• Keine Ergebnisse gefunden

Einflussfaktoren auf den Hilfesuchprozess

Im Dokument Zurich Open Repository and Archive (Seite 51-56)

6. Forschungsstand zur Hilfesuche

6.2. Einflussfaktoren auf den Hilfesuchprozess

Auf der Basis des definitorischen Merkmals der Hilfesuche, dass diese eine Interaktion mit anderen Menschen erfordert (vgl. Kapitel 5.1), kann der Prozess der Hilfesuche durch verschie-dene Faktoren beeinflusst werden. Diese lassen sich grob in personen- und kontextbezogene Einflussfaktoren unterteilen. Während personenbezogene Grössen intraindividuell zu verorten sind, beziehen sich kontextbezogene Einflussgrössen auf das Umfeld eines Individuums. Letz-tere wiederum können des WeiLetz-teren in Einflussgrössen innerhalb oder ausserhalb des Klassen-zimmerkontextes gegliedert werden. Entlang dieser Unterscheidung stellen die folgenden drei Kapitel die bisherigen Befunde zur Hilfesuche dar.

6.2.1. Personenbezogene Einflussfaktoren auf den Hilfesuchprozess im Klassen-zimmer

Unterschiedliche personenbezogene Faktoren können den Hilfesuchprozess von Lernenden im Kontext des Klassenzimmers beeinflussen. Einer dieser Einflussfaktoren bildet das Geschlecht.

In einer Untersuchung von Nadler (1998) zeigte sich, dass Mädchen generell eher Hilfe in An-spruch nehmen als Jungen, auch wenn diese in der Lage wären, die Herausforderung ohne Hilfe zu überwinden. Demgegenüber neigen Jungen laut Ryan et al. (2001) eher dazu, die Hilfesuche gänzlich zu vermeiden. Diese Unterschiede können jedoch nach Fach oder auch Organisations-form variieren. In Mathematik sind Mädchen eher darum besorgt, durch die Lehrperson als

45 inkompetent wahrgenommen zu werden als die Jungen (Schworm & Fischer, 2006). Demge-genüber erbitten Mädchen im Fach Mathematik eher in Kleingruppen als im Plenum Hilfe (Newman & Gauvain, 1996). Für den Leseunterricht liessen sich diesbezüglich keine Unter-schiede feststellen (Newman & Goldin, 1990). Mädchen suchen des Weiteren eher als Jungen soziale Unterstützung bei Freunden, wenn sie mit schulischen Problemen konfrontiert sind (Al-termatt, 2007). Mädchen sind ausserdem eher als Jungen bereit, instrumentelle Hilfe (u. a. bei der Lehrperson) zu suchen, und Jungen ziehen es vor, direkt die richtigen Antworten zu erhal-ten, ohne dabei ihren Bedarf an Hilfe kenntlich zu machen (Butler, 1998; Marchand & Skinner, 2007b; Roussel et al., 2011; Ryan et al., 1998b; Ryan et al., 2005). Gemäss der Studie von Altermatt, Pomerantz, Ruble, Frey und Greulich (2002) erhalten Mädchen zudem eher als Jun-gen Hilfe von GleichaltriJun-gen, wenn sie diese aktiv darum bitten.

Weiter übt laut unterschiedlichen Untersuchungen das Alter einen Einfluss auf das Hilfesuch-verhalten von Lernenden aus. Dabei konnte gezeigt werden, dass ältere Schüler/-innen im Ver-gleich zu jüngeren über ausgeprägtere metakognitive Fähigkeiten verfügen (Ryan & Pintrich, 1998a) und damit die Fähigkeit, Ressourcen effektiv zu nutzen, stärker ausgeprägt ist. Die Ler-nenden sind folglich mit zunehmendem Alter besser in der Lage, ihren Lernprozess zu überwa-chen, Wissenslücken wahrzunehmen und damit abzuschätzen, ob, wann und welche Hilfe be-nötigt wird (Nelson-Le Gall, 1981, 1985; Newman, 1994). Auch die Einstellung der Lernenden gegenüber der Hilfesuche wird mit zunehmendem Alter positiver und die Kriterien für die Aus-wahl von Hilfe gebenden Personen werden vielschichtiger (Schworm & Fischer, 2006), wobei Vertrauen gegenüber der helfenden Person eine zunehmend wichtige Rolle bei der Hilfesuche spielt (Newman, 2002). Je älter die Lernenden werden, desto weniger wird jedoch insgesamt Hilfe gesucht und zudem weniger bei Gleichaltrigen, wobei diese Hilfeanfragen eher exekutiver Natur (z. B. Hausaufgaben abschreiben, vgl. Kapitel 5.1) sind (Ryan & Shim, 2012).

