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Es war die Chance unserer Generation – und Blair hat sie vergeigt.

Unsere Hoffnung muss in der neuen Generation liegen.

Robert Harris, Autor, in einer BBC-Dokumentation zu Tony Blairs Erbe.

Vor elf Jahren, im April 1999, veröffentlichten Gerhard Schröder und Anthony Blair ihre gemeinsame Erklärung über einen dritten Weg für die Sozialdemokra-tie. Sie legten eine Strategie für eine neue Ära sozialdemokratischen Regierens in Europa nieder, in der sie das Links-Rechts-Gefälle in Politik und Gesellschaft des Westens für erledigt erklärten. Die geistigen Vorboten dieser Neuen Sozialdemo-kratie vertraten die These, der kapitalistische Charakter der abendländischen Ge-sellschaft habe sich in eine »post-scarcity-Wirtschaft« – eine Wirtschaft jenseits des Mangels – verwandelt, der Politik bleibe also lediglich die Aufgabe, die »ge-sellschaftliche Modernisierung« bzw. die »Lebenspolitik« zu verwalten, oder, laut Giddens, »politische Fragen, die sich aus Selbstverwirklichungsvorgängen in post-traditionellen Zusammenhängen ergeben«1. Angespornt von diesen vielen »post-«s, schrieben sich die Labour-Regierungen von Tony Blair und Gordon Brown als er-ste und einflussreicher-ste europäische Regierung auf die Fahnen, diesen Ideen zu folgen.2Ihr Niedergang, vollendet durch die Wahlniederlage am 6. Mai 2010, ist daher nicht nur für Großbritannien von Bedeutung, sondern ebenso für die ange-schlagenen (neu-) sozialdemokratischen Parteien in ganz Europa.

Doch auch die britische Linke, innerhalb wie außerhalb der Labour-Partei, wird sich auf die unmittelbaren Folgen dieser Änderung einstellen müssen. Was man auch immer über den Charakter von New Labouran der Regierung denkt, alle politischen Beobachter stimmen überein, dass der spektakuläre Einbruch der Labour-Partei in den Umfragen in den letzten zwei Jahren unter Premierminister Gordon Brown viel tiefere Ursachen hat als bloß eine flüchtige Abneigung für

ei-1 Anthony Giddens: Modernity and Self-Identity. Self and Society in the Late Modern Age, Cambridge ei-199ei-1.

2 Akademiker, die eine kritischere Haltung zur Rhetorik des »dritten Weges« vertreten, sehen das anders: Für sie beruht die politische Agenda New Labours von Anfang an auf Klasseninteresse: Für Stuart Hall ist der Zweck des New-Labour-Projekts die »Umwandlung der Sozialdemokratie in eine besondere Variante des marktwirt-schaftlichen Liberalismus«. Nach Meinung von Devine, Prior und Purdy hat der Thatcherismus bis 1990 »noch nicht vollständig einen neuen und stabilen historischen Block in Großbritannien für die globalen neoliberalen Prinzipien und Politiken« hinter sich versammeln können. Dies sei der historische Auftrag New Labours gewor-den. Gesellschaftspolitisch habe »New Labour […] sich vorgenommen, den ›Wirtschaftsstaat‹ in jeden Aspekt unseres Lebens hineinzutragen«; zitiert nach: Feel-Bad Britain, Red Pepper 2009.

nen ungelenken Parteivorsitzenden. Wie gezeigt werden wird, war dieser Ein-bruch das Resultat einer gemeinsamen Legitimitätskrise sowohl des traditionellen britischen Modells der kapitalistischen Wirtschaft als auch des althergebrachten Systems politischer Repräsentation unter New Labour.

Nach dieser Wahl bleibt die langfristige Frage für die britische Linke: Kann sie New LaboursNiederlage in einen Sieg für sich ummünzen? Wie dargelegt werden wird, liefert die gegenwärtige politische Lage die Chance für einen Neuanfang für die britische Linke. Zurzeit hat die Partei der Europäischen Linken (EL) keinen offiziellen britischen Partner, doch dieser Neuanfang könnte mittelfristig eine neue organisatorische Konstellation, eine Neuaufstellung der Linken im briti-schen Parteiensystem hervorbringen – und auch ihre bisherige Isolierung von der europäischen Linken überwinden.

