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Eine unkommentierte Konfrontation im Hamburger Rathaus

Red Peter was speaking testimony to a gathering of scholars. I am not a philosopher of mind but an animal exhibiting, yet not exhibiting, to a gathering of scholars, a wound, which I cover up under my clothes but touch on in every word I speak.1

Elisabeth Costello (J. M. Coetzee) Weil der Preisträger Peter Weiss nicht mit seiner Dankesrede fertig wurde, musste die feierliche Verleihung des Hamburger Lessingpreises im Frühjahr 1965 zwei Mal verschoben werden. Senator Dr. Biermann-Ratjen (SPD), der den Preis gerne am 22. Januar, dem Geburtstag Lessings, überreicht hätte,2 antwortet freundlich ent-gegenkommend, als der Schriftsteller um Aufschub bittet:

Ich verstehe Ihren Wunsch, den Verleihungstermin noch einmal um einen Monat zu verschieben. Nach voriger Abstimmung mit der Senatskanzlei habe ich jetzt als Ter-min Freitag, den 23. April, 11.30 festgelegt. Ich hoff e, dass Ihnen dieser Zeitpunkt genehm ist, und erbitte eine entsprechende Nachricht.3

Bei diesem Termin sollte es bleiben. Am 23. April 1965 hält Weiss seine Lessing-preisrede »Laokoon oder über die Grenzen der Sprache« im prunkvollen Kaisersaal des Hamburger Rathauses. Die feierliche Redesituation ist dokumentiert und

1 J. M. Coetzee, Elisabeth Costello. Eight Lessons, London: Secker & Warburg 2003, 70 f. Es spricht die Romanfi gur Elisabeth Costello über den redenden Aff en Rotpeter aus Franz Kafkas »Bericht für eine Akademie«.

2 Brief von Biermann-Ratjen an Peter Weiss, datiert am 3. Dezember 1964, in: PWA, Mappe 338 (6 Briefe an Peter Weiss von der Kulturbehörde der Freien und Hansestadt Hamburg).

3 Brief von Biermann Ratjen an Peter Weiss, datiert am 28. Januar 1965, in: PWA, Mappe 338.

chiviert:4 Eine schwarz-weiße Fotografi e zeigt den 48-jährigen Schriftsteller am lin-ken Bildrand im Profi l, seine Hand holt zu einer off enen Geste gegenüber dem Pu-blikum aus, vor ihm ein überfüllter Saal mit circa 200 Zuhörern.5 Es ist Mitte der 1960er Jahre: Die Männer tragen überwiegend Seitenscheitel und Hornbrille, un-ter den Frauen sind toupierte Frisuren stark vertreten. Eine weiun-tere Fotografi e zeigt Weiss im Halbprofi l an einem Rednerpult aus dunklem Massivholz mit verschnör-kelten Verzierungen. Hier muss der Fotograf ein Teleobjektiv verwendet haben, denn der Redner rückt ganz nah. Seine akkurate Frisur und der Anzug mit der gestreif-ten, fest gebundenen Krawatte bieten sich der genauesten Betrachtung an. Das Manuskript auf dem Pult ist auf der Fotografi e nicht zu sehen, es dürfte sich um die Vorlage der Druckfassung der Rede handeln, die der folgenden Analyse zugrun-de liegt.6 Die Hand des Redners ruht daneben, sein Blick ist auf die Zeilen gerich-tet, während sein Mund eine Silbe artikuliert. Wer am 23. April 1965 im Hambur-ger Rathaus zugegen war oder den später publizierten Redetext kennt, kann konstatieren, dass die Fotografi e einen Schriftsteller zeigt, der sich in der Form ei-nes mündlichen Vortrags in deutscher Sprache über ebendiese Sprache als sein künstlerisches Medium äußert.

