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Audur Lilja Erlingsdóttir Die Linke in Island

Das isländische Parteiensystem – eine Einführung

Seit Mitte des 19. Jahrhunderts hat die Frage der Unabhängigkeit Islands von Dänemark die politische Landschaft in Island beherrscht. Mit Erlangung der Sou-veränität 1918 durch den Unionsvertrag mit Dänemark, der die Unabhängigkeit Islands von Dänemark einleitete, und vor allem mit der Erringung der vollständi-gen Unabhängigkeit 1944, begann sich die isländische Gesellschaft von einer Agrargesellschaft zu einer stärker industrialisierten Gesellschaft zu entwickeln, was einen raschen Wandel in den Siedlungsstrukturen, im Lebensstil und in den Lebensbedingungen mit sich brachte. Auch das isländische Parteiensystem blieb von diesen Veränderungen in den gesellschaftlichen Strukturen nicht verschont.

Im Jahr 1916 wurden die Fortschrittspartei (Framsóknarflokkurinn) und die Sozialdemokratische Partei (Alp´yduflokkur) gegründet. Seitdem wird die Fort-schrittspartei häufig mit den Belangen der Landwirte und der ländlichen Gebiete Islands in Verbindung gebracht, während die in der Anfangszeit eng mit den Ar-beitergewerkschaften verbundenen Sozialdemokraten hauptsächlich die Interes-sen der Arbeiter vertraten.

Den rechten Pol auf der Links-Rechts-Achse des Parteiensystems besetzt heute die Unabhängigkeitspartei (Sjálfstœdisflokkurinn). Sie entstand 1929 durch Zu-sammenschluss der Konservativen und der Liberalen Partei. Auf der linken Seite des Parteiensystems entstand 1930 durch Abspaltung einer sozialdemokratischen Splittergruppe die Kommunistische Partei. Als sich 1938 der linke Flügel der So-zialdemokraten abspaltete und der Kommunistischen Partei beitrat, wurde diese in Sozialistische Partei umbenannt. Im Jahre 1956, als eine weitere Splittergruppe der Sozialdemokraten der Sozialistischen Partei beitrat, wurde die Volksallianz (Alp´ydubandalagid) gegründet.1In ihr waren linke Sozialdemokraten und Kom-munisten vereint, die sich nach 1956 zunächst als Wahlbündnis organisierten.

1968, nach der Niederschlagung des Prager Frühlings, formierte sich dieses Wahl-bündnis formal als Partei. Sie brach alle Kontakte zu den kommunistischen Par-teien ab und entwickelte sich im Verlaufe der Zeit zu einer reformistischen, der sozialdemokratischen Volkspartei nahestehenden Partei.

Weitere Parteien, die darüber hinaus entstanden und sogar im isländischen Par-lament vertreten waren, konnten sich nicht zu einem festen Bestandteil des

politi-1 Für eine genaue Beschreibung der geschichtlichen Entwicklung siehe Ólafur Th. Hardarson: Parties and Voters in Island. Sozialwissenschaftliches Forschungsinstitut, Reykjavik 1995, insbesondere S. 27-28.

schen Systems entwickeln. Mit einigen wenigen Ausnahmen sind es vor allem die vier oben genannten Parteien, die in der isländischen Politik der letzten Jahr-zehnte sichtbar waren. Eine in diesem Zusammenhang erwähnenswerte Aus-nahme stellt die 1983 auf der Grundlage der Frauenkandidatur des Vorjahres ge-gründete Frauenallianz (Kvennalistinn) dar. Die Frauenallianz ordnete sich nicht in das Spektrum links/rechts ein. Vielmehr handelte es sich um eine feministische Bewegung, die als solche großen Einfluss auf die isländische Politik hatte. Vor Gründung der Frauenallianz waren im Parlament nie mehr als drei Frauen zur gleichen Zeit vertreten gewesen.

Tabelle 1:Ergebnisse der Parteien bei den isländischen Parlamentswahlen anhand der Zahl der ins Parlament entsandten Abgeordneten, Alpingi, 1963 bis 19952

1963 1967 1971 1974 1978 1979 1983 1987 1991 1995

Sozialdemokratische 8 9 6 5 14 10 6 10 10 7

Partei

Fortschrittspartei 19 18 17 17 12 17 14 13 13 15

Unabhängigkeitspartei 24 23 22 25 20 21 23 18 26 25

Volksallianz 9 10 10 11 14 11 10 8 9 9

Union der Liberalen . . 5 2 . . . . . .

und Linken

Allianz der . . . . . . 4 0 . .