In diesem Beitrag werden zunächst die Gruppierungen der Linken in Großbri-tannien nach zwei Gesichtspunkten betrachtet: erstens unter dem Aspekt ihrer in-tellektuellen und organisatorischen Kapazitäten, und zweitens unter dem Aspekt, inwieweit sie dazu beizutragen könnten, eine Agenda der sozialen Gerechtigkeit in der britischen Gesellschaft voranzubringen und auch einen neuen Anfang in der Organisierung der britischen Linken zu bewirken. Hierbei werden wir uns auf die Darstellung derjenigen politischen Akteure konzentrieren, die Wahlen als wichti-ges Mittel für politische Änderungen akzeptieren. Zunächst gilt es aber, drei be-stimmende Zusammenhänge zu analysieren, die die politisch-gesellschaftliche Si-tuation vor den Wahlen im Mai 2010 dominierten.

Wer räumt die Scherben weg? Großbritannien am Ende von New Labour Trotz der zahlreichen Fälle, in denen die Labour-Regierung sich in den vergange-nen 13 Jahren über die Interessen der Mehrheit der Bevölkerung Großbritanniens hinwegsetzte, hat sie über die immer wieder laut verkündete Schutzbehauptung des New-Labour-Establishments »Es gibt keine Alternative!« jeden konstruktiven Versuch im Keim ersticken können, die britische Politik progressiv umzugestal-ten. Die Niederlage Laboursim Mai 2010 zeigt aber den Bankrott dieses apoliti-schen Neutralismus. Sie wurde von drei parallelen gesellschaftlichen Dilemmata verursacht, die die Partei nicht willens – oder fähig – war aufzulösen:

Erstens – und vor allem – manifestierte sich der Widerwillen seitens der Regie-rung, das Großkapital zu zügeln,insbesondere bezüglich des Haushaltsdefizits und des Bankenrettungsplans. Heute ist keineswegs sicher, ob bzw. wie viel der auf etwa 850 Milliarden Pfund, also 1 Billion Euro,3summierten Darlehen die Banken werden an den Steuerzahler zurückzahlen müssen, denn die Regierung Brown hat Übernahmen vermieden und investierte stattdessen in Aktien dieser

3 Zahl nach AP, 4. Dezember 2009.

Banken. Brown sabotierte auch die Bemühungen, strengere Finanzregelungen einzuführen.4Statt die Rückzahlung der öffentlichen Ausgaben für die Banken zu sichern, indem Transfers oder Gewinne besteuert werden, hatte Schatzkanzler Ali-stair Darling im November 2009 das ehrgeizige Ziel angekündigt, das jährliche Haushaltsdefizit Großbritanniens, das gegenwärtig bei 176 Milliarden Pfund liegt, in den nächsten fünf Jahren hauptsächlich durch Senkungen von Ausgaben zu hal-bieren. Das zeigt: Nach einem kurzen keynesianischen Flirt hatte Brown offen-sichtlich beschlossen, ohne Rücksicht auf Verluste (fiskalische wie wahlpoliti-sche) jedes Vorgehen gegen das Finanzkapital auszuschließen.

Zweitens ist die soziale Ungleichheit unter New Labour enorm angewachsen.

Die New Labour-Agenda hat es, trotz einiger punktueller Verbesserungen bezüg-lich der Arbeitsplätze für Jugendbezüg-liche,5nicht geschafft, die soziale Spaltung in der britischen Gesellschaft zu schließen oder auch nur zu verringern:6Gab es eine Umverteilung von Reichtum, so fand sie im Wesentlichen innerhalb der unteren Hälfte der Bevölkerung statt – und auch dies nur mit den Brosamen, die vom Tisch eines zeitweise komfortablen Wirtschaftswachstums fielen. Die soziale Mobilität ging zurück.7Und trotz der Tatsache, dass sich Großbritannien des fünftniedrig-sten Mindestlohns in Westeuropa »rühmen« kann,8schlägt die Rezession inzwi-schen auf die »Realwirtschaft« durch, wodurch Massenarbeitslosigkeit wieder ein Thema wird.9Die öffentlichen Dienste, insbesondere der Nationale Gesundheits-dienst NHS, bleiben unterfinanziert: In den Supermärkten gibt es inzwischen

