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2 Stand der Forschung und Theorie

2.3 Das Konzept der Erinnerungskultur

2.3.3 Die verschiedenen Phasen der deutschen Erinnerungskultur nach 1945

Die Literaturwissenschaftlerin Aleida Assmann teilt die deutsche Erinnerungsgeschichte in drei Phasen ein. In der „Phase der Vergangenheitspolitik“ von 1945 bis 1957 fand eine entschiedene Abwehr der Erinnerung statt. (Materielle) Wiedergutmachung für die Opfer und Amnesie der Tä-ter/-innen dominierten in dieser Phase den Diskurs. Die darauffolgende von 1958 bis 1984 dauernde Phase wird von Assmann „Phase der Kritik der Vergangenheitsbewältigung“ genannt, während die

„Phase der Erinnerung“ laut Assmann 1985 begann und bis heute andauert (Assmann 1999, S. 143 f.).

Es sei erwähnt, dass hinsichtlich der Periodisierung der Erinnerungsphasen diverse Vorschläge der Einordnung existieren. So schlägt der Historiker Norbert Frei (2009b, S. 89 f.) vor, den Zeitraum von 1945 bis 1949 die „Phase der politischen Säuberung“ zu nennen, der die bis zum Ende der 1950er-Jahre andauernde „Phase der Vergangenheitspolitik“ folgte. Diese wurde ihm zufolge von

15 Er betont aber auch, dass der Rechtsextremismus für ein besseres Verständnis desselben aus der Kontinuität des ‚Dritten Reichs‘ ausgeklammert werden sollte, um bessere Erklärungen für rechts-extreme Einstellungen in der heutigen Zeit zu finden (Schwab-Trapp 1996, S. 8).

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der „Phase der Vergangenheitsbewältigung“ abgelöst, die Ende der 1970er-Jahre wiederum in die

„Phase der Vergangenheitsbewahrung“ mündete (Frei 2009b, S. 89 f.).

Der Historiker Jörn Rüsen hingegen teilt die Erinnerung an das ‚Dritte Reich‘ und den Holocaust erneut in drei Phasen ein. Zunächst gibt es ihm zufolge die noch aktiv am Krieg beteiligte Generati-on. Deren Phase der Erinnerungskultur beginne unmittelbar mit dem Jahr 1945. 1968 sei die Zeit der Nachkriegsgeneration angebrochen, während 1989 die Generation der Nachkommen der Nach-kriegsgeneration folge (Rüsen 2011, S. 244). Sowohl Assmann (1999) als auch Frei (2009b) und Rüsen (2011) haben gute Argumente, um ihre zeitlichen Einordnungen zu begründen. Jedoch ist die exakte Datierung des Beginns einer neuen Phase der Erinnerungskultur auf das Jahr genau für diese Arbeit nicht von erstrangiger Bedeutung, da Erinnerung nicht nur ein generationen-, sondern auch ein phasenübergreifender Prozess ist. Dies bedeutet, dass bei der Berichterstattung zu Rostock-Lichtenhagen auch noch ein Stück der Erinnerungskultur, die zur Zeit des Oktoberfestattentats vor-geherrscht hat, enthalten sein könnte, da die verantwortlichen Mitglieder der damals berichtenden Zeitungsredaktionen zu unterschiedlichen Zeiten sozialisiert worden sein könnten. In der Folge wird auf die zeitliche Einordnung Aleida Assmanns Bezug genommen, da diese ausführlich in anderen wissenschaftlichen Arbeiten vertreten ist und auch Norbert Frei (2009b, S. 89 f.) sich mit seinem Einordnungsvorschlag teilweise an ihr orientiert.

