individuellen Schicksals, sondern wird vor allem sozial entschieden. (Siri 2013, S. 196)

Beziehe man dies auf die Frage der sog. ‚Dönermorde’, so komme man zu dem Ergebnis, dass das

„Nicht-Deutsch-Sein“ der Opfer eines der wichtigsten Merkmale für die Selektionskriterien in der medialen Berichterstattung gewesen sei. Hätten die Opfer deutsche Namen getragen, könne man davon ausgehen, dass die Berichterstattung anders ausgesehen hätte (Siri 2013, S. 196). Es entstehe hierbei eine Festlegung, wer ein betrauernswertes Opfer sei und wer nicht:

Einerseits wird durch die Marginalisierung einer Position (bspw. eines mutmaßlich türkischen Menschen als „Döner“) ein Ausschluss aus der Gruppe von Menschen, die einen Namen besit-zen, vollzogen. Andererseits kommen die Betroffenen nur schlecht daran vorbei, auf diese An-rede zu reagieren, auf sie zu antworten: eine Falle, aus der die so Bezeichneten nur aussteigen können, indem sie sich nicht mehr am gesellschaftlichen Diskurs beteiligen. (Siri 2013, S. 197) Ein wichtiger Grund für diese Exklusion – nicht nur aus dem Kreis der Betrauernswerten, sondern aus der Gesamtgesellschaft als solche selbst – sei die Angst vor ‚Fremden’, die vermeintlich das

‚Wir’ bedrohen würden. Man müsse hierbei erkennen, dass das Konstrukt der Eigengruppe stets über den Ausschluss anderer vollzogen werde (Siri 2013, S. 197). Hierbei würden nicht nur

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sche Denkmuster eine Rolle spielen, vielmehr gehe es um Konzepte von ‚Fremdheit’ im Allgemei-nen:

Wenn wir anerkennen, dass die Konstruktion politischer Kollektive stets über Ausschlüsse voll-zogen wird, die die Form von Gewalt annehmen können, sind wir in der Lage zu beobachten, dass auf den ersten Blick sehr unterschiedliche Konzepte von Fremdheit und erwünschter Kol-lektivität, wie die mediale Anrufung von „Dönern“ und „Kopftuchmädchen“, von „Nazi-Ossis“,

„Hartz-IV-Schmarotzern“ und „Islamisten“ miteinander verwoben sind. (Siri 2013, S. 200) Es gehe also zentral um die Frage, wer überhaupt als Teil der Gesellschaft angesehen werden kön-ne. Darauf aufbauend könne man Praktiken der Exklusion in einer sich selbst als aufgeklärt anse-henden Gesellschaft verdeutlichen (Siri 2013, S. 200).

Fabian Virchow, Tanja Thomas und Elke Grittmann haben in ihrer Studie „Das Unwort erklärt die Untat. Die Berichterstattung über die ‚NSU’-Morde – eine Medienkritik“ für die Otto-Brenner-Stiftung (OBS) diskursanalytisch Zeitungsberichte aus deutsch- und türkischsprachigen Zeitungen zur ‚NSU’-Mordserie analysiert. Zusätzlich wurden Interviews mit Journalist(inn)en geführt, in denen der Frage nachgegangen wurde, wie die Berichterstattung zum ‚NSU’ so erfolgen konnte, wie es letztlich geschehen ist (Virchow/Thomas/Grittmann 2015, S. 15). Zur Begrifflichkeit der

‚Dönermorde’, die erstmals im August 2005 von der Nürnberger Zeitung verwendet wurde, merken die Autor(inn)en Folgendes an:

Der Begriff markiert zum einen eine diskriminierende Bezeichnungspraxis vieler Medien, war diese Etikettierung doch nicht nur sachlich unzutreffend, sondern auch stereotypisierend. Zu-gleich steht der Ausdruck als Symbol für eine Berichterstattung, die die politische Dimension der Morde in der übergroßen Mehrheit verkannt oder ignoriert hat. Die Ermordeten waren nach rassistischen Kriterien ausgesucht worden. Sie sind ermordet worden, weil sie rassistisch einge-stellten Täter*innen mit ihrer dauerhaften Aufenthalt signalisierenden Tätigkeit als selbstständi-ge Unternehmer und Familienväter als Bedrohung einer imaginierten „Rasse-Reinheit“ erschie-nen.