»Heimwerkzeugkästen« für Zahnreparaturen zu kaufen für die, die sich keinen Zahnarzt mehr leisten können. Privatfinanzierte Initiativen (PFIs) schießen ins Kraut, wodurch Privatanleger z. B. Einfluss auf die Lehrpläne der Schulen erhal-ten, die sie fördern. Schließlich wird es auch bei der Verfügbarkeit von sozialem Wohnraum eng, da die Hauspreise schnell wieder gestiegen sind: 1,8 Millionen Personen stehen in England auf den Wartelisten, fast 80 000 Familien galten 2008 als obdachlos.10Durch diese soziale Zuspitzung werden, wie Kieran Farrow schreibt, »Teile der gleichen (unteren) sozialen Schichten im Kampf um immer knappere Ressourcen aufeinandergehetzt«,11was es der rechtsradikalen British

4 Auf britischen Druck wurde eine Erklärung der G20-Finanzminister für die Einführung einer Tobin-Steuer in eine Empfehlung an den IWF umgewandelt, die mögliche »Wirkung auf die Finanzdienstleistungsbranche zu prüfen«; vgl. Guardian Weekly, 17. Dezember 2009.

5 Vgl. z. B. John Hills/Tom Sefton/Kitty Stewart: Towards a more Equal Society? Poverty, Inequality and Policy since 1997, 2009.

6 Laut dem Institute of Public Policy Research, einer mitte-linken Denkfabrik, stecken die unteren 50 Prozent der britischen Bevölkerung seit mehr als 30 Jahren beim Niveau von nur sieben Prozent des nationalen Vermögens fest, unter New Labour habe sich daran nichts geändert.

7 S. Paul Gregg, Stephen Machin: Social mobility: low and falling, CentrePiece Spring, London 2005.

8 Er steht gegenwärtig bei 5,80 Pfund (Stand von 2009); vgl. Eurostat Data in Focus, 29/2009.

9 Die Arbeitslosigkeit erreichte ein 13-Jahres-Hoch (7,9 Prozent) und soll im Frühjahr weiter ansteigen. Vgl. BBC-Nachrichten, 29. Dezember 2009.

10 Zahlen von Shelter England: www.//england.shelter.org.uk/housing_issues/building_more_homes#3; abgerufen am 4.4.2010.

11 Kieran Farrow in: www.redpepper.org.uk/Anti-fascism-isn-t-working; abgerufen am 4.4.2010.

National Party (BNP) ermöglicht, Fuß zu fassen und Rassismus weiter anzuhei-zen. Die sozial schwachen Gebiete im englischen Norden bleiben Schwerpunkt dieser langjährigen Entwicklungen.12

Das dritte Dilemma ist der Zusammenbruch des Vertrauens in den demokrati-schen politidemokrati-schen Prozessund in seine Vertreter. Bei den Europa- und Kommunal-wahlen 2009 bequemten sich ganze 34,7 Prozent der Wähler/innen an die Urne.

Diese massenhafte Politikverdrossenheit ist eine Funktion der ersten beiden Phä-nomene, aber auch die Folge politischer Sündenfälle: In den Augen der britischen Öffentlichkeit ist die Politik, spätestens seitdem Tony Blair mehr oder weniger offen Sitze im Oberhaus »verkaufte« (»Adelstitel gegen Bares«), korrumpierbar gewor-den. Und in den ersten Monaten von 2010 bescherte die Chilcot-Enquete-Kom-mission der Öffentlichkeit eine Auffrischung der Erinnerungen an die verlogenen Tricks der Regierung in Vorbereitung des Irak-Krieges.13Mit dem »Spesen-Skan-dal«142009 schlug aber dieses Misstrauen in die Politik auch in einen massiven Legitimitätsverlust des Parlaments und in einen Unglauben an das Funktionieren der Demokratie an sich in Großbritannien um, mehrheitlich verweigern jetzt die Arbeiter- und die Unterklasse der parlamentarischen Demokratie die Unterstüt-zung.15Sogar in beliebten Nachmittagssendungen im Fernsehen wagt man inzwi-schen, Grundsatzfragen zu stellen, wie etwa: »Vertrauen wir noch unseren Abge-ordneten?«16Der Staat antwortet auf den Legitimitätsverlust mit zunehmend drakonischer Beschneidung der Bürgerrechte.17

Das Resultat dieser jahrelangen Entwicklung ist eine weitverbreitete, massive politische Apathie, was sich im deutlichen Rückgang der Parlamentswahlbeteili-gung unter New Labourwiderspiegelte (siehe Diagramm). Seit einigen Jahren konzentrieren sich sowohl die Wahlenthaltungen als auch die Labour-Verluste ziemlich eindeutig auf die Labour-Hochburgen im englischen Nordwesten, im Nordosten und in Wales.18Es ist auch kein Zufall, dass die beiden ersten

Europa-12 Vgl. Centre for Cities, Outlook 2010: http://www.centreforcities.org/index.php?id=1054; abgerufen 4.4.2010.