Einen weiteren Einflussfaktor auf die Hilfesuche bildet die Fähigkeit zum selbstregulierten Ler-nen (Almeda et al., 2017; PuustiLer-nen, Bernicot & Bert-Erboul, 2011). Die Hilfesuche ist stark mit dem selbstregulierten Lernen verbunden (Newman, 1998), da sich, wie unter Kapitel 5.2.3 aufgeführt, differente Stationen der Hilfesuche metakognitiven und selbstregulierenden Fähig-keiten zuordnen lassen (vgl. Tabelle 1). Es wird angenommen, dass das Hilfesuchverhalten von Lernenden auf ihren metakognitiven und domänenspezifischen Fähigkeiten und Kenntnissen basiert (Newman, 1994, 1998), da die erfolgreiche Hilfesuche u. a. ein Abschätzen der Aufga-benschwierigkeit unter Berücksichtigung der eigenen Kompetenzen beinhaltet (Aleven et al.,

46 2003; Puustinen, 1998). Karabenick und Knapp (1988b) untersuchten den Zusammenhang zwi-schen dem Einsatz von Lernstrategien sowie der Hilfesuche. Sie konnten im Rahmen ihrer Stu-die zeigen, dass Schüler/-innen, Stu-die eine Vielzahl an Lernstrategien anwenden, eher nach der benötigten Hilfe suchen als solche mit einer niedrigeren Spannbreite an Lernstrategieanwen-dung. Demgegenüber zeigten sie für Lernende, die weniger Strategien anwenden, einen höhe-ren Bedarf an akademischer Unterstützung, der mit einer geringehöhe-ren Tendenz zur benötigten Hilfesuche verbunden war. Somit können das Wissen und Können der Lernenden hinsichtlich unterschiedlicher Selbstregulationsstrategien den Hilfesuchprozess beeinflussen.

Zu den genannten eigenen Kompetenzen zählt u. a. auch das Vorwissen (kognitiver Faktor), das einen weiteren wichtigen personenbezogenen Einflussfaktor auf das Hilfesuchverhalten dar-stellt (Almeda et al., 2017). Wird Lernen aus einer aktiven, konstruktivistischen Perspektive betrachtet (vgl. Kapitel 2.1), also als Prozess, bei dem neue Informationen in bereits bestehende Wissensstrukturen integriert und ihnen Bedeutungen zugeschrieben werden, erweist sich, dass ausgeprägtere Vorkenntnisse eine bessere Grundlage für die Interpretation von neuem Material zum einen und für das Erkennen von Inkohärenzen zum anderen bieten (u. a. Kintsch, 1988, 1998). Eine Untersuchung von Puustinen (1998) konnte aufzeigen, dass vor allem Schüler/-innen mit einem geringen Vorwissen den eigenen Hilfebedarf am schlechtesten einschätzen konnten (Puustinen, 1998). Weiter erwiesen sich diese Lernenden als weniger effektiv Hilfe Suchende, da sie keine Hilfe suchten, obwohl sie laut objektiven Messungen darauf angewiesen gewesen wären. Zudem konnte diese Untersuchung darlegen, dass, wenn die Lernenden Hilfe aufsuchten, ihre Fragen auf die Bestätigung ihrer Antworten und nicht auf ein Verständnis der Problemlösung ausgerichtet waren. Demgegenüber kann sich jedoch auch ein grosses Vorwis-sen negativ auf den Lernerfolg auswirken, indem der Bedarf an Hilfe durch ein nur vermeintli-ches Verständnis des Lernmaterials unterschätzt wird (Scardamalia & Bereiter, 1992).

Neben kognitiven Faktoren spielen überdies motivationale Faktoren eine wesentliche Rolle im Hilfesuchprozess, wie unter anderem motivationale Zielorientierungen, die allgemeine Selbst-wirksamkeit oder die wahrgenommene soziale Kompetenz. Die motivationale Zielorientierung lässt sich grob in Lern- und Leistungsziele unterteilen (für eine detailliertere Beschreibung siehe Kapitel 9.2.3.1). Unterschiedliche Untersuchungen konnten einen Zusammenhang zwi-schen diesen motivationalen Zielorientierungen und der Hilfesuche aufzeigen (Butler, 2007;

Ryan & Pintrich, 1997; Ryan et al., 2001). Lernende, die eine Leistungszielorientierung auf-weisen und somit danach streben, Kompetenz aufzuzeigen, vermeiden es oft, Hilfe zu suchen (Elliot & Church, 1997). Der Grund dafür liegt in der Befürchtung, als inkompetent betrachtet