Eine Ursache dieser Art von Berichterstattung war blindes journalistisches Vertrauen in Polizei-quellen. Es habe hierbei keine kritische Hinterfragung und „Reflexion der Deutungsmuster von Er-mittlungsbehörden“ stattgefunden (Thomas/Grittmann/Virchow 2015, S. 143). Gemeinsam mit der Polizei hätten Journalist(inn)en über Schutzgelderpressung, Drogenkriminalität, Geldwäsche und Auftragsmorde im Umfeld der Opfer gemutmaßt (Virchow/Thomas/Grittmann 2015, S. 10). In ei-ner auf der OBS-Studie aufbauenden Publikation bemerken die Autor(inn)en weiter:

Polizeiliche Quellen dominierten in Wort und Bild; Deutungen zu den Tathintergründen aus dem Umfeld der Betroffenen wurden nur in Ausnahmefällen aufgerufen und zudem selten als glaubwürdig eingestuft. (Thomas/Grittmann/Virchow 2015, S. 142)

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Somit fand hier eine Täter-Opfer-Umkehr statt, in deren Verlauf die Opfer in einem Umfeld der organisierten Kriminalität verortet wurden (Virchow/Thomas/Grittmann 2015, S. 10). Jedoch gab es eine kurze Phase, in der – auch vonseiten der Ermittler/-innen – ein rassistisches Motiv für die Morde nicht ausgeschlossen wurde. Jedoch wandten sich die meisten Journalist(inn)en gegen diese Möglichkeit:

In der kurzen Phase, in der die Möglichkeit rassistischer Tatmotive aufgrund einer polizeilichen Fallanalyse ernsthafter in den Blick genommen wurde, reichte die journalistische Bearbeitung von Ablehnung („unplausibel“) bis zur Entpolitisierung („Einzeltäter mit negativen Erfahrun-gen, aber keine organisierte Täterstruktur“). Bezüge zu anderen Fällen von Gewalt gegen Mig-rant*innen und damit zu möglichen rassistischen Tathintergründen wurden nicht hergestellt.

(Virchow/Thomas/Grittmann 2015, S. 10)

Expert(inn)en, die einen rassistischen Hintergrund bei den Morden vermuteten, wurden von den meisten Zeitungen in der Regel nicht beachtet (Thomas/Grittmann/Virchow 2015, S. 142). Zusätz-lich zu diesen Versäumnissen sei ein entscheidender Faktor gewesen, dass die Angehörigen der Opfer nur selten eine Stimme durch die Medien erhalten hätten. Vielmehr noch war es so, dass sie nicht als Betroffene, sondern als Teil der (kriminellen) ‚Anderen‘ dargestellt wurden (Virchow/Thomas/Grittmann 2015, S. 11). Die Berichterstattung in diesem Kontext war Virchow, Thomas und Grittmann zufolge „weitgehend durch Zuschreibung von Fremdheit und durch Aus-grenzung gegenüber den Opfern und ihren Angehörigen geprägt. Der Begriff der ‚Dönermorde’ sei dabei lediglich eine besondere Zuspitzung (Virchow/Thomas/Grittmann 2015, S. 11). Basierend auf den Interviews mit Journalist(inn)en, beschreiben die Autor(inn)en des Weiteren, dass die Art der Berichterstattung auch auf strukturelle Mängel innerhalb des Journalismus verweise:

Hierzu gehören insbesondere fehlende Ressourcen für eigenständige Recherchen, fortbestehen-de Distanz zu migrantischem Leben, unzureichenfortbestehen-de Repräsentanz migrantischer Perspektiven in der Berichterstattung sowie ein „Schwarmverhalten“, das – wie am Begriff „DönMorde“ er-kennbar, der als plakative Formulierung vielfach übernommen wurde – zur Verstärkung diskri-minierender Berichterstattung beitragen kann. (Virchow/Thomas/Grittmann 2015, S. 11)

Auf die türkische Presse rekurrierend, wurde beobachtet, dass sie differenzierter über die Opfer berichtete. Persönliche Einstellungen und Privates wurden hier mit in die Berichterstattung aufge-nommen. Die Opfer wurden als Menschen dargestellt und nicht unsichtbar gemacht, wie es teilwei-se in der Berichterstattung deutscher Medien geschehen ist (Virchow/Thomas/Grittmann 2015, S. 36 ff.). Bezüglich der medialen Zuschreibungen der Opfer stellen Virchow, Thomas und Gritt-mann Folgendes fest:

Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass die Repräsentationen der Opfer nur gelegentlich dazu beitrugen, sie als zu betrauernde Mitmenschen zu zeigen. Stattdessen wurden den Opfern und Angehörigen Plätze jenseits der Legalität zugewiesen, sie wurden entlang ihrer

(zuge-39

schriebenen) Nationalität als Nichtdazugehörige definiert. Alternative Darstellungsweisen, die geeignet waren, Leid und Verlust über die je einzelnen Persönlichkeiten in den Vordergrund zu rücken und begreiflich zu machen, sind in der deutschen Presseberichterstattung aber Ausnah-men. Religiöse und politische Einstellungen der Opfer wurden in den deutschsprachigen Medi-en gar nicht, in dMedi-en türkischsprachigMedi-en MediMedi-en in geringem Umfang thematisiert.

(Virchow/Thomas/Grittmann 2015, S. 38 f.)

