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Die Ambivalenz der Spracheroberung, die Gewalt der Fiktion

Sprachentzug und unmögliche Biografi e

2.3 Die Ambivalenz der Spracheroberung, die Gewalt der Fiktion

Aber man kann seine verständigen Absichten nicht immer durchführen. Im Stoff selbst ist oft etwas, wodurch man kommandiert und von seinen ersten Absichten abgelenkt wird. Selbst eine so unschein-bare Leistung wie die Anordnung eines wohlbe-kannten Materials unterwirft sich nicht ganz der Willkür des Autors; sie gerät, wie sie will, und man kann sich nur nachträglich befragen, warum sie so und nicht anders ausgefallen ist.47

Sigmund Freud Über die Krise des Schreibenden im Exil hieß es noch vorausgreifend: »Die Wörter von dieser kompakten Feindlichkeit zu befreien, und nur sachliche Angaben über ein gesammeltes Wissen in ihnen zu sehen, vermochte er noch nicht«. (L 177) Im Verhältnis dazu hat sich am Ende der Lessingpreisrede das Verhältnis zwischen Sprecher und Sprache grundlegend verändert, denn dem Schreibenden ist die Spra-che »nur noch ein Werkzeug unter anderen Werkzeugen«, ihre Funktion besteht darin, »alles, was sich rundum abspielte, zu einem Erkennen« zu führen und »die Vorgänge« zu entmystifi zieren. (L 186) Für die weitere Analyse der Lessingpreisre-de ist es wesentlich, Lessingpreisre-den SchreibenLessingpreisre-den als eine Figur zu betrachten, die weLessingpreisre-der mit dem Redner Weiss noch mit der Erzählinstanz der Rede-Erzählung, noch mit sich selbst identisch ist. Bei der Spracheroberung ebendieses Schreibenden unterlaufen sich Form und Inhalt gegenseitig.

Mit der Zurückeroberung der Sprache, so scheint es, beginnt eine neue Phase im Leben des Schreibenden, eine Zeit, in der die Wörter handhabbar geworden sind:

Die Wörter waren Formeln in einem Übereinkommen, an dem er teilnahm. Es ver-band ihn nichts mit diesen Wörtern als der Wunsch, sie als topographische Werkzeu-ge zu benutzen. Die Wörter hatten für ihn keine Geschichte. Die Wörter waren mit keinen Empfi ndungen beladen. (L 183)

War die erschütternde Gefahr bereits zu Beginn der Rede untrennbar mit der Sprache verbunden, so scheint das Bedrohliche nunmehr gebannt worden zu sein.

47 Sigmund Freud, Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse und Neue Folge, Frankfurt a. M.:

Fischer 1982 (= Sigmund Freud, Studienausgabe, hg. v. Alexander Mitscherlich, Angela Richards u.

James Strachey, Bd. 1), 368.

Nach den eindringlichen Schilderungen sprachlicher Gewalt und Traumatisierung muss die lapidare Feststellung überraschen, dass die Wörter ihrer Geschichte nun-mehr entledigt, »mit keinen Empfi ndungen beladen« seien. Sogar der Schreibende selbst wundert sich über diese Wendung: »Später fragte sich der Schreibende, wie es ihm möglich gewesen war, zur Handhabung eines tauglichen Verständigungs-mittels zurückzufi nden.« (L 185) Der Preis dafür ist hoch: Sprachtheoretisch be-trachtet, bedeutet es einen Rückschritt, die Sprache auf die Funktionen der Reprä-sentation und Bedeutungsvermittlung zu reduzieren. Der Gestus, mit dem der Schreibende seine gesamte bildkünstlerische Schaff ensphase als Abschirmung dis-qualifi ziert, ist an sich auff ällig abschirmend: Die Eroberung der Sprache verlangt off enbar eine rigorose Abgrenzung gegenüber sämtlichen früheren Lebens- und Schaff ensphasen. Die Begründung, mit der das Medium Bild disqualifi ziert wird, ist sonderbar:

Wer in seiner Unsicherheit Bilder entstehen läßt, umringt sich noch mit Gegenstän-den, mit grundierten Flächen, mit angerührten Farben, Flaschen voller Bindemittel, mit Tusche, Kohle, Kreide, Pinseln, mit dem Geruch von Ölen, Harzen, Klebstoff en, er führt ein Handwerk aus, er verwandelt seine Unsicherheit zu etwas Greifbarem.