47 zu werden (Nelson-Le Gall, 1981; Ryan et al., 2001). Ein weiterer Grund, weshalb Schüler/-innen mit Leistungszielorientierungen eine Hilfesuche vermeiden, ist die Sorge, dass sie nach der Bitte um Hilfe weniger Anerkennung für eine korrekte Antwort erhalten (Almeda et al., 2017). Ausserdem zeigte Butler (2007), dass Lernende mit Arbeitsvermeidungszielen oft und sofort bei Auftreten einer Herausforderung Hilfe suchten, um Anstrengung zu vermeiden. Ryan und Pintrich (1997) gelang es zudem, darzulegen, dass Lernende mit Lernzielorientierungen eher um Hilfe bitten als Lernende mit Leistungszielorientierungen.

In ähnlicher Weise wie die motivationalen Zielorientierungen kann auch das Selbstkonzept Ein-fluss auf das Hilfesuchverhalten ausüben. Ein eher tiefes Selbstkonzept kann dazu führen, dass das Angewiesen-Sein auf Hilfe durch die Lernenden als bedrohlich empfunden wird, da sie befürchten, dass andere Personen eine Hilfeanfrage als Zeichen für Inkompetenz deuten könn-ten, was wiederum zu vermindertem Hilfesuchen führt (Karabenick, 2003; Karabenick &

Knapp, 1991; Ryan & Pintrich, 1997). Demgegenüber kann auch ein stark positives Selbstkon-zept (vor allem bei performanzorientierten Leistungszielen) zur Hilfevermeidung führen, da eine Hilfeanfrage in diesem Zusammenhang impliziert, dass die als hoch bewerteten eigenen Fähigkeiten nicht genügen, um die Herausforderung zu meistern (Heckhausen & Heckhausen, 2010). Auch die wahrgenommene eigene soziale Kompetenz kann einen Einfluss auf die Hilfe-suche Lernender nehmen. Ryan und Pintrich (1997) konnten in ihrer Studie zeigen, dass Ler-nende, die sich selbst als sozial kompetent wahrnahmen, sich durch die anstehende Hilfesuche weniger bedroht fühlten und daher eher Hilfe suchten. Damit scheinen nicht nur die Selbstwirk-samkeit sowie motivationale Zielorientierungen, sondern auch die Wahrnehmung der eigenen sozialen Kompetenz von Bedeutung zu sein.

Das Hilfesuchverhalten wird nicht nur durch personenbezogene Faktoren, sondern ebenfalls durch den Kontext beeinflusst, in dem die Hilfesuche stattfindet. Einflussfaktoren auf den Hil-fesuchprozess werden im nächsten Abschnitt einerseits innerhalb (Kapitel 6.2.2), andererseits ausserhalb des Klassenzimmerkontextes (Kapitel 6.2.3) dargestellt.

6.2.2. Kontextbezogene Einflussfaktoren auf den Hilfesuchprozess im Klassen-zimmer

Dieser Abschnitt befasst sich mit Einflussfaktoren auf die Hilfesuche im Kontext des Klassen-zimmers. Dabei können zum einen im Klassenzimmer vorherrschende Regeln und Normen

so-48 wie das Klassenzimmerklima, zum anderen die Akteure innerhalb dieses Kontextes (Lehrper-sonen, Klassenkameradinnen/-kameraden), einen Einfluss auf das Hilfesuchverhalten der Schü-ler/-innen ausüben.

Regeln und Normen, die von Lehrpersonen im Unterricht gesetzt werden, können die Möglich-keiten für Lernende, Hilfe zu suchen, vergrössern oder verringern. Karabenick und Sharma (1994) konnten aufzeigen, dass das Ausmass an Unterstützung, welche die Lehrperson in der Klasse leistete, einen Zusammenhang mit dem Fragenstellen der Lernenden aufwies. In dem von den Autoren untersuchten Modell beinhaltete die Unterstützung der Lehrperson u. a. die Möglichkeit, Fragen zu stellen (mit Banknachbarn sprechen vs. Stillarbeit), oder auch spezifi-sche Anweisungen für den Zeitpunkt des Fragenstellens für die Lernenden (z. B. Fragen stellen nach dem Unterricht oder während Übungsphasen). Die Wahrnehmung solcher Regeln und Normen durch die Lernenden beeinflusste den Zeitpunkt sowie die Art und Weise, mit der Hilfe gesucht wurde. Fehlte folglich die Möglichkeit, den erkannten Bedarf an Hilfe zu decken, so blieb die Hilfesuche durch die Lernenden aus (Ryan et al., 2001; Schworm & Fischer, 2006).