In den deutschsprachigen Medien ließen sich nur in Einzelfällen Empathiebekundungen mit den Opfern beobachten, die – wenn überhaupt – ein Resultat von Recherchen im Opferumfeld waren (Thomas/Grittmann/Virchow 2015, S. 144). Auch die Tatsache, dass trotz umfangreicher Ermitt-lungen die Täterschaft nicht geklärt werden konnte, wurde von den Medien thematisiert. Der allge-meine Tenor war hierbei, dass Spuren fehlen würden, weshalb sich die Ermittlungsarbeit als schwer erweise. Regelmäßig wurde zudem auf das vermeintliche Fehlen eines Tatmotivs verwiesen (Virchow/Thomas/Grittmann 2015, S. 46). In verschiedenen Zeitungen tauchte außerdem die These der ‚schweigenden Türken’ auf. Diese würden eine Parallelwelt konstruieren, unter sich bleiben und aus Ablehnung oder Angst nicht mit deutschen Ermittlern zusammenarbeiten. Dem (türkischen) Umfeld der Opfer gab man also eine Mitverantwortung dafür, dass die Morde nicht aufgeklärt wer-den konnten (Virchow/Thomas/Grittmann 2015, S. 48 f.):

Die Berichterstattung wurde aufgeladen mit Spekulationen über angebliche „Milieus“ und „Pa-rallelwelten“, in denen eine „Mauer des Schweigens“ nicht nur die polizeiliche Arbeit erschwe-re, sondern auch Ausdruck unzureichender Integration in die Mehrheitsgesellschaft sei.

(Thomas/Grittmann/Virchow 2015, S. 143)

Somit wurden nicht nur die Opfer, sondern auch ihr Umfeld stigmatisiert.

Anna Oelhaf hat sich in einem vom DISS herausgegebenen Artikel mit der Auseinandersetzung der BILD mit Beate Zschäpe in der unmittelbaren Zeit nach dem Bekanntwerden des ‚NSU’ beschäftigt.

Ihr zufolge ist es auffallend, dass Zschäpe hierbei als Mitglied einer Gruppe, jedoch nicht als Indi-viduum diskutiert wurde (Oelhaf 2012, S. 7). Die Berichterstattung über Zschäpe sei widersprüch-lich. Theoretisch werde sie von den Medien für die Taten, die der ‚NSU’ als Kollektiv begangen habe, mit zur Verantwortung gezogen. Auf der anderen Seite werde sie aber nicht als Mörderin, sondern als Mitwisserin und Mitorganisatorin dargestellt, die nicht an der Durchführung der Morde beteiligt gewesen sei (Oelhaf 2012, S. 7). In der Konsequenz werde Zschäpe selten mit Zuschrei-bungen wie „Killer“ oder „Mörder“ versehen. Dies geschehe nur im Kollektiv, so z.B., wenn von den „Killer-Nazis“ die Rede sei. Werde von Zschäpe alleine gesprochen, dann würden vor allem Begriffe wie „Komplizin“ oder „Mitläuferin“ fallen (Oelhaf 2012, S. 8). Nur ein einziges Mal wer-de sie als „Nazi-Terroristin“ bezeichnet, ansonsten werwer-de sie als eine zweitrangige Mitläuferin in-terpretiert (Oelhaf 2012, S. 8). Das Kollektiv ‚NSU’ werde als „brutal“ und „grausam“ bezeichnet,

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Beate Zschäpe alleine – und dies im Gegensatz zu individuellen Berichten über Böhnhardt und Mundlos – jedoch nie (Oelhaf 2012, S. 8). Insgesamt werde Zschäpe durch die Nutzung von Begrif-fen wie „Mitbewohnerin“, „heißer Feger“ und – immer wiederkehrend – „Nazi-Braut“ vor allen Dingen sexualisiert (Oelhaf 2012, S. 8). Somit werde Zschäpe der Status der Sexualpartnerin ‚ech-ter’ Nazis verliehen. Dies zeige sich u. a. auch anhand einer Bildunterschrift, die „Nazi-Braut im Bett mit dem Killer!“ laute (Oelhaf 2012, S. 9). Insgesamt könne man aber per se keine Verharmlo-sung Beate Zschäpes beobachten. Festzustellen sei jedoch eine Ausklammerung der gesellschaftli-chen Mitverantwortung für die ‚NSU’-Morde (Oelhaf 2012, S. 10). Die Frage nach einem Rassis-mus der Mitte werde nicht gestellt. Die BILD stelle das Problem als außerhalb der Gesellschaft ste-hend dar, indem sie Rassismus lediglich auf den Rechtsextremismus projiziere und somit an den rechten Rand der Gesellschaft dränge (Oelhaf 2012, S. 10).

Nach der Darstellung der Ereignisgeschichte und den von anderen Wissenschaftlern und Wissen-schaftlerinnen getätigten Analysen zur Berichterstattung von Verbrechen mit rechtsextremem Hin-tergrund wird im nächsten Kapitel der Frage nachgegangen, inwiefern sich Soziologie und Ge-schichtswissenschaften produktiv in Einklang bringen lassen, um einen Aspekt abzudecken, dem von nur wenigen der hier vorgestellten Arbeiten nachgegangen wurde: die Untersuchung der Be-richterstattung während eines längeren historischen Zeitraums auf Kontinuitäten und Kontinuitäts-brüche.

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