13 Inzwischen sind 52 Prozent der Briten davon überzeugt, dass Tony Blair sie über den Irak belogen hat, 23 Pro-zent wollen ihn wegen Kriegsverbrechen belangen. Yougov-Umfrage, Sunday Times, 17. Januar 2010.

14 Hier mussten führende Parlamentarier übertriebene Spesenrückerstattungsforderungen, etwa für Zweitwohnsitze oder privates Personal, zugeben. Der Unterhaussprecher, der von Labour aufgestellte Michael Martin, tolerierte bewusst eine weit verbreitete Missbrauchspraxis bei der Erstattung parlamentarischer Spesen. Er wurde der erste Sprecher seit dem Mittelalter, der wegen Korruptionsvorwürfen zurücktreten musste.

15 Zum Beispiel fanden letztes Jahr Befragte der Sozialstufen D und E in BBC-Umfragen mit großer Mehrheit, dass Abgeordnete, die ihr Mandat missbrauchten, zurücktreten müssten. Vgl. Comress-Umfrage, 15. Mai 2009.

16 Während die Eliten, Konzernvorstände ebenso wie Parlamentsmitglieder als über dem Gesetz stehend wahrge-nommen werden, wird immer drastischer auf politische Dissidenz reagiert. Zum Beispiel bemühte man das »na-tionale Interesse«, um dem Guardian zu verbieten, die Details über kriminelle Machenschaften britischer Firmen in Nigeria zu veröffentlichen, nur mit einer Klage vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gelang es, Personendurchsuchungsaktionen der britischen Polizei als »gesetzeswidrig« einzuschränken (Guardian Weekly, 23. Oktober 2009 und 22. Januar 2010).

17 Beispiele sind die Erweiterung der polizeilichen Haft ohne Prozess nach den drakonischen Antiterrorgesetzen und die geplante Einführung von Personalausweisen, was der britischen bürgerlichen Tradition zuwiderliefe.

18 Vgl. www.europarl.org.uk/section/european-elections/results-2009-european-elections-uk;

abgerufen am 4.4.2010.

abgeordneten der BNP in diesen Gebieten gewählt wurden. Zwar stieg aufgrund der einmalig knappen Situation die Wahlbeteiligung 2010 wieder etwas an (64 Prozent), damit verharrt diese Zahl aber noch immer im New-Labour-Tief seit 1997.

Unter dem Eindruck des »Spesenskandals« fanden aber auch Fragen von Macht und Teilhabe in der Gesellschaft in Großbritannien mit neuer Kraft Eingang in die öffentliche politische Debatte, und immer mehr Wähler/innen erwogen, ihre Stim-men kleineren Parteien zu geben.

Diese drei Dilemmata machen deutlich, dass sich die These eines »Dritten Weges«, wonach Großbritannien eine quasi wohlhabende Gesellschaft jenseits der Mangelwirtschaft sei, als Legende herausgestellt hat. Die »soziale Frage« ist quicklebendig, sie findet auch endlich wieder in Fragen von politischen Rechten und politischer Teilhabe Ausdruck. Umso mehr stellt sich nach dem Wahlsieg des bürgerlichen Lagers die Frage, wie die Linke diese Gelegenheit für eine konstruk-tive Weiterentwicklung linker Politik in eine relevante politische – also eine parla-mentarische – Vertretung ummünzen kann. Was sind die politisch-institutionellen Anknüpfungspunkte, die zu einem solchen Neuanfang beitragen können?

Labour und die Linke nach New Labour: Die Wiederentdeckung der Wählerschaft?

