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3.2 Erkenntnisse der Praxisstudie

Aufbauend auf der Einschätzung, dass das Ereignis Vergiftung überwiegend bei Hund und Katze zu beobachten ist, die Auswertung von Laborproben und Anfragen an TIZ die Art und Bedeutung von Vergiftungen in der täglichen tierärztlichen Praxis aber nur begrenzt widerspiegelt, wurden Vergiftungsverdachtsfälle in exemplarischen Kleintierpraxen erhoben (Paper 2).

Für diese Studie wurden Praxen ausgewählt, die überwiegend Kleintiere behandeln, und ein breites Behandlungsspektrum anbieten, um aus der Auswertung möglichst allgemeingültige Aussagen ableiten zu können. Zum selben Zweck wurden kleine wie große Praxen in unterschiedlich dicht besiedelten Einzugsgebieten einbezogen.

Da für die retrospektive Untersuchung von Vergiftungsverdachtsfällen die elektronischen Behandlungsdaten aus zwei Kalenderjahren analysiert wurden, konnten nur Praxen mit ausschließlicher Verwaltung der Patientenakten über eine Praxissoftware ausgewählt werden. Diese Tatsache führt zwangsläufig zu einer Selektion der teilnehmenden Praxen. Es ist davon auszugehen, dass Eigenschaften der Tierärzte, die das Praxismanagement beeinflussen auch mit Diagnostik,

Behandlungsansätzen sowie Dokumentation assoziiert sind. Von einer ebensolchen Selektion ist auszugehen, da nur motivierte Kollegen zur Teilnahme an einer solchen Studie bereit sind. So sprechen auch Green et al. 1993 von einem grundsätzlichen

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18 Zielkonflikt zwischen Teilnahmebereitschaft und Repräsentativität, da nur freiwillige Teilnehmer über ausreichend Idealismus und Motivation für eine Studie verfügen.

Selbst mit diesen Voraussetzungen kommt es zu der auch in dieser Studie

beobachteten Mindererfassung trotz erhöhter Aufmerksamkeit. Grund dafür ist die erhebliche und bedauerliche Diskrepanz zwischen Interesse und dem durch enorme Arbeitsbelastung eingeschränkten Vermögen, dies durch Mitarbeit zu realisieren (Umwelthygiene 1996). Dies ist vermeintlich auch der Grund, warum sich keine Praxis auf einen Aufruf zur Teilnahme im Tierärzteblatt 04/2008 meldete, während sich durch einen direkten telefonischen wie persönlichen Kontakt dann doch einige Praxen fanden.

Neben Zeitmangel war einer der Hauptablehnungsgründe von Tierärzten, deren Praxen für die Studie in Frage kamen, die Tatsache, dass sie einem

Außenstehenden Zugang zu ihren Patientenakten gewähren sollten. Obwohl eine anonymisierte Auswertung in Bezug auf Kunden- wie Praxisdaten zugesagt wurde, konnten einige Kollegen keiner Teilnahme zustimmen. Hier besteht für zukünftige Arbeiten die Möglichkeit mit Hilfe von kurzen Meldebögen zur Datenerfassung zu motivieren, ohne Einsicht in die Patientenakten geben zu müssen.

Die retrospektive Auswertung von Patientenakten über einen Zeitraum von zwei Jahren ermöglichte eine, abhängig von der jeweiligen Praxissoftware, fast identische systematische Suche in allen Praxen. Die daraus gewonnenen Daten zu

Vergiftungsverdachtsfällen ergaben ein Abbild der Vergiftungen im Praxisalltag und ermöglichten die Entwicklung der Erhebungsbögen. Vorteil dieser Daten ist, dass sie ohne Beeinflussung durch die Studie und ohne Störung des Praxisalltages zur

Verfügung stehen. Nachteil dieser Sekundärdaten ist, dass sie hauptsächlich zu Abrechnungszwecken erhoben werden, obwohl die Tierärzte bei der Dateneingabe in der Patientenakte auch ihrer Dokumentationspflicht nachkommen müssen. Gerade in größeren Praxen dienen die Einträge zusätzlich der Information mitbehandelnder Kollegen, weshalb diese häufig deutlich ausführlicher sind. Eine weitere

Einschränkung ist hier die nicht standardisierte Eingabe von Freitext, die die Gefahr von Übererfassung durch Fehlklassifikation wie Untererfassung durch nicht erfasste Fälle birgt.

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19 Die einjährige prospektive Erhebung von Vergiftungsverdachtsfällen führte durch den geschilderten Zeitmangel im Praxisalltag vor allem zu einer Erhebung von Fällen mit ausgeprägtem Krankheitsbild. Obwohl schriftlich kommuniziert wurde, dass alle Fälle mit Vergiftungsverdacht erfasst werden sollten, wurden hier fast ausschließlich für den behandelnden Tierarzt eindeutige Vergiftungsereignisse notiert. Zudem war eindeutig ein Vergessen über den Verlauf der Studie zu erkennen, so dass für zukünftige Arbeiten die Bedeutung einer engen Kontaktpflege zu betonen ist.