Peter Weiss hatte den Preisverleihungstermin mehrfach verschieben lassen. Bei der kritischen Edition seiner Notizbücher kam folgende Zeile zur Vorbereitung der Rede zutage: »Ich danke Ihnen für das Vertrauen, das Sie dieser gebrechlichen Sprach«x»ung entgegengebracht haben«. (KGA 1.666)7 Der gestrichene Satz fi ndet sich nicht in der fertigen Rede wieder, dafür wurde gewissermaßen die Streichung selbst übernommen. Dass Weiss nämlich sowohl darauf verzichtet, sich im Verlauf der Rede für den Preis zu bedanken, als auch darauf, überhaupt in ›Ich‹-Form zu sprechen, kann kein Zufall sein. »Laokoon oder Über die Grenzen der Sprache« ist eine Dankesrede gehalten von jemandem, der darauf verzichtet, Dankbarkeit zu si-gnalisieren. Für seine Refl exionen über die Folgen des Totalitarismus für das Ver-hältnis eines Exilkünstlers zu seinen Ausdrucksmitteln wählt Weiss die Form einer Erzählung in dritter Person Singular: Protagonist ist ein namenloser Schreibender, Th ema ist sein Verhältnis zu Wort, Bild und Ton. Dabei wird die doppelte Rolle dieser Medien betont, denn sie stehen einerseits für die totalitäre Propaganda und andererseits für die Ausdrucksmittel des Verfolgten, die von jenem ›neuen Idiom‹

akut bedroht sind. Der Rede-Erzählung ist eine kurze, einleitende Refl exion voran-gestellt, die wie folgt beginnt:

4 PWA 3155, 5031-1–7. Fotograf unbekannt, es dürfte sich entweder um Pressefotos oder um Fotos von der Öff entlichkeitsabteilung der Hamburger Kulturbehörde handeln. Ob sie publiziert wor-den sind, konnte bislang nicht ermittelt werwor-den.

5 Vgl. Brief von Biermann-Ratjen an Weiss vom 3. Dezember 1964, in: PWA 338.

6 Vgl. PWA 3155, 5031-2. Die Rede erschien zuerst als Sonderdruck der Kulturbehörde der Freien und Hansestadt Hamburg: Peter Weiss, Laokoon oder Über die Grenzen der Sprache, Rede anläßlich der Ent-gegennahme des Lessingpreises der Freien und Hansestadt Hamburg am 23. April 1965, Hamburg 1965.

7 Notizbuch 8 (28.11.1964–5.4.1965), 130.

Der Vorgang des Schreibens und Lesens, des Sprechens und Verstehens, stellt an bei-de Teile dieses Zusammenwirkens Anforbei-derungen, bei-deren Schwierigkeitsgrad in bei-dem großen allgemeinen Tönen, das uns umgibt, schon kaum mehr bemerkt wird. (L 170) Damit stellt Weiss’ Rede gleich zu Beginn die Selbstverständlichkeit sprachlicher Phänomene infrage; indirekt problematisiert der einleitende Satz sowohl die schriftstellerische Arbeit, die mit der Preisverleihung gewürdigt wird, als auch die Redesituation selbst. In den darauff olgenden Zeilen rücken mit der genaueren Be-stimmung der Schwierigkeiten die Körper aller Beteiligten in den Fokus, denn das, was »schon kaum mehr bemerkt wird«, ist die Körperlichkeit der Artikulation:

»Überall bewegen sich Münder, stoßen Wörter aus, überall fl attern Ohren und fan-gen die Wörter auf, als wäre dies die leichteste Sache von der Welt«. (L 170) Der Fokus auf physiologische Aspekte des Kommunikationsvorgangs wirkt zweifelsoh-ne störend auf den Verlauf desselben. Flatternde Ohren als Empfänger von Worten, die nicht etwa artikuliert, sondern ausgestoßen werden? Man bedenke, dass die Th ematisierung der Sprechorgane das Publikum dazu verleitet haben könnte,

tat-Abb. 6: Weiss am Rednerpult im Kaisersaal des Hamburger Rathauses am 23. April 1965.

Fotograf: Horst Münch.

sächlich auf den sprechenden Mund des Redners zu achten. Auf der ersten Fotogra-fi e ist vorn eine junge Frau mit dunklen Haaren zu sehen, zwischen ihren Brauen eine Falte der Konzentration, weiter hinten eine ältere Dame mit leicht zur Seite geneigtem Kopf. »Vergisst du nie, wie man das Sprechen ausführt«?, fragt bereits die Rückkehrerfi gur Dante in Weiss’ Dramenentwurf Inferno, entstanden im Jahr vor der Lessingpreisrede, »wie man dies Brummen in der Kehle / zu Worten macht«?