Eine der strategischen Fragen, die momentan in der linken Blogosphäre in Groß-britannien heiß diskutiert werden, ist, ob Linke der Labour-Partei (wieder) beitre-ten sollbeitre-ten, da die Zeit der New-Labour-Kaste abgelaufen zu sein scheint. Diese Debatte an sich zeigt schon, dass Labourimmer noch der unbestritten wichtigste Orientierungspunkt jedes linken Engagements im britischen politischen Spektrum geblieben ist. Jedoch übt die Partei diese Vorrangstellung heute sehr geschwächt aus. Die verlorene Parlamentswahl ist nicht der Grund, sondern das Symptom die-ser Schwäche: Die Partei erreichte mit 255 Sitzen im Unterhaus 91 weniger als 2005, und verlor mit 29,0 Prozent landesweit 6,2 Prozent ihrer Wählerschaft (zur sozialen Zusammensetzung der Wählerschaft siehe: Wer wählt New Labour?).

Der Gang Labours in die Opposition, den führende New-Labour-Advokaten (Mandelson, Campbell) angesichts der unklaren Mehrheiten im neuen Parlament noch verhindern wollten, war schließlich unvermeidlich, Gordon Brown trat als Premier am 11. Mai 2010 zurück. Er machte den Weg frei für die Bildung einer bürgerlichen Koalition aus Konservativen und Liberaldemokraten.

Parteistruktur

Die LabourPartei ist eine Partei, die formal aus drei Arten von Mitgliedern besteht (den durch bestimmte Gewerkschaftsmitgliedschaften automatisch affili-ierten, den Mitgliedern von kleinen sozialistischen Mitgliedsparteien wie der Co-operative Party und den eigentlichen, individuellen Mitgliedern), von denen aber nur die individuellen Mitglieder als zahlende Mitglieder offiziell angegeben werden. Zwar ist seit den Wahlen im Mai 2010 eine kleine Eintrittswelle zu ver-zeichnen, die durchaus durch linke Hoffnungen inspiriert sein könnte, aber trotz-dem ist der Mitgliederstand seit trotz-dem Hoch von 405 000 individuellen Mitgliedern im Jahre 1997 auf einen historischen Rekord-Tiefstand von ca. 166 000 gefallen (2009).19Angesichts des katastrophalen Zustands der Parteifinanzen ist selbst ein Zusammenbruch der Partei nicht ausgeschlossen.20Die individuelle Mitglied-schaft organisiert sich hauptsächlich in den Wahlkreis-Parteiorganisationen, den Constituency Labour Parties. Sie war in der Vergangenheit einem grundlegenden sozialen Wandel unterlegen, der durch die New-Labour-Doktrin seit 1994 be-schleunigt wurde und zur Unterrepräsentierung sozial schwächerer Bevölkerungs-schichten in der Partei führte: Schon 1997 waren nur noch 15 Prozent der Mitglie-der manuelle Arbeiter, und nur noch 29 Prozent waren GewerkschaftsmitglieMitglie-der, so dass die Parteienforscher Seyd und Whiteley 2004 zu der Schlussfolgerung kommen, dass Labour»heute weder eine Partei der Arbeiterschaft noch eine

Ge-19 Siehe: House of Commons Library: Standard Note SN/SG/5125.

20 Laut Schätzungen der Presse schleppt die Labour Party ein Defizit von etwa 40 Millionen Pfund mit sich. Vgl.

The Daily Telegraph, 28. Januar 2008.

werkschaftspartei mehr ist«21. Nach der Parteiverfassung finden die grundsätzli-chen Meinungsbildungsprozesse in der Partei in den CLPs statt und werden über das Nationale Exekutiv-Komitee NEC, das Führungsgremium zwischen den jähr-lichen Parteikonferenzen und den Tagungen des Policy Forums, zur Parteiführung geleitet. In der Realität vollzieht sich der Informationsfluss natürlich umgekehrt.

Dass das New-Labour-Establishment weiterhin innerhalb des Parteiapparats die Macht ausübt, wurde unmittelbar nach der Wahl deutlich, als Generalsekretär Ray Collins festlegte, die Vorbereitung der Kandidaturen für den Parteivorsitz sei in-nerhalb von neun Tagen zu beenden, was dem New-Labour-Kandidaten und Blair-Favoriten David Milliband entgegengekommen wäre. Nur nach einhelliger Empörung großer Teile der Basis konnte durchgesetzt werden, dass bis vier Wo-chen mehr Zeit gegeben wurde, um auch unbekannteren Kandidaten zu ermögli-chen, sich vorzustellen und Absprachen zu treffen. Die Chancen, dass – wie von vielen Basisaktivisten erhofft – diese Wahl somit zur großen Aussprache über New Labour und die dahinterliegende Ideologie wird, sind damit nach wie vor ge-geben, somit auch die Chance, die linke Kritik innerhalb der Partei wirksam zu ei-nen. Was wären dann die gemeinsamen politisch-inhaltlichen Eckpunkte dieser Kritik?