Untersuchungen in der Tiermedizin in Deutschland, an der mehrere Praxen teilnehmen oder die einen Populationsbezug herstellen, sind wenig veröffentlicht.

Eine solche Studie haben Klinger et al. 2016 mit 5 teilnehmenden Kleintierpraxen aus ganz Deutschland durchgeführt. Hier wurden alle behandelten Fälle über einen bestimmten Zeitraum mittels Erhebungsbögen erfasst und analysiert. Diese diente dazu die Bedeutung unterschiedlicher Erkrankungen in der täglichen Kleintierpraxis zu ermitteln, um Empfehlungen für die entsprechende Aus- und Weiterbildung geben zu können. Dabei wurden ebenfalls anhand der Daten aus Erhebungsbögen neben der Diagnose auch Patientendaten, Diagnosefindung und Therapie ausgewertet.

Die beschriebene Patientenpopulation besteht aus rund 5000 Patienten, wobei in 2 Praxen nur die Patienten von je einer Woche pro Monat über insgesamt 6 Monate und in den übrigen 3 Praxen der komplette Zeitraum erfasst wurden. Der Anteil der Hundepatienten liegt mit 57,6% höher, der an Katzen- (30,0%) und Heimtierpatienten (11,2%) entsprechend etwas niedriger als in dieser Studie (Hund 48%, Katze 36%, Heimtier 16%). Auch in dieser Studie liegt der Anteil der Vergiftungen bei ca. 1%, wobei hier keine Diagnosekriterien dargestellt wurden.

Als Patientenpopulation wurde die Kontaktgruppe der teilnehmenden Praxen, das heißt alle Patienten mit mindestens einem Besuch im betrachteten Kalenderjahr betrachtet. Diese diente dazu die Erkrankungen in Relation zur Gesamtheit der Patienten zu setzen. Die Kontaktgruppe dient als Schätzer der Population mit Arztkontakt. Dabei ist jedoch zu bedenken, dass einige Tiere trotz Erkrankung und potenziellem Arztbesuch dieser Erfassung entgehen, da sie vorher sterben, der Besitzer die Erkrankung als nicht behandlungswürdig einstuft, diese selbst versorgt oder sich aus finanziellen Aspekten gegen eine Behandlung entscheidet.

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20 Die in beiden Studien jeweils ermittelte Patientenpopulation ist ein guter Schätzer der für Tierärzte interessanten Gruppe an Tieren, deren Wohl und Erkrankungen sie zu betrachten haben, während die zugrundeliegende komplexere Bezugsgröße der Gesamtpopulation an Hunden, Katzen und Heimtieren kaum zu ermitteln und durch die Nullgruppe (Streuner, Tierbesitzer ohne Tierarztkontakt) für Tierärzte auch weniger interessant ist.

Außerdem werden in Deutschland derzeit vereinzelt Studien durchgeführt, um einen Bezug zwischen der Gesundheit von Haustieren und den mit ihnen

zusammenlebenden Menschen herzustellen und Risiken für die menschliche Gesundheit abzuschätzen (mehrere Veröffentlichungen zu einer MRSA-Studie bei Hund, Katze & Pferd im Rahmen von OneHealth, unter anderem Vincze et al. 2014).

Dies stellt sich in der Humanmedizin vollkommen anders dar. Hier werden im Rahmen der sogenannten Versorgungsforschung sowohl Daten aus nationalen wie lokalen Registern als auch Daten aus der klinischen und ambulanten Versorgung systematisch zu wissenschaftlichen Zwecken genutzt (Swart et al. 2014). Studien zur Erfassung und Auswertung multizentrischer Patientendaten gibt es in der

Humanmedizin beispielsweise zu definierten Krankheiten wie Asthma / COPD

(Kanniess et al. 2019) und Rheuma (Richter et al. 2019). Ziel ist dort die Entwicklung und Erfolgskontrolle neuerer Behandlungsstrategien bei diesen multifaktoriellen Erkrankungsbildern anhand von digitalen Patientendaten, die im Rahmen der gesetzlich vorgeschriebenen Dokumentation nicht erfasst werden. Darüber hinaus werden verschiedene Studien durchgeführt, die die systematische Erfassung von Symptomen der Patienten großer medizinischer Versorgungszentren zusätzlich zu den Routinedaten testen. Diese sind darauf ausgerichtet häufige Vorstellungsgründe und deren zugrundeliegende Krankheitsbilder zu ermitteln bzw. das Bewusstsein hierfür zu prüfen, um die Versorgung der Patienten zu optimieren. Beispiele dazu sind die Studien zu Vorstellungsgründen in der Notaufnahme (Greiner et al. 2018) Schmerz (Schiek et al. 2016) oder Atemnot (Simon et al. 2017).

Die hier behandelte Fragestellung der Vergiftung lässt sich in diesem Sinn beiden Komplexen, d.h. sowohl der Erkrankung wie auch der Erhebung von Befunden

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21 zuordnen, so dass im Studiendesign die Fragestellung nach dem Verdacht der Vergiftung gegen zugrundeliegende Symptomenbilder abzugrenzen ist.