Sozialdemokraten

Frauenallianz . . . . . . 3 6 5 3

Bürgerpartei . . . . . . . 7 . .

Vereinigung für Gleichheit . . . . . . . 1 . .

und Soziale Gerechtigkeit

Pjódvaki, Volkserwachen . . . . . . . . . 4

Sonstige und 0 0 0 0 0 1 0 0 0 0

Außenseiterparteien

Somit lässt sich das isländische Parteiensystem grob als ein Vierparteiensystem mit einer großen rechten Partei, einer Partei der Mitte, einer sozialdemokratischen Partei und einer linken Partei beschreiben. Dabei hat sich die politische Linke mit ihren Absplitterungen von den Sozialdemokraten als ziemlich instabil erwiesen.

Im Allgemeinen konnten sich die neuen Parteien des linken Flügels – wie z. B.

2 Quelle: Isländisches Amt für Statitstik unter http://www.statice.is/Statistics/Elections.

Volkserwachen (Pjódvaki), die Union der Liberalen und Linken und die Allianz der Sozialdemokraten – nicht lange halten. Demgegenüber war der rechte Flügel des Parteienspektrums in der isländischen Politik erheblich stabiler. Bis in die 90er Jahre hinein existierte auf der linken Achse des Parteiensystems – neben ei-ner relativ kleinen sozialdemokratischen Partei – die Volksallianz, die sich zeit-weise einer größeren Popularität als die Sozialdemokraten erfreute. In dieser Hin-sicht unterschied sich Island in dieser Zeit von den skandinavischen Ländern, in denen zumeist neben einer großen sozialdemokratischen Partei nur eine kleine linke Partei existiert.

Ende der 90er Jahre haben die linken Parteien: Sozialdemokraten, Volksallianz und Frauenliste einen Umstrukturierungsprozess durchlaufen, der zu einer Stär-kung der sozialdemokratischen Strömungen führte und nach den Wahlen 1999 zu einer Angleichung des isländischen Parteiensystems mit denen anderer skandina-vischer Länder führte.

Dennoch weist das isländische Parteiensystem Besonderheiten auf.

Nach der Untersuchung von Hardarson (1995) zu Parteien und Wählern in Is-land lassen sich die Links-Rechts-Orientierungen der isländischen Wähler am leichtesten zu sicherheits- und außenpolitischen Fragen aufzeigen. So war die Haltung zur US-Militärbasis Keflavik stärker als bei irgendeiner anderen Einzelf-rage davon abhängig, ob man sich links oder rechts im politischen Spektrum Is-lands positionierte. Eher links orientierte Isländer standen dem Stützpunkt zu-meist ablehnend gegenüber, während sich Personen mit rechten Haltungen häufig für seinen Erhalt aussprachen. Gleiches gilt auch für die Einstellung zur NATO-Mitgliedschaft. Ein zweiter Themenkreis, der die isländischen Wähler in links und rechts spaltet, sind wirtschaftliche Fragen, wie die Einstellung gegenüber Steuern und Ausgaben für öffentliche Dienstleistungen.3Darüber hinaus sind die Gleichberechtigung der Geschlechter und der Vorrang des Umweltschutzes vor wirtschaftlichem Wachstum zu nennen, die bei linken Gruppen stärkeren Anklang finden als im politisch rechten Spektrum. In den letzten Jahrzehnten haben diese Fragen in der isländischen Politik einen immer größeren Stellenwert erlangt.

1999 – das Jahr des Wandels im isländischen Parteiensystem?

In den Jahren 1998 – 1999 erreichten die Debatten über die Vereinigung der lin-ken Parteien in der isländischen Politik ein bis dato unbekanntes Ausmaß. Durch die Instabilität und Spaltung der linken Kräfte war die Unabhängigkeitspartei nach den meisten Wahlen in der Lage, aufgrund ihrer Größe die Regierung zu bil-den. Nur durch eine Vereinigung hätten die linken Kräfte dem rechten Flügel wirkliche Macht und Einfluss gleichgewichtig entgegensetzen können.

3 Vgl. Hardarson: Parties und Voters in Island, S. 219-220 und Kapitel V.

Eine Gruppe von Politikern der Parteien des linken Spektrums begann deshalb mit den Vorbereitungen für den Zusammenschluss von Sozialdemokraten, Volks-allianz, Volkserwachen und Frauenallianz zu einer sozialdemokratischen Partei.