(I 26)8 Mit einem grotesken Bild off enbart Weiss’ Preisrede, dass ein sprachloser Schrecken in der Sprache selbst steckt, seine Worte beschwören Unheimliches her-auf, beim Lesen seiner Preisrede stellt sich die Frage nach dem Klang seiner Worte im prunkvollen Kaisersaal:

[E]s liegt ein Stammeln und Lallen in jedem Wort, und tiefer darunter noch sind un-artikulierte Geräusche herauszuhören, ein Zungenschlagen, ein Lippenklappern, und in der Machtlosigkeit ist der Schrei und dann nur noch die Stille. (L 170)

Ein Jahr zuvor, in Le visible et l’invisible, hatte sich Maurice Merleau-Ponty aus-führlich damit auseinandergesetzt, dass die Sprache der Rede (parole) auf dem Bo-den der vermeintlich stummen, körperlichen Wahrnehmungswelt entsteht: Die leibhaftig vollführte Rede ist in physische Interaktionen hineingefl ochten, »sie lebt nur von der Stille; alles, was wir den Anderen zuwerfen, ist in jenem weiten stummen Land gewachsen, von dem wir immerdar umgeben sind.«9 Wenn der leibhaftige Red-ner Weiss die Aufmerksamkeit seines Hamburger Publikums auf die stummen, kör-perlichen Grundbedingungen einer jeden Rede lenkt, wird die sprachphilosophische Aussage auf der performativen Ebene politisch brisant, denn die Betonung der kör-perlichen Dimension der Kommunikation erinnert in diesem Kontext an ihre über-aus prekäre Grundbedingung: die physische Unversehrtheit des Sprechers.

Als Weiss den Preis 1965 in Hamburg entgegennimmt, hält er seine Dankesrede durchgehend in dritter Person Singular. Dennoch dürfte niemand im Saal umhin-gekommen sein, den konturlosen Protagonisten der Rede-Erzählung, »Er, von dem hier die Rede ist« (L 174), als anonymes Alter Ego des leibhaftigen Redners Peter

8 Ab 1964 arbeitete Peter Weiss an seinem »Divina Commedia«-Projekt. Als Stück wurde Inferno zu-erst von Christoph Weiß berücksichtigt: Auschwitz in der geteilten Welt. Teil 1, 55–88. Im Jahr 2003 wurde Inferno bei Suhrkamp publiziert, 2007 erschienen zahlreiche Fragmente und Vorfas-sungen im umfangreichen editorischen Anhang von Yannick Müllender, Peter Weiss’»Divina Commedia«-Projekt, vgl. darin das Kapitel »Schreibarbeit am Inferno (Juni–Dezember 1964)«

(103–197).

9 Vgl. Maurice Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, übers. v. Regula Giuliani, Bern-hard Waldenfels, hg. v. Claude Lefort, München: Wilhelm Fink 1986, 167 (frz. Original: Le visi-ble et l’invisivisi-ble, Paris: Gallimard 1964). Merleau-Ponty wird allerdings nur fl üchtig in Weiss’ No-tizbüchern erwähnt: im Jahr 1962 mit der Phänomenologie der Wahrnehmung, (KGA 670) im Win-ter 1965/66 ohne Hinweis auf einen bestimmten Text (KGA 1.961) und im Herbst 1968 mit Die Abenteuer der Dialektik. (KGA 3.025)