(L 182)

Die Arbeit mit Bildern wird hier als Projektion eines verängstigten Melancholikers dargestellt, der materielle Gegenstände sammelt, weil er sie als Transferobjekte be-nötigt. Dagegen soll die zurückeroberte eigene Sprache die Fetische entzaubern und die Lähmung durchbrechen, um nunmehr der Kommunikation, Aufklärung und Befreiung zu dienen. Der Schreibende wendet sich zudem von einer Poesie ab, die sich »mit dunklen Worten« begnügt und »Magie vortäuscht«, (L  184) ihm schwebt eine Sprache vor, die alles klar benennen kann. Als führte die Rede die Fi-gur des Schreibenden vor, geht allerdings gerade die Schilderung seiner Hinwen-dung zu einer transparenten Sprache mit einer Vervielfältigung der Sprachmeta-phorik einher: Von einer vernünftigen Ordnung der Begriff e kann dabei nicht die Rede sein, denn anstelle einer Erklärung bietet der Text eine Metaphernkette. Die Worte sind »Wegzeichen« (L 183), die Sprache ist »Material« (L 184), »Werkzeug zwischen anderen Werkzeugen« (L 186) und zugleich etwas, das – vermutlich mit-hilfe von Werkzeug und Material – »neu errichtet« (L 187) werden soll. Diese Her-vorhebung der vielfältigen, scheinbar widersprüchlichen Funktionen von Sprache entspricht keinem reduktionistisch-instrumentellen Sprachbegriff . Über den bil-denden Künstler wird behauptet, er habe »seine Unsicherheit zu etwas Greifbarem«

(L 182) verwandelt. Genauer betrachtet triff t dies auch auf den Schreibenden zu, der eine entsprechende Greifbarkeit mit der Verhärtung der Sprachmetaphorik hin zum Werkzeug, Baumaterial und Ergebnis der Bautätigkeit herstellt. Das Vokabu-lar wird so hart, dass Bindemittel, Harz und Klebstoff e nicht mehr nötig sind. Mit der Sprache wird zudem Land erobert:

Als er begann, in dieser Sprache zu schreiben, und ihm das Auffi nden jedes Wortes eine Entdeckung war und die Festigung eines einzigen Satzes ein Landgewinn, ver-mittelte sich ihm die Vorstellung, daß das Fremdartige und Diff use benannt werden konnte, und dadurch stellte sich der Beginn einer Zuversicht her. (L 182)

Der Schreibende erscheint hier als Kolonisator der Sprache: Ziel ist es, das »Fremd-artige und Diff use« durch Benennung zu erschließen, wobei der Faktor »Zuver-sicht« nahelegt, dass die Aussicht auf Erkenntnisgewinn die territoriale Expansion legitimiert. Als wahrhaft fremd und unbeherrschbar erscheint dabei das aus Sprach-material errichtete Werkzeug zur Eroberung von Sprache, dieses Heer von Meta-phern, das zum Kampf aufgerüstet wird. Wenn rätselhafte Wortzuschreibungen als

›dunkel‹ zu bezeichnen sind, dann sind die Katachresen der Lessingpreisrede selbst daran beteiligt, Magie vorzutäuschen, wie es in abfälliger Abgrenzung über die Tä-tigkeit von Poeten heißt. (L  184) Gerade in der literarischen Beschreibung von Sprache werden Dimensionen des Sprachdenkens formuliert, die sich dem rationa-len Diskurs entziehen. Mit folgender Formulierung unterbricht die Erzählinstanz die Handlung, um den Medienwechsel des Schreibenden anzukündigen:

Worte bezweifeln die Bilder. Worte umkreisen die Bilder und zerlegen sie. Bilder be-gnügen sich mit dem Schmerz. Worte wollen vom Ursprung des Schmerzes wissen.