Die Sozialdemokraten und die Volksallianz waren über Jahrzehnte im Parlament vertreten gewesen. Volkserwachen – eine Splittergruppe der Sozialdemokraten – war ursprünglich gegründet worden, um die Linke für die Wahlen 1995 zu verei-nigen. In dem Jahr gewann die Partei vier Parlamentssitze. Die Frauenallianz war seit 1983 regelmäßig im Parlament vertreten. Im Jahre 1987 erreichte die Partei mit sechs Abgeordneten ihr bestes Ergebnis, hat aber seither an Unterstützung verloren. Im Ergebnis der Wahlen 1995 konnte sie drei Abgeordnete ins Parla-ment entsenden.

Allerdings gab es auch starke Gruppierungen, die sich gegen eine solche Verei-nigung aussprachen und besorgt darüber zeigten, welche gesellschaftlichen Ziel-vorstellungen und Werte nach einem Zusammenschluss im Fokus stehen würden.

Vertreter dieser Gruppen fanden sich in allen vorstehend genannten Parteien, aber vor allem in der Volks- und der Frauenallianz. Es ging dabei um Themen, die die isländische Linke damals und schon Jahre davor immer wieder gespaltet hatten, vor allem marktwirtschaftliche und sicherheitspolitische Fragen.

Der neue Parteienzusammenschluss kandidierte in den Parlamentswahlen 1999 unter dem Namen Sozialdemokratische Allianz (Samfylkingin). Ein Jahr später, am 5. Mai 2000, wurde aus diesem Parteienbündnis offiziell eine politische Partei unter demselben Namen. Die Gegner der Vereinigung gründeten nach einigen Monaten Vorbereitungszeit am 6. Februar 1999 die Links-Grüne Bewegung (Vin-strihreyfingin – Grœnt frambod) mit der Absicht, die sozialistischen und Umwelt-kräfte vor den für den 8. Mai desselben Jahres anberaumten Parlamentswahlen zu vereinen. Die sich herausbildende Links-Grüne Bewegung schloss sich mit vier Abgeordneten der Volksallianz und der Frauenallianz zusammen, die ähnliche Ansichten vertraten und bereits seit einigen Monaten in einer unabhängigen Gruppe im Parlament zusammengearbeitet hatten. Die Bewegung kandidierte in den Parlamentswahlen als Alternative zu den Linken der Sozialdemokratischen Allianz.

Damit hat das Jahr 1999 einen besonderen Stellenwert für die isländische Poli-tik. Vier Parteien vereinigten sich und kandidierten gemeinsam, gleichzeitig traten zwei neue Parteien – die Links-Grüne Bewegung und die Liberalen – an und konnten Abgeordnete ins Parlament entsenden. Aufgestellt waren darüber hinaus noch zwei weitere Parteien – die Humanisten und die Christlich Demokratische Partei –, von denen aber keine ausreichend Stimmen gewinnen konnte, um ins Parlament einzuziehen. Tabelle 2 gibt einen Überblick über die Ergebnisse der Parlamentswahlen 1999 bis 2009 anhand der Zahl der Sitze der einzelnen Par-teien.

Tabelle 2:Wahlergebnisse der Parteien anhand der Zahl der Abgeordneten im Alpingi, 1999 bis 20094

1999 2003 2007 2009

Fortschrittspartei 12 12 7 9

Unabhängigkeitspartei 26 22 25 16

Liberale Partei 2 4 4 0

Sozialdemokratische Allianz 17 20 18 20

Links-Grüne Bewegung 6 5 9 14

Bürgerbewegung 4

Häufig wird davon ausgegangen, dass sich die politische Landschaft Islands im Ergebnis der Vereinigung der vier linken Parteien und der Gründung der Links-Grünen Bewegung verändert hat. Allerdings deuten die Ergebnisse der Wahlen 1999 auf keine wirklich drastische Veränderung hin. So konnte die Links-Grüne Bewegung bei einem Stimmenanteil von 9,1 Prozent sechs Abgeordnete ins Parla-ment schicken, und die neue Sozialdemokratische Allianz gewann mit 26,8 Pro-zent der Stimmen 17 Sitze. In den Wahlen 1995 hatten die vier Parteien des linken Flügels einen Stimmenanteil von 37,8 Prozent und gewannen damit 23 Parla-mentssitze. Die beiden neuen Parteien konnten in den Wahlen weniger Stimmen auf sich vereinen als die vier Parteien in den vorangegangenen Wahlen. Somit kann man feststellen, dass sich die Hoffnungen auf Vereinigung der linken Kräfte in einer großen Partei mit entsprechenden Stimmengewinnen zerschlagen hatten.