Damit einhergehend nimmt auch die Wahrnehmung des Klassenzimmerklimas durch die Ler-nenden als lern- oder leistungsorientiert einen Einfluss darauf, ob die Schüler/-innen Hilfe su-chen oder nicht (Butler & Neuman, 1995; Ryan & Pintrich, 1997). Dabei wird eher Hilfe ge-sucht, wenn das Klassenzimmerklima als lernorientiert wahrgenommen wird. Dies liess sich u. a. in einer Untersuchung von Ryan et al. (1998b) nachweisen. Als mögliche Gründe für eine Hilfesuchvermeidung konnten Ryan et al. (2001) das Fehlen kompetenter verfügbarer Helfen-der, die zudem zu helfen gewillt sind, oder den Zeitaufwand einer Hilfesuche identifizieren.

Ein besonderes Merkmal des Klassenzimmers, das mit der Bereitschaft der Schüler/-innen zu-sammenhängt, sich von Lehrpersonen und Klassenkameradinnen/-kameraden unterstützen zu lassen, sind Strukturen, die das autonome Lernen unterstützen (Newman, 2000). Unterstützung, Fairness, Respekt sowie Fürsorge der Lehrperson können einen Einfluss darauf ausüben, ob Schüler/-innen sich für oder gegen die Hilfesuche entscheiden (Ryan & Shim, 2012). Bezie-hungen zwischen Lehrpersonen und Lernenden erweisen sich typischerweise als asymmetrisch (McCaslin & Good, 1996). Das Vertrauensgefühl spielt demnach eine essenzielle Rolle in Hil-fesuchprozessen (Newman, 2000).

Eine weitere Akteursgruppe, die im Klassenzimmerkontext von Bedeutung ist, sind die Klas-senkameradinnen/-kameraden. Eine Studie, die sich intensiv mit der Hilfesuche bei Klassenka-meradinnen/-kameraden befasste und dabei auch das Klassenzimmerklima einbezog, stammt

49 von Shim, Kiefer und Wang (2013). Die Ergebnisse dieser Untersuchung stützen bisherige For-schungsergebnisse (Ryan et al., 1998b; Turner et al., 2002), die aufzeigten, dass Lernende eher nicht Hilfe bei Gleichaltrigen in einem Klassenzimmer suchen, das eine Leistungsorientierung aufweist, eher aber in einem Klassenzimmer mit einer Lernorientierung.

6.2.3. Kontextbezogene Einflussfaktoren auf den Hilfesuchprozess ausserhalb des Klassenzimmers

Ausserhalb des Klassenzimmers und der Institution Schule lassen sich weitere Einflussfaktoren auf das Hilfesuchverhalten von Lernenden identifizieren. Einen dieser Faktoren bilden die El-tern der Lernenden (vgl. Kapitel 2.2, Kapitel 3.2 und Kapitel 5.2). In einem sich kümmernden und unterstützenden Eltern-Kind-Verhältnis entwickeln Kinder leichter positive innere Reprä-sentationen hinsichtlich Respekt und Hilfsbereitschaft. Dementsprechend gestalten sich auch die Erwartungen im Kontext eigener Hilfesuchprozesse (Newman, 2000). Die Erfahrungen aus dem Elternhaus können folglich das Hilfesuchverhalten Lernender im schulischen Kontext be-einflussen. Insbesondere die Einbeziehung durch die Eltern, die Unterstützung der Autonomie der Lernenden sowie die Förderung von deren Kompetenzentwicklung haben gezeigt, dass diese Faktoren die motivationale Orientierung der Lernenden beeinflussen und ihrerseits mit Selbstregulationskompetenzen und damit der Hilfesuche verbunden sind (Grolnick, Kurowski

& Gurland, 1999; Grolnick & Ryan, 1989; Grolnick, Ryan & Deci, 1991). Untersuchungen konnten weiter aufzeigen, dass der zu Hause geführte Diskurs mit der Hilfesuche der Lernenden im schulischen Kontext zusammenhängt. In welcher Art und Weise die Eltern mit ihren Kin-dern sprechen, ihnen Fragen stellen und mit ihnen zusammenarbeiten, dient den Lernenden folglich als Modell für den Umgang mit Herausforderungen und Schwierigkeiten im späteren Kontext der Schule (Wertsch, 1979, 1985).

Im Dokument Zurich Open Repository and Archive (Seite 51-56)