(L 182)

Subjekt der einzelnen Sätze sind die Worte, die sich nicht mit dem Schmerz »be-gnügen«, denn sie »wollen« wissen. Sicherlich lässt sich diese Wissbegierde als Me-tonymie für die Motivation des aktiven Sprechers verstehen; gewiss kann man das Umkreisen und Zerlegen auf seine analytische Herangehensweise übertragen. Den-noch muss die Formulierung ernst genommen werden, denn sie fügt sich in den Gesamteindruck, dass die Lessingpreisrede den Worten weiterhin eine gewisse Selbsttätigkeit zuspricht. Der innerfi ktionalen Logik zufolge – der Protagonist wech-selt hier gerade vom Medium Bild zur Sprache des Exillands – sind es zunächst die Worte der Fremdsprache, die vor Neugierde über den Ursprung des Schmerzes zu Ikonoklasten werden. Nach umkreisender Zerlegung der Bilder haben sie off enbar ihre Funktion erfüllt und sind ihrerseits überfl üssig geworden. Wenn der Schrei-bende auch die Fremdsprache als Ausdrucksmittel verwirft, entsorgen sich die Worte den Tropen zufolge von selbst: »Wörter, die ihre Unfähigkeit zur Anteilnah-me an der Außenwelt beschrieben, mußten im Kreis laufen und sich dabei zerrei-ben.« (L 185)

Der Untergang dieser Wörter ergibt sich aus der Fortsetzung jener selbsttätigen Kreisbewegung, die in der Lessingpreisrede eine leitmotivische Rolle spielt. Bilde-ten die umherplätschernden Wörter zunächst einen Wirbel, der den Leib des exi-lierten Schreibenden hineinzuziehen und zu vernichten drohte, (L 178) und zerleg-ten sie anschließend in mahlendem Kreise die Bilder, (L 182) so wird ihnen selbst

nun schließlich die gleiche Kreisbewegung in ihrer ultimativen Steigerung zum Verhängnis. Aus der Sicht des Schreibenden erhält somit die zunächst bedrohliche Kreisbewegung einen Sinn zu seinen Gunsten: Er hat das Unkontrollierbare auf-laufen lassen.

Der Kampf um die Sprache liest sich insofern als Kampf gegen die Sprache, und der mehrköpfi ge Drache ist noch lange nicht besiegt worden: Es besteht weiterhin das Problem der schlagenden, sich überstülpenden, ausgrenzenden Erstsprache, de-ren Gefährlichkeit im Verlauf der erzählten Geschichte so eindrucksvoll visualisiert wurde. Wie lässt sie sich überwältigen? Wieder liefert der Text eine Bilderfl ut an-stelle einer Erklärung: Es scheint, als habe der Schreibende den Sieg über die ge-walttätige Muttersprache durch systematische Vernachlässigung errungen, durch Hinwendung zu anderen Medien: »[E]r hatte es vermieden, diese Sprache zu spre-chen, um die neuen Wörter, die er zum Überleben brauchte, nicht zu gefährden«.

(L 185) Die Schilderung gelangt über die Vorstellung allgemeiner Entwurzelung schließlich zum Bild der leblosen Hülle und stellt somit konnotative Bezüge zu ei-ner schlecht behandelten Pfl anze her: »Die Wurzeln der Wörter waren verwittert, die Wörter standen losgelöst von ihrem Ursprung, oft nur als leere Gehäuse, denen er erst einen Inhalt geben mußte.« (L 187) Die Vernachlässigung der Erstsprache hat sich als wirksames Mittel erwiesen. Aus dem nunmehr leeren, verwitterten Material errichtet der Schreibende seine eigene neue Sprache, eine, die mit »keinen Empfi n-dungen« (L 183) beladen ist.

Wie ist dies zu verstehen? Die Rede von ›verwitterten Wurzeln‹ legt nahe, dass der Schreibende, im Sinne Derridas, »mit der Wurzel oder mit der angeblich natür-lichen oder heiligen Ursprünglichkeit der Muttersprache« (E 110)48 gebrochen hat.

Martin Rector beschreibt den Vorgang als »eine Art sprachliches Purgatorium«; das Ergebnis sei eine »vom aff ektiven Wärmestrom gereinigte und geläuterte Sprache«.49 Die Reinigung und Läuterung scheint zugleich als eine Form der Abtötung ge-dacht zu werden: Das Bild von leeren, losgelösten Gehäusen, deren Inhalt infolge einer Wurzelverwitterung verschrumpft ist, evoziert den Eindruck nicht nur von leblosem, sondern geradezu von gestorbenem Material, dessen vorgängige Leben-digkeit damit vorausgesetzt wird. Wer suggeriert, die Sprache sei gestorben, ani-miert sie im gleichen Atemzug. Analog dazu ist keineswegs davon die Rede, die Sprache sei kraftlos, nein: der Schreibende hat sie »entkräftet« (L 184). Wer Werk-zeug aus solchem Material herstellt, sollte sich nicht wundern, wenn die WerkWerk-zeug- Werkzeug-kiste manchmal von allein poltert. Diese Beispiele verdeutlichen, dass die Lessing-preisrede nur oberfl ächlich betrachtet einem rein instrumentellen Sprachbegriff verfallen ist.

48 Vgl. »rompre […] avec la racine ou avec l’originarité présumée naturelle ou sacrée de la langue ma-ternelle«. (M 111)

49 Rector, »Laokoon oder der vergebliche Kampf gegen die Bilder«, 30.

Genau dort, wo der Schreibende sich scheinbar endgültig vom Bild abwendet, zieht er zudem ein Vorbild aus dem Bereich der bildenden Kunst heran: Die Hal-tung, die er bei der Spracheroberung benötigt, entspricht der Beschreibung von Körperhaltung und Mimik des älteren Sohnes in der berühmten Skulpturengruppe um Laokoon. Mit einem jähen Einschnitt in die Erzählhandlung zieht der Redner diese Plastik heran. Alle Betrachter der Skulptur wissen: Es ist kurz vor dem Unter-gang, Vater und Söhne sind von Schlangen umwunden, »[u]naufhörlich bleibt La-okoons Bauch eingezogen, unaufhörlich sind seine Muskeln gespannt, in der Er-wartung des tödlichen Bisses« (L 180). Warum schreit er nicht? Die Rede überspringt diese Frage und widmet sich einer pragmatischen Erwägung: Die Körperhaltungen der Figuren werden auf ihren jeweiligen Handlungsspielraum hin überprüft. Lao-koon und sein jüngster Sohn sind bereits dem Tod geweiht, ihre Münder sind »halb geöff net, nicht zu einem Schrei, sondern in der letzten Anstrengung vor dem Er-matten« (L 180). Dagegen scheint der ältere Sohn mit hochgezogenem Bein und nach unten gestreckter Hand eine Schlange abschütteln zu wollen, die sich um sein Fußgelenk windet. Der Fokus auf dieses exzentrische Moment der Skulptur unter-scheidet Weiss’ Beschreibung von einer klassizistischen Ekphrasis, die Ruhe, Maß und Ausgleich der Komposition betonen würde: Die Lessingpreisrede schöpft Hoff -nung daraus, das optische Gleichgewicht der Skulptur und entsprechende Sehge-wohnheiten zu stören. Hier wird eine Sprengung in die Skulpturengruppe hinein-interpretiert: Der ältere Sohn »bricht sich aus dem Statuarischen heraus« (L 180), aus dem Inneren der Plastik heraus betreibt er Ikonoklasmus. Dabei besteht die Vo-raussetzung seiner Rettung in seiner Distanz zum tödlichen Zentrum, die durch seine Haltung, Gestik und Mimik noch vergrößert wird. Vom Rand der Skulptu-rengruppe aus »weist [er] auf das Geschehen hin«:

Er kann es überblicken. Sein Gesichtsausdruck zeigt Ekel und Furcht. Mit seiner nach außen gewandten Haltung gibt er seine Absicht kund, der Umschnürung zu entfl iehen. Listig rechnet er noch mit der Möglichkeit, verschont zu bleiben. (L 180)50 Der Schreibende hat sich abgehärtet, er betreibt Mimesis an einer Skulptur. Die Verhärtung der Sprachmetaphorik entspricht der Haltung des Sohnes in der Skulp-turengruppe dort, wo greifbare Werkzeuge und