Seit ihrem Entstehen hat die Links-Grüne Bewegung ständig an Größe und Stärke gewonnen. In jeder Wahl seit 1999 konnte sie mehr Sitze im Parlament er-ringen, mit Ausnahme von 2003, als sie einen Sitz verlor. Heute hat die Partei 5 8335Mitglieder (47 Prozent Frauen und 53 Prozent Männer). Das Durchschnitt-salter der Mitglieder liegt bei 42,5 Jahren, wobei 27 Prozent 30 Jahre alt oder jün-ger sind. 49 Prozent der Mitglieder leben im Gebiet von Reykjavík.

Gegenwärtig basiert die Grundsatzpolitik der Links-Grünen Bewegung auf fol-genden fünf Eckpfeilern6:

Umweltschutz

Alle natürlichen Ressourcen sollen sich im öffentlichen Eigentum befinden und nachhaltig und sorgfältig bewirtschaftet werden. Zur Förderung des

Umwelt-4 Quelle: Isländisches Amt für Statitstik unter http://www.statice.is/Statistics/Elections.

5 Stand vom 28. Januar 2010.

6 Für die Grundsatzerklärung siehe Homepage der Links-Grünen Bewegung unter http://www.vg.is/stefna/stefnuyfirlysing/.

schutzes ist mithilfe der sogenannten »grünen Ökonomie« eine Schätzung des Wertes unberührter Natur und die Erhebung »grüner Steuern« zu deren Erhalt vorzunehmen. Von besonderer Bedeutung ist, dass die Isländer künftig in der Lage sind, ihren gesamten Energiebedarf selbst zu erzeugen. Die Partei lehnt den Bau weiterer Kraftwerke zum Nutzen der die Umwelt verschmutzenden Großin-dustrie ab und fordert den Schutz des Hochlandes. Großes Augenmerk legt sie auf dynamische internationale Kooperationen und Vereinbarungen auf dem Gebiet des Umweltschutzes.

Gleichstellung und soziale Gerechtigkeit

Alle Menschen sind gleichberechtigt, und Diskriminierung kann nicht toleriert werden. Die Partei fordert volle Gleichberechtigung im Hinblick auf Bildung, so-ziale Dienstleistungen jeglicher Art, öffentliche Informationen und Redefreiheit.

Der isländische Staat hat die Pflicht, das Wohlergehen aller Bürger, insbesondere von älteren und behinderten Personen, zu gewährleisten. Die Links-Grüne Bewe-gung unterstützt die Stärkung des ländlichen Raums in Island durch Bereitstel-lung von qualitativ hochwertigen Dienstleistungen im sozialen, Bildungs- und kulturellen Bereich. Als besonders wichtig erachtet es die Partei, dass die für eine 40-Stunden-Arbeitswoche gezahlten Löhne ausreichend sind, um die normalen Lebenskosten bestreiten zu können.

Faire und florierende Wirtschaft

Die Links-Grüne Bewegung möchte die Entwicklung der Gesellschaft durch Stärkung der Stellung der Arbeitnehmer beeinflussen. Die Partei tritt für eine Di-versifizierung der isländischen Wirtschaft und den Einsatz umweltfreundlicher Technologien ein. Sie widersetzt sich jeder Form von Monopolisierung und Zen-tralisierung des Kapitals und unterstützt die konventionellen Industriezweige da-bei, den speziellen Status Islands zur Schaffung von unterschiedlichen Arbeits-plätzen für alle Einwohner des Landes zu nutzen.

Unabhängige Außenpolitik

Die Links-Grüne Bewegung kämpft für eine unabhängige Außenpolitik, die die Souveränität Islands aufrechterhält, und unterstützt alle Bemühungen zur Schaf-fung von globalem Frieden. Sie ist gegen die Teilnahme an Militärbündnissen wie der NATO und der WEU. Ferner tritt sie gegen eine Mitgliedschaft in der Euro-päischen Union ein und setzt vielmehr auf einfache bilaterale Handels- und Kooperationsvereinbarungen. Die Links-Grüne Bewegung ist zum Ausbau der Kooperation mit allen Nationen auf der Grundlage des gegenseitigen Respekts unterschiedlicher Ansichten und Kulturen bereit. Sie unterstützt die Beteiligung des Landes an demokratischen Organisationen wie den Vereinten Nationen, dem Europarat und dem Nordischen Rat und setzt sich für die Stärkung dieser Zusam-menarbeit ein. Island soll die Ziele der UNO und der Erklärung der

Menschen-rechte durch Beiträge zur Überwindung von Armut und Hunger, sozialer Unge-rechtigkeit, ungleicher Verteilung des Wohlstands, rassistischer Diskriminierung, Verletzung der Menschenrechte und Militarismus unterstützen.