Für die „Phase der Vergangenheitspolitik“ (1945–1957) hat Assmann drei Selbstentlastungsmecha-nismen ausgemacht. Zunächst steht das Schweigen. Assmann weist darauf hin, dass es sich hierbei mitnichten um Verdrängung, sondern es sich beim Schweigen um „eine Kommunikationsbegren-zung, der kein Vergessen zugrunde liegt“ handle (Assmann 1999, S. 140 f.). Der Soziologe Bern-hard Giesen bezeichnet dieses Verhalten als „Koalition des Schweigens“:

Niemand konnte und wollte erklären, wie es dazu kommen konnte. Alle diejenigen, die ihr Le-ben einer Bewegung gewidmet hatten, deren Mitglieder sich jetzt als Komplizen eines im Vo-raus geplanten Massenmordes betrachten mussten, waren kaum in der Lage, ihre beschädigte moralische Identität wiederherzustellen. Das Stigma der Täter war unabweisbar. Man konnte nur stumm bleiben, den Blick abwenden, sich anderen Dingen widmen und hoffen, dass nie-mand die falschen Fragen stellen würde. Eine stumm vereinbarte Koalition des Schweigens über die gemeinsame Schande bildete die erste nationale Identität nach dem Krieg. (Giesen 2004, S. 31)

Es ging hierbei also mitnichten um einen individuellen Akt des Beschweigens. Vielmehr habe sich der Großteil der unmittelbaren Nachkriegsgesellschaft in den Akt des Schweigens eingereiht. Der Historiker Edgar Wolfrum konkretisiert dies noch einmal wie folgt:

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Vom Holocaust war bis zum Ende der 50er Jahre [sic] kaum die Rede, öffentlich schon gar nicht, aber auch die westdeutsche Geschichtswissenschaft forschte nicht bevorzugt über ihn.

Auf der latenten mentalen Ebene lebten bei den Westdeutschen eine ganze Reihe vordemokrati-scher Einstellungen und der Antisemitismus fort. In der westdeutschen Öffentlichkeit herrschte ein Beschweigen des „Dritten Reiches“. Nur Minderheiten wagten zu stören, ansonsten obwal-tete schuldverdrängende Verharmlosung, Vergangenheitsabwehr und Schuldabwälzung. Im Ge-schichtsbild der Zeit erschien der Nationalsozialismus als Ausgeburt des Dämons Masse und ei-nes satanischen Führers, als fast unerklärbarer Einbruch des Irrationalen, als Heimsuchung und Verhängnis, und die Deutschen wähnten sich dementsprechend als Opfer, nicht als Täter.

(Wolfrum 2002, S. 156 f.)

Dieses Schweigen stabilisierte, so Assmann, die deutsche Nachkriegsgesellschaft, verlängerte je-doch auch „die Komplizenschaft der NS-‚Volksgemeinschaft‘ in die neue Demokratie hinein und war der Kitt, der die bundesrepublikanische Gesellschaft in ihrer Gründungsphase zusammenhielt“

(Assmann 1999, S. 141). Zum Beschweigen des NS in der Frühphase der Bundesrepublik merkt Hermann Lübbe zudem an,

[…] daß die gewisse Zurückhaltung in der öffentlichen Thematisierung individueller oder auch institutioneller Nazi-Vergangenheiten, die die Frühgeschichte der Bundesrepublik kennzeichnet, eine Funktion der Bemühung war, zwar nicht diese Vergangenheiten, aber doch ihre Subjekte in den neuen demokratischen Staat zu integrieren. (Lübbe 1989, S. 341)

Als zweiten Mechanismus benennt Assmann ein bereits im Zitat von Wolfrum angedeutetes Opfer-syndrom. Hierbei wurde eine Trennung zwischen den Machthabenden und dem Volk vollzogen.

Die ‚normalen Bürger’ waren nach dieser Lesart Opfer eines totalitären Regimes. Die Schuld von Teilen der Kriegsgeneration wurde somit durch die öffentliche Lesart einer Kollektivunschuld über-lagert. Dies bedeutete im Gegenzug auch, dass die Verfolgten im ‚Dritten Reich‘ längere Zeit nicht als Opfer anerkannt wurden, da man selbst ja auch ein Opfer war (Assmann 1999, S. 141).