Wer wählt New Labour? Die gemeinsame Kritik der Labour-Linken

Alle in der Partei, die offen Kritik formulieren, verweisen auf die Bilanz der Blair-Brown-Regierung. Sie gehören zwar verschiedenen Lagern an, teilen aber die gemeinsame Grundidee, Labourbleibe der zentrale Ort des Kampfes, um linke Ideen und Inhalte in die britische Politik hineinzutragen: Die Partei müsse und könne von der New-Labour-Fraktion »zurückgewonnen« werden. Alle diese linken Kritiker innerhalb Labourseint die Auffassung, dass die New-Labour-Stra-tegie nicht nur eine Absage an sozialdemokratische Prinzipien gewesen ist, son-dern auch eine entscheidende wahlpolitische Fehleinschätzung. Denn in den Oppositionsjahren der Partei war ein Kernargument der führenden New-Labour-Denker gewesen, die Partei müsse »der Wählerschaft gegenüber aufwachen«22, was im Klartext bedeutete, Labourmüsse sein wahlpolitisches Jagdrevier weit in die bürgerliche Mitte hinein erweitern. Die Prozente bei den Wahlen schienen den Erfolg in der Tat zu bestätigen. Doch dies geschah, wie oben dargestellt, vor dem Hintergrund des massiven Einbruchs in den absoluten Stimmenzahlen. Das Er-klärungsmuster »gesellschaftlicher Wandel« greift zu kurz, um die hinter diesem

»Wähleraustausch« liegenden Entscheidungen begreiflich zu machen. Die meis-ten (Ex-)Labour-Wähler haben sich nämlich nicht »geändert« – sie gehören jetzt nur zur schweigenden Beinahe-Mehrheit der Nichtwähler/innen, offensichtlich weil sie sich von Labournicht mehr vertreten fühlen.

21 Patrick Seyd/Paul Whiteley: New Labour's Grassroots: The Transformation of the Labour Party Membership, Hampshire 2004, S. 37.

22 Phillip Gould, New-Labour-Vordenker und enger Mitarbeiter von Tony Blair, 1996.

New Labourübernahm die Thatcher’sche Ideologie – der Einfluss des Kapitals in der britischen Gesellschaft sei nicht nur unumkehrbar, sondern auch gut – eins zu eins. So wirkte die Angst vor einer Kapitalflucht als Deckel gegen jede wirk-same verteilungspolitische Maßnahme, und New Labourentschied, sich darauf zu konzentrieren, die »weniger anspruchsvollen« Stimmen der sozialen Gruppen A, B und C1 zu erringen.23Im direkten Widerspruch dazu wurden aber die Stimmen der Wahlkreise, in denen die Gruppen C2, D und E gesellschaftlich und kulturell überwiegen, als gegeben vorausgesetzt. Bereits bei der Wahl 2005 zeigte schließ-lich der Zerfall der Labour-Wählerschaft in diesen Schichten, dass New Labours Politik des »Alle-Mitnehmens« zur Politik des »Einige-Fallenlassens«24geworden war: Allein 2005 verlor Labourin allen Bevölkerungsschichten außer der ein-kommensstärksten (AB), aber insbesondere neun Prozent bei den qualifizierten Arbeitern (C2) und massive zwölf Prozent bei den ungelernten Arbeitern (DE).25 Nun, im Jahr 2010, kommt es, wie es kommen musste: Die Wähler/innen der Mit-telschicht kehren zu den Konservativen zurück, doch die Kernwählerschaft Laboursist grundlegend desorientiert: Laut Umfragen unmittelbar vor der Wahl wollte die Mehrheit der Labour-Abtrünnigen nicht die Konservativen wählen, sondern sich der Stimme enthalten oder – immerhin eine/r von fünf – kleinere Parteien wählen.26Diese Doppel-Attacke hat dazu geführt, dass nunmehr die Jahr-zehnte alte Labour-Mehrheit im Norden Großbritanniens zusammengebrochen ist.27

Die jetzigen Parlamentswahlen haben diesen Trend bestätigt. Vor der Wahl

Die jetzigen Parlamentswahlen haben diesen Trend bestätigt. Vor der Wahl