Feminismus

Die Links-Grüne Bewegung ist eine feministische Partei. Ebenso wie die Partei gegen die Macht der Finanzeigentümer und des Kapitals kämpft, lehnt sie auch die Unterdrückung von Frauen durch Männer ab und richtet sich gegen patriar-chalische Strukturen in der isländischen Gesellschaft.

2009 – Wahlen nach der Krise

Am 6. Oktober 2008 wandte sich der damalige Premierminister, Geir H. Haarde, im nationalen Fernsehen an die isländische Nation. Gegenstand waren die außer-ordentlichen finanziellen Schwierigkeiten, denen sich das Land gegenüber sah. In seiner Ansprache verwies Haarde auf die reale Gefahr, dass die isländische Wirt-schaft im schlimmsten Fall gemeinsam mit den Banken ins Trudeln geraten und so einen Staatsbankrott heraufbeschwören könne.

Jeder Folgetag brachte den Isländern neue Schreckensmeldungen. Die finan-zielle Situation erwies sich als weitaus schlechter als von den meisten angenom-men, und die Regierung aus Unabhängigkeitspartei und Sozialdemokratischer Allianz kämpfte um die Rettung des isländischen Bankensystems, allerdings ohne Erfolg. Alle drei großen Banken des Landes waren vom Kollaps betroffen und mussten vom Staat übernommen werden.

Ab dem 11. Oktober versammelten sich die Menschen jeden Samstag vor dem isländischen Parlament, um auf Zusammenkünften, Kundgebungen und Demon-strationen den Rücktritt derjenigen zu fordern, die für die eingetretene Situation verantwortlich waren. Dies war der Beginn einer Bewegung, die heute wegen des von den Demonstranten mit Küchengeräten verursachten Lärms als Küchengerä-terevolution bezeichnet wird. Hauptsächlich richtete sich die Kritik gegen die Un-abhängigkeitspartei, die 18 Jahre lang ununterbrochen an der Regierung gewesen war, davon zwölf Jahre zusammen mit der Fortschrittspartei und danach zwei Jahre mit der Sozialdemokratischen Allianz.

Am 20. Januar 2009 verschärften sich die Proteste. Es kam zu Zusammen-stößen zwischen den Demonstranten vor dem Parlament und der mit Pfefferspray und Knüppeln bewaffneten Bereitschaftspolizei. Die Proteste setzten sich am nächsten Tag fort, als die Regierungsgebäude von lärmenden, mit Eiern und ande-ren Lebensmitteln bewaffneten Demonstranten umzingelt wurden. Am 22. Januar setzte die Polizei erstmals seit den Demonstrationen gegen den isländischen NATO-Beitritt 1949 Tränengas ein, um die Menge aufzulösen. Am darauffolgen-den Tag wurdarauffolgen-den vorgezogene Parlamentswahlen verkündet, ohne dass dies die

Proteste beendet hätte. Die Demonstranten blieben auf der Straße und forderten sofortige Wahlen. Am 26. Januar gab die Regierungskoalition aus Unabhängig-keitspartei und Sozialdemokratischer Allianz dem Druck nach und löste sich auf.

Am 1. Februar 2009 bildeten die Links-Grüne Bewegung und die Sozialdemo-kratische Allianz eine neue Regierung. Zwar hatte die Koalitionsregierung nicht die Mehrheit des Parlaments hinter sich, aber die Fortschrittspartei erklärte sich bereit, die Regierung im Falle von Misstrauensanträgen zu unterstützen. Dem Ka-binett gehörten neben zwei parteilosen Ministern vier Minister der Links-Grünen Bewegung und vier Minister der Sozialdemokratischen Allianz an. Ziel der neuen Regierung war es, dringende Maßnahmen zum Wohle der isländischen Bevölke-rung und Wirtschaft auf den Weg zu bringen, das Bankensystem neu aufzubauen und die Regierungsführung und Verwaltung demokratischer und transparenter zu gestalten. Das Hauptaugenmerk legte sie dabei auf soziale Werte, nachhaltige Entwicklungsprinzipien, Frauenrechte, Gleichberechtigung und Gerechtigkeit.