Weiss zu interpretieren.10 Hier ist nicht nur von ›jemandem‹ die Rede, es ist zu-gleich eine (Preis-)Rede von ›jemandem‹. Indem Weiss darauf verzichtet, sich selbst zu benennen, verbindet er seine Person mit den historischen Verbrechen, auf deren explizite Benennung seine Rede ebenso durchgehend verzichtet wie das parallel entstandene Dokumentarstück Die Ermittlung auf das Wort ›Jude‹.11 Das Unerhör-te an der Tatsache, dass »Er, von dem hier die Rede ist« (L 174) tatsächlich als Ver-fasser ebendieser Rede leibhaftig vor Ort eingetroff en ist, fällt unter Rückgriff auf Materialien auf, die lange unzugänglich waren. In erster Person Singular spricht nämlich die Rückkehrerfi gur Dante in einem der Vorfassungen zum posthum pu-blizierten Inferno-Stück, deren letzte Fassung wenige Monate vor der Lessingpreis-rede abgeschlossen wurde:

Es ist jetzt zwanzig Jahre her

und drei Jahrzehnte, dass ich euch entkam jetzt bin ich wieder da

bei euch ich sehe euch da steht ihr

vor zwanzig Jahren hättet ihr mich durch den Kamin gejagt12

Betrachtet man die performative Ebene der Lessingpreisrede unter Berücksichti-gung dieses Subtextes, so scheint der Redner bereits mit der Einleitung zu suggerie-ren, dass sein Körper dem Publikum ausgeliefert ist. Er gibt sich im Redetext nicht zu erkennen, er bedankt sich nicht für seine Auszeichnung, denn wenn er vor ver-sammeltem Publikum in Deutschland »das Sprechen ausführt«, so vergisst er nie,

10 Wie Weiss durchläuft sein anonymer Protagonist eine Phase als bildender Künstler sowie als Schrift-steller in der Sprache des Exillandes, bevor er das Medium des Bildes zugunsten der SchriftSchrift-stellerei verwirft und zu der Muttersprache zurückkehrt. Die biografi schen Stationen sind selektiv und zum Teil erheblich verschoben, siehe u. a. Martin Rector, »Laokoon oder der vergebliche Kampf gegen die Bilder. Medienwechsel und Politisierung bei Peter Weiss«, in: PWJ 1 (1992) 24–41.

11 Entsprechend ist diesem Stück über die Auschwitz-Prozesse vorgehalten worden, es tilge den anti-semitischen Charakter des Vernichtungslagers. Siehe vor allem James E. Young, Beschreiben des Ho-locaust. Darstellung und Folgen der Interpretation, Frankfurt a. M.: Jüdischer Verlag 1992, 110 f., und die Entgegnung von Jean-Michel Chaumont, »Der Stellenwert der ›Ermittlung‹ im Gedächt-nis von Auschwitz«, in: Irene Heidelberger-Leonard (Hg.), Peter Weiss. Neue Fragen an alte Texte, Opladen: Westdeutscher Verlag 1994, 77–93. Für eine Überblicksdarstellung der kritischen Stim-men zur Ermittlung siehe Robert Cohen, »Identitätspolitik als politische Ästhetik. Peter Weiss’ Er-mittlung im amerikanischen Holocaust-Diskurs«, in: Ulrich Baer (Hg.), Niemand zeugt für den Zeugen. Erinnerungskultur nach der Shoah, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2000, 156–172, sowie Co-hen, »Th e Political Aesthetics of Holocaust Literature. Peter Weiss’s Th e Investigation and its Crit-ics«, in: History and Memory. Studies in Representation of the Past 10.2 (1998), 43–67.

12 Es sind die Worte des Rückkehrers Alighieri. Das Fragment befi ndet sich in PWA 76/86/6095-2, Mappe 17, Blatt 2, zitiert nach Weiß, Auschwitz in der geteilten Welt. Teil 1, 60.

dass seine Sprache an einen Körper gebunden ist, der nur durch Zufall den Verfol-gern entkommen ist. Wenn dieser Redner seine Hauptfi gur in der ersten Passage als

»der Schreibende« (L 170) vorstellt, hält er sich sowohl die eigene Biografi e als auch das deutsche Publikum vom Leib. Der Preis ist der Verzicht auf die Figur des un-mittelbaren Zeugen; der Zeuge bleibt außen vor, niemand muss ›ich‹ sagen, und die Zeugenschaft über die spezifi sche Gewaltform, die Weiss am eigenen Leibe er-fuhr – die Gewalt des Idioms, die Gewalt der Ausgrenzung, die Gewalt der Dro-hung –, verschiebt sich auf die vielen Verfahren des Indirekten.