Der dritte Entlastungsmechanismus äußerte sich durch einen Antikommunismus. Die Partnerschaft mit den ehemaligen Westalliierten sei für die Bundesrepublik bei ihrer Gründung grundlegend ge-wesen (Assmann 1999, S. 141). Der Antikommunismus wurde zur mehr oder weniger verpflichten-den Staatsideologie der Bundesrepublik. Hierdurch wurde die Gesellschaft zusammengehalten und die Erinnerung an die NS-Zeit außen vor gelassen. Sozialismus und Faschismus wurden als zwei totalitäre Systeme miteinander gleichgestellt. Hierdurch konnte das eigene historische Erbe externa-lisiert werden, indem man es mit dem Totalitarismus von UdSSR, DDR und Warschauer Pakt gleichsetzte (Assmann 1999, S. 142). Ähnlich beschreibt es auch Jörn Rüsen:

Während des Kalten Krieges waren die Anderen jenseits des Eisernen Vorhangs zu identifizie-ren, und die belastende Erfahrung des Nationalsozialismus konnte in die Züge des Feindes, des Kommunismus, hineingeschrieben werden. So war man eben nicht selbst schuld, sondern die Anderen. (Rüsen 2011, S. 250)

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Assmann (1999, S. 142) zufolge haben alle drei genannten Entlastungsmechanismen in der heutigen Zeit ihren Rückhalt und damit auch ihre Deutungshoheit verloren. Zu beachten bleibe jedoch, dass sie lange Zeit im offiziellen Selbstbild der Deutschen verankert gewesen seien. So sieht es auch Rüsen, der betont, dass es bei den verschiedenen Phasen des Erinnerns keine strengen Grenzen ge-be, sondern die Zeiträume einen fließenden Übergang ineinander hätten:

Das heißt also beispielsweise, daß die Beschweigungs-Strategie der ersten Epoche [...] auch spä-terhin, ja bis heute eine Rolle gespielt hat oder zumindest mental wirksam geblieben ist. Das gilt erst recht für die moralische negative Vergegenwärtigung des Holocaust in der zweiten Epoche;

die hier entwickelten mentalen Konstellationen und Kräfte deutscher Identität bleiben auch in der dritten Generation wirksam. (Rüsen 2011, S. 244)

Die von Rüsen angesprochene „negative Vergegenwärtigung des Holocaust“ ist Teil der Phase von 1958 bis 1984, die von Assmann „Phase der Kritik der Vergangenheitsbewältigung“ genannt wird.

In dieser Zeit wurden NS-Täter/-innen konsequenter verfolgt und große Gerichtsprozesse, wie bspw. der Eichmann-Prozess in Jerusalem, fanden statt. Diese Phase ist außerdem durch eine Zu-nahme der Selbstkritik an der Nichtauseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit gekenn-zeichnet, die vor allem durch die 68er-Bewegung geprägt wurde (Assmann 1999, S. 143). Bernhard Giesen zufolge hatte die Generation der Nachkriegsgeborenen einen entscheidenden Einfluss auf den Wandel der deutschen Gesellschaft und ihre Erinnerungskultur:

Diese Generation war nach dem Kriege geboren und verfügte nicht über persönliche Erinnerun-gen aus der NS-Zeit. Sie brach die Koalition des SchweiErinnerun-gens und stellte ihren Eltern jene unan-genehmen Fragen, die bisher den Außenseiter kennzeichneten. Sie wollten die verschwiegene Wahrheit über Schuld und Verstrickung der Älteren wissen und errichteten so die Grenze [...] in der Mitte ihrer eigenen Familien. Das Trauma konnte nun zum ersten Male von einer Außenper-spektive erfasst werden, die das Zeigen des Bösen als Stigma wahrnimmt [Hervorhebung im Original]. Die neue Generation reagierte auf dieses kollektive Stigma der Täterschaft, indem sie die Seite wechselte und sich mit den Opfern identifizierte. (Giesen 2004, S. 38)

Teile der 68er-Generation markierten mehr, als nur eine Auflehnung gegen eine ältere Generation an sich. Vielmehr stellten sie eine ganze Gesellschaft unter den Verdacht, nicht nur die Geschichte, sondern auch die Täter/-innen des Faschismus unsichtbar zu machen Zum ersten Mal wurde den deutschen Verbrechen in der Öffentlichkeit eine Form der Kollektivität zugesprochen (Giesen 2004, S. 38). Hierdurch grenzten sich große Teile einer ganzen Generation von ihrer Elternschaft als Tä-ter/-innen-Generation ab und suchten eine eigene, ‚unbefleckte’ Identität. Dies hatte zwei Aspekte zur Folge. Einerseits wurden die Verbrechen des ‚Dritten Reichs‘ von der neuen Generation auf ihre

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Eltern projiziert. Nicht selten fand eine Distanzierung von denselben statt.16 Andererseits wurde die Verantwortung der entsprechenden älteren Generation nicht auf einige wenige Verführer/-innen und Mächtige verklärt, sondern eine ganze Gesellschaft als mit Schuld behaftet angesehen (Giesen 2004, S. 39). Jörn Rüsen bemerkt zu diesem Vorgang der moralischen Distanzierung Folgendes:

Ihre [die der Nachkriegsgeneration ab 1968] Vorstellung historischer Zugehörigkeit ist im Ver-hältnis zum Holocaust durch zwei widersprüchliche Absichten geprägt: Die eine bringt den Na-tionalsozialismus bewußt in das kollektive Gedächtnis der Deutschen ein und gibt ihm dort eine wichtige Funktion in der Identitätsbildung. Zum ersten Mal bekam er einen Stellenwert in der historischen Perspektive, die im mentalen Feld des deutschen Selbstverständnisses endete. Al-lerdings war es nicht speziell der Holocaust, sondern die Nazizeit insgesamt, die nun eine neue Rolle in der historischen Selbstverständigung der Deutschen spielte. Nazizeit und Holocaust werden zum (negativen) konstitutiven Ereignis, zum Gegenereignis in der Geschichte, die die deutsche Identität konstituiert [Hervorhebung im Original]. Sie wurden durch Absetzung und Abgrenzung von ihnen zum integralen Teil des deutschen Selbstverständnisses. (Rüsen 2011, S. 251)

Grundlage der neuen Form der Erinnerungskultur war eine strenge moralische Kritik seitens der Nachkriegsgeneration, die den Diskurs über das ‚Dritte Reich‘ stark prägte. Der NS wurde „durch bewußte negative Abgrenzung zum konstitutiven Element der eigenen Identität“ (Rüsen 2011, S. 252). So fand eine Identifikation vieler Bürger/-innen mit den Opfern statt, während die Täter/-innen und diejenigen, die die Täter/-Täter/-innen nicht gehindert hatten, die Anderen waren. Die nach und nach immer stärkere Sichtbarmachung des ‚Dritten Reichs‘ veranlasste die neue Generation zu einer Differenzierung. Man stellte sich mental gegen den NS und wollte bewusst anders sein. Dies ver-suchte man auch durch die Beendigung der Strategie des Beschweigens zu erreichen (Rüsen 2011, S. 252 f.). Es muss jedoch auch erwähnt werden, dass in den 1960er-Jahren Hakenkreuzzeichnun-gen im öffentlichen Raum und die Verbrechen mit antisemitischem Hintergrund zunahmen (Wolfrum 2002, S. 157). Als Reaktion hierauf wurde Ende der 1960er-Jahre der Lehrplan an deut-schen Schulen reformiert. Ab Mitte der 1960er-Jahre wurde der NS ausführlicher im Geschichtsun-terricht behandelt. Des Weiteren wurde 1960 Volksverhetzung als Straftatbestand ins bestehende Recht aufgenommen. Auch wurden ehemalige Konzentrationslager und andere Orte des Schreckens zu Gedenkstätten umgewandelt (Wolfrum 2002, S. 157).

Die dritte Phase des Erinnerns beginnt Assmann zufolge 1985 und wird als die „Phase der Erinne-rung“ bezeichnet. Ein offizielles Gedenken in Verbindung mit Symboliken, wie z.B. die der Medien mit ihrer „symbolisch-rituellen Zeichensetzung“, nimmt in dieser Phase signifikant an Bedeutung

16 Hierbei geht es nicht darum, dass die Nachkriegsgeneration durch ihre spätere Geburt in keinerlei Verbrechen verwickelt war, sondern darum, wie gesellschaftlich mit den Verbrechen des ‚Dritten Reichs‘ umgegangen wurde.

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zu (Assmann 1999, S. 143 ff.). Die wohl wichtigste Eigenschaft dieser Phase ist die Verabschie-dung vom Konzept der Vergangenheitsbewältigung. Dies bedeutet das Eingestehen der Tatsache, dass sich die aus dem Holocaust entsprungene Verantwortung nicht einfach so bewältigen lässt.

Vielmehr wurde das Konzept der Vergangenheitsbewältigung vom Streben nach Vergangenheits-bewahrung abgelöst, die den Holocaust als Mahnzeichen versteht (Assmann 1999, S. 146).

Der sog. ‚Historikerstreit’ war ein wichtiger Aspekt beim Übergang in diese neue Phase. Der Streit wurde mitnichten nur von Historikern und Historikerinnen geführt. Vielmehr hätten sich bspw. auch Publizist(inn)en, Philosoph(inn)en und Politolog(inn)en an der Auseinandersetzung beteiligt (Schmid 2010, S. 190). Hintergrund der vor allem 1986/1987 schwelenden Auseinandersetzung war die Diskussion der These des, von vielen der neuen Rechten zugeordneten, Historikers Ernst Nolte, ob die Verbrechen des NS mit den Morden in der stalinistischen Sowjetunion vergleichbar seien oder ob dies, wie die Gegner der These es betonten, eine Relativierung des nazistischen Genozids sei (Schmid 2010, S. 190). Hierauf entbrannte ein scharfer Streit über die Singularität des Holo-caust. Prominente Opponenten der Thesen Noltes waren bspw. Hans Mommsen und Jürgen Haber-mas. Kritisiert wurde vor allem, dass durch den Vergleich des Holocaust mit anderen staatlich ver-anlassten Massenmorden ein Geschichtsrevisionismus betrieben würde (Kailitz 2008, S. 8). Der Streit hatte starke Auswirkungen auf den öffentlichen Diskurs, da „hinter all dem [...] die entschei-dende geschichtspolitische Frage [stand], welches Gewicht und welche Bedeutung die öffentliche Erinnerung an die Verbrechen der NS-Gewaltherrschaft in der Bundesrepublik besitzen sollte“

(Schmid 2010, S. 191). Es soll hier im Folgenden nicht auf die Details des Streits eingegangen wer-den. An dieser Stelle geht es vor allem darum, wie sich das Bewusstsein der Erinnerung gewandelt hat und wie bis zu diesem Zeitpunkt Undenkbares denkbar geworden ist.

Einen ebenfalls nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die deutsche Wahrnehmung des ‚Dritten Reichs‘ hatte die Fernsehserie HOLOCAUST. Gerhard Paul sieht in dem 1979 erschienenen US-amerikanischen Fernsehvierteiler HOLOCAUST eine deutliche Zäsur im deutschen Umgang mit dem Holocaust. In der Serie wird die Geschichte von drei Familien nachgezeichnet. Hierbei wurde so-wohl die Perspektive der Opfer als auch der Täter/-innen dargestellt (Paul 2010, S. 15). Erstmals kam der Massenmord des ‚Dritten Reichs‘ direkt in die deutschen Wohnzimmer. Zuvor war man stets davon ausgegangen, dass der Holocaust als solcher nicht im Fernsehen visualisierbar sei (Paul 2010, S. 16). Die Serie hat sich Paul zufolge ins deutsche Bewusstsein eingegraben. Erstmals sah man hier die Täter/-innen nicht nur bei ihren Taten dargestellt, sondern auch in ihren anderen Le-benswelten. Die Ausstrahlung habe einen starken Einfluss auf den deutschen Diskurs zum ‚Dritten

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Reich‘ gehabt, da Täter/-innen und Opfer des Holocaust in Form der dargestellten Familien erstmals ein wirkliches Gesicht bekommen hätten. Hierdurch stieg die persönliche Betroffenheit über die eigene Geschichte, was eine nachhaltige Beeinflussung der deutschen Erinnerungskultur zur Folge hatte (Paul 2010, S. 17). Dies sei die Folge einer „wechselseitige[n] Stimulierung von Medienent-wicklung und gesellschaftlich-kultureller EntMedienent-wicklung“ (Paul 2010, S. 18). Hierzu zählte eine im-mer weiter zurückgehende Präsenz von Personen, die das ‚Dritte Reich‘ noch selbst erlebt hatten.

Dies wiederum hatte zur Folge, dass die Erinnerung der Vergangenheit zusehends weniger aus indi-viduellen, als aus wissenschaftlich-historischen Blickwinkeln gekennzeichnet war. Hinzu kam die neue Darstellungsweise der Fernsehserie. An Stelle nüchterner Beiträge über das ‚Dritte Reich‘

traten nun emotionale Darstellungen in den Vordergrund (Paul 2010, S. 18). Die Ausstrahlung der Serie hatte somit einen nachhaltigen Effekt:

Zunächst leitete Holocaust eine insgesamt intensivere mediale Repräsentation des Judenmords in Film und Fernsehen ein. Mit dem Vierteiler hatte eine Grenzüberschreitung stattgefunden, da die bisherige Vorstellung, „Auschwitz“ dürfe und könne nicht visualisiert werden, bewusst ver-letzt worden war. [...] Erstmals rückten nun sowohl jüdische Opfer und mit ihnen die bislang eher verschwommen und verschämt dargestellte Tat als auch die Täter und Profiteure im wörtli-chen Sinne ins Bild. All dies brach Dämme. (Paul 2010, S. 20)

Die Folge der Ausstrahlung von HOLOCAUST war also auch eine starke Präsenz der Thematik der Verbrechen im NS in den Medien. Das ‚Dritte Reich‘ sei hierdurch stärker im deutschen medialen und somit auch im alltäglichen Diskurs verankert worden (Paul 2010, S. 20). Was für einen Einfluss eine solche Verankerung in der Erinnerung einer Gesellschaft haben kann, beschreibt Harald Schmid wie folgt:

Die Ausstrahlung von „Holocaust“ hatte Folgen. Sie trug etwa dazu bei, dass der Deutsche Bundestag zwei Monate später in seiner vierten und letzten Debatte um die Verjährung von NS-Verbrechen die Unverjährbarkeit von Mord beschloss. Auch öffentlich und familiär markiert die filmische Konfrontation mit dem Mord an den europäischen Juden einen Einschnitt, nicht zu vergessen die publizistischen und bildungspolitischen Wirkungswellen sowie die hierauf zu-rückgehende Etablierung des Begriffs „Holocaust“ in Deutschland. (Schmid 2010, S. 175) Hermann Lübbe betont zudem, dass den Zuschauern und Zuschauerinnen durch HOLOCAUST an-schaulich vor Augen geführt worden sei, was für eine Rolle Mitläufer/-innen-Karrieren spielen könnten, die auch in der Serie thematisiert wurden:

Mit naheliegendem Opportunismus macht man den Anfang, und alsbald ist man, zur Erhaltung der Selbstachtung, zu glauben gezwungen, wobei man zunächst lediglich mitlief. (Lübbe 1989, S. 349)

Für die heutige Zeit konstatiert Norbert Frei eine Veränderung im Umgang mit dem ‚Dritten Reich’

in der Erinnerung der Deutschen im Vergleich mit den vergangenen Jahren. Dazu gehöre auch, dass

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man die Deutschen gelegentlich als Opfer sehe, so z.B. im Kontext von Bombardierungen deutscher Städte durch alliierte Flugzeuge (Frei 2005, S. 358). Frei zufolge herrscht ein gewisser Wunsch nach der Aussöhnung mit den Vorfahren, sowohl im wissenschaftlichen als auch im literarischen Bereich:

Doch nicht allein in Büchern wird den Mitläufern und Tätern, die zu Opfern wurden, das späte Mitgefühl der Kinder zuteil; die Therapeutenszene kennt augenscheinlich viele Deutsche der

„zweiten Generation“, die als Täter-Kinder nun versuchen, ihre Väter und Mütter zu verstehen.

Die Psychodynamik der Generationenfolge will es, dass sich für die Kinder des Krieges mit dem Verschwinden der letzten aus den Jahrgängen ihrer Eltern die Perspektiven auf die Ver-gangenheit noch einmal deutlich verändern – bis hin zu der Chance, sich selbst und die eigene Kohorte als Opfer zu erkennen: des Bombenkriegs, der Vertreibung, der ererbten Schuldgefüh-le. Die Identifikation mit den Opfern des Holocaust, einstmals Ausdruck einer bewussten Dis-tanzierung von der Elterngeneration, tritt dabei offenbar in den Hintergrund. (Frei 2005, S. 359) Auch Rüsen sieht in den 1980er-Jahren eine neue Art des Erinnerns eingeläutet. Entscheidend hier-für sei „eine Öffnung der deutschen Geschichtskultur auf einen genealogischen Zusammenhang mit den Tätern [Hervorhebung im Original]“ (Rüsen 2011, S. 254). Nachdem die 68er-Generation mehr oder weniger mit ihren Vätern und Müttern gebrochen und sich von ihnen distanziert habe, beginnt ihm zufolge nun eine Wahrnehmung des intergenerationellen Zusammenhangs:

Der wachsende Abstand zum Holocaust im Generationswechsel eröffnet nun die Chance, den mentalen Bruch zu schließen, der die Deutschen von heute von ihren Vätern und Großvätern in der historischen Perspektive ihres Selbstverständnisses trennt. Die Täter des Holocaust waren die Anderen. Aber diese Anderen waren zugleich Deutsche wie diejenigen, die sich mit ihnen im Generationswechsel der deutschen Geschichte nicht (oder nur negativ) ins Benehmen setzen konnten [Hervorhebungen im Original]. Genau dieses Benehmen, diese intergenerationelle Vermittlung scheint nun zu beginnen. (Rüsen 2011, S. 254)

Symptomatisch hierfür sei auch, dass in der heutigen Zeit der Diskurs immer stärker von Begriff-lichkeiten wie „Wir“ und „Verbrechen“ gekennzeichnet sei (Rüsen 2011, S. 256 f.).

Eine wichtige Einflussgröße der heutigen Erinnerungskultur sieht Aleida Assmann außerdem im Wandel hin zu einer multikulturellen Gesellschaft. Sie geht davon aus, dass in einer multikulturel-len Gesellschaft eine andere Form des Erinnerns stattfindet. Häufig werde eine nationale Erinne-rungskultur als Integrationshindernis angesehen. Vielmehr müssten aber (nationalstaatliche) Gren-zen des Erinnerns aufgeweicht und sollte eine gemeinsame Form der Erinnerungskultur gefunden werden (Assmann 2016, S. 123). Im Falle Deutschlands sieht Assmann um die Jahrtausendwende den entscheidenden Umbruch, der neue Herangehensweisen nötig mache:

Bis in die 1990er Jahre hinein war man davon ausgegangen, dass die sogenannten Gastarbeiter nach Auslaufen ihrer Arbeitsverträge wieder in ihre Herkunftsländer zurückkehren würden. Das änderte sich, als 1998 die Regierungskoalition von SPD und Grünen Deutschlands Status als Einwanderungsland bestätigte und das Einbürgerungsrecht reformierte. Damit stellten sich neue

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Fragen an das nationale Selbstbild und seine Geschichte: Sollte das Land mit dieser Umstellung sein nationales Narrativ zugunsten eines neuen pluralistischen Selbstbildes umstellen oder ging es darum, die neuen Immigranten auf das negative nationale Gedächtnis einzustellen? (Assmann 2015, S. 127)

Dies sind letztendlich Herausforderungen, die bis heute noch nicht vollständig geklärt sind.

Es bleibt festzuhalten: Die Art und Weise, in der die Gesellschaft das ‚Dritte Reich‘ und den Holo-caust erinnert, hat Einfluss darauf, wie sich rechtsextreme Einstellungen in Deutschland äußern und folglich auch – was für diese Arbeit von großer Bedeutung ist – wie ihnen gesellschaftlich begegnet wird. Dies gilt auch für die mediale Berichterstattung über Verbrechen mit rechtsextremem Hinter-grund.

Abschließend noch einmal kurz zusammengefasst, lassen sich die verschiedenen, nicht durch starre Grenzen voneinander getrennten Phasen der deutschen Erinnerungskultur nach 1945 wie folgt cha-rakterisieren: Die „Phase der Vergangenheitspolitik“ (1945–1957) war vor allem von einem Be-schweigen (nicht Verdrängen) der NS-Zeit geprägt. Zudem sahen sich viele Deutsche als Opfer einer kleinen Gruppe Mächtiger an, von deren Taten sie nichts gewusst hätten oder von denen sie verführt worden seien. In dieser Phase bildete sich ein dezidierter Antikommunismus als Externali-sierungsstrategie heraus (Assmann 1999, S. 140 ff.).

Die „Phase der Kritik der Vergangenheitsbewältigung“ (1958–1984) war von einem starken Moral-empfinden und der Kritik gegenüber der Generation der Täter/-innen geprägt (Assmann 1999, S. 140 ff.). Die Generation der Nachkriegsgeborenen unternahm in jener Zeit letztlich den Versuch, sich von der Schuld der Generation ihrer Eltern abzugrenzen. Der Holocaust wurde als kollektives Verbrechen der gesamten Gesellschaft zur Zeit des ‚Dritten Reichs‘ angesehen. Die neue Generati-on suchte somit ihre eigene Identität in der Abgrenzung vGenerati-on der NS-Zeit. Die Zeit des Beschwei-gens war vorbei (Assmann 1999, S. 140 ff.).

Die „Phase der Erinnerung“ (1985–heute) ist durch eine quantitative Zunahme des öffentlichen Ge-denkens gekennzeichnet. Wichtig ist auch die Tendenz, sich vom Glauben zu verabschieden, die Vergangenheit bewältigen zu können. Vielmehr gehe es nun um eine Vergangenheitsbewahrung, innerhalb derer der Holocaust als Mahnmal verstanden werde (Assmann 1999, S. 140 ff.). Dennoch nähert man sich in der heutigen Zeit mit differenzierteren Herangehensweisen dem ‚Dritten Reich‘, nicht selten stehen die Täter/-innen und ihre Beweggründe mittlerweile im Mittelpunkt des gesell-schaftlichen Interesses. Die historische Sonderstellung der BRD wird immer häufiger anerkannt.

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Durch den Übergang zu einer multikulturellen Gesellschaft sind laut Assmann in der Zukunft neue Herangehensweisen an die Gedenkkultur vonnöten (Assmann 1999, S. 140 ff.).