Von Anfang an war auch klar, dass – sobald es die Umstände erlaubten – Wahlen abgehalten und eine neue Regierung auf der Grundlage eines neuen Mandats des Volkes gebildet werden sollte.7

Die Regierung war in vielerlei Hinsicht erfolgreich. Insbesondere gelang es ihr recht gut, die isländische Öffentlichkeit durch wöchentliche Zusammenkünfte mit den Medien zu informieren. Sie reorganisierte die isländische Zentralbank, ver-hängte eine vorübergehende Auktionsbeschränkung wegen Zwangsvollstreckung, ermöglichte Personen mit geringem Einkommen Zugriff auf ihre Renten, erhöhte Steuervergünstigungen für Zinszahlungen, verabschiedete einen neuen Aktions-plan zur Bekämpfung des Menschenhandels, führte einen Ehrenkodex für den isländischen Verwaltungssektor ein und vieles andere mehr. Doch obwohl die neue Regierung das Ruder zweifellos unter extrem schwierigen Umständen in der isländischen Gesellschaft übernommen hat, ist auch sicher, dass sie in den Augen sehr vieler Menschen nicht genug getan hat.

Der Wahlkampf im Vorfeld der vorgezogenen Parlamentswahlen gestaltete sich schwierig. So verwies die Links-Grüne Bewegung darauf, dass die Partei seit 2006 Jahr für Jahr vor der neoliberalen Politik der bisherigen Regierungen und der damit einhergehenden Bedrohung der Wirtschaftsstabilität gewarnt habe. Oft-mals fanden die Parteisprecher kein Gehör. In der Vergangenheit habe man die Partei als altmodisch abgetan und ihre Mitglieder beschuldigt, die neue Ära und den Ruhm, den die isländischen Finanz-Wikinger dem Lande bringen würden, nicht richtig zu verstehen. Diesmal waren die Bemühungen der Partei von Erfolg gekrönt. Am 25. April 2009 wurden Wahlen in Island abgehalten, in denen sich sechs Parteien um Parlamentssitze bewarben: die Links-Grüne Bewegung, die So-zialdemokratische Allianz, die Unabhängigkeitspartei, die Fortschrittspartei, die

7 Für die Grundsatzerklärung der Regierung der Sozialdemokratischen Allianz und der Links-Grünen Bewegung siehe http://eng.forsaetisraduneyti.is/media/frettir/Policy_declaration.pdf.

Liberalen und als neue Partei die Bürgerbewegung. Die Politik der Bürgerbewe-gung lässt sich schwer definieren. Neben linken Tendenzen in ihrer Politik, wie dem Ruf nach einer offenen und bürgernahen Demokratie, einer offenen und zu reformierenden Regierungsverwaltung und einer gewissen Betonung der Bürger-rechte, finden sich zugleich auch Hinweise auf konservative politische Prioritäten wie die Privatisierung sozialer Strukturen.

In den Wahlen erreichte die Links-Grüne Bewegung 21 Prozent der Stimmen und damit 14 Parlamentssitze. Nach den Wahlen bildete die Partei die neue Regie-rung zusammen mit der Sozialdemokratischen Allianz, diesmal mit Unterstützung der Mehrheit der Abgeordneten. Damit gibt es zum ersten Mal in der isländischen Geschichte eine Regierungskoalition aus zwei linken Parteien. Das neue Kabinett wurde wieder auf die traditionelle Zahl von zwölf Ministern aufgestockt, wobei jede Partei fünf Minister entsendet und darüber hinaus zwei parteilose Minister am Kabinettstisch sitzen. Die Links-Grüne Bewegung leitet die Ministerien für Finanzen, Bildung, Gesundheit, Umwelt sowie Landwirtschaft und Fischereiwirt-schaft.

Zum Zeitpunkt dieser Veröffentlichung ist die neue Regierung noch nicht ganz ein Jahr im Amt. Wenngleich sie große Anstrengungen zur Wiederherstellung der Stabilität in der isländischen Gesellschaft unternommen hat, lassen sich

Zum Zeitpunkt dieser Veröffentlichung ist die neue Regierung noch nicht ganz ein Jahr im Amt. Wenngleich sie große Anstrengungen zur Wiederherstellung der Stabilität in der isländischen Gesellschaft unternommen hat, lassen sich