Noch in den vorbereitenden Notizbuchaufzeichnungen zur Lessingpreisrede überwiegt die erste Person Singular, und wenn Weiss beim Nahen des Redetermins in die dritte Person wechselt, rührt dies vielleicht daher, dass das schriftliche Ich sich grundsätzlich von dem mündlichen unterscheidet. Wer als Redner das Wort

›ich‹ ausspricht, und sei seine Rede noch so literarisiert, muss in der Praxis damit rechnen, von seinen Zuhörern als leibhaftiger Referent dieses Pronomens betrach-tet zu werden; es ist dann, als gefährdeten die Töne aus seiner Kehle, geformt durch seine Stimmbänder, Zunge und Zähne, durch seinen Gaumen und seine Lippen, die schützende Trennung zwischen realem Autor, Erzählinstanz und fi ktionalem Bereich. Wenn das Primat der Stimme also einerseits im Sinne Derridas auf Autor-schaft, Identität oder gar Autorität zu beharren scheint, geht andererseits mit dem deiktischen Pronomen ›ich‹, ist es einmal ausgesprochen, die Auslieferung des Selbst an potenziell feindselige Zuhörer einher. Die Schrift bietet Schutz, die Stim-me liefert den Sprecher aus.

Nach Peter Weiss sucht man in der Lessingpreisrede vergeblich, er lässt sich hier nicht dingfest machen, und doch stand ›derjenige, von dem darin die Rede ist‹, mitten im Hamburger Rathaus, verborgen hinter umständlichen Umschreibungen wie »der, der vor denen stand, die eben noch nach seinem Leben trachteten und jetzt dazu getrieben worden waren, davon abzulassen.« (L 184) Die Bezüge der Re-lativpronomina sind unklar, die Gesichter der Männer im Publikum sind unscharf auf der Fotografi e. Sie stehen weit hinten an der Wand, vermutlich weil sie den Da-men die Sitzplätze überlassen haben.

Weitgehend chronologisch aufgebaut, schwankt die Lessingpreisrede zwischen poetologischem Statement und Erzählung. Dabei fungiert die einleitende Passage als Rahmenhandlung, die das Ende der erzählten Geschichte vorwegnimmt: Dass ein Schrecken in der Sprache steckt, ist Folge des anschließend geschilderten Ge-schehens. Die Tatsache, dass dennoch – wie in der Redesituation selbst – gespro-chen und geschrieben wird, ist ebenfalls Folge der Erzählhandlung, denn es wird von Verlust und Wiederaneignung der Sprache erzählt. Die gefährdete Sprache ist bei Peter Weiss ein Leitmotiv, das immer an Körperbilder geknüpft wird. Entspre-chend markiert der Sprachverlust als Gegenstand der Rede einen Zustand des Zu-rückgeworfenseins auf den ohnmächtigen Leib. So geht die Geste des Enthüllens und Verhüllens der redenden Person mit dem Enthüllen und Verhüllen jener sprach-lichen Ohnmacht einher, von der ebenfalls durchgehend die Rede ist: Die

artiku-lierte Textoberfl äche verdeckt notdürftig die off ene Wunde. Dabei besteht ein Span-nungsverhältnis zwischen dem indirekten Bekenntnis zum ohnmächtigen Stammeln und Lallen und seiner manifesten Widerlegung durch einen Redetext, dessen Wen-dungen keinen Zweifel daran lassen, dass der Autor seiner Sprache mächtig ist.

Ausgehend von dieser Konstellation zwischen redendem Schriftsteller und Pub-likum im Kaisersaal des Hamburger Rathauses im April 1965 werden im Folgenden einige Schritte rückwärts in der Chronologie vollzogen, zunächst hin zum Winter 1964/65, als Weiss vor allem an der Ermittlung arbeitete. Während er sein Stück über die Auschwitz-Prozesse schrieb, entstand auch seine Lessingpreisrede.

1.2 Das Absurde und die »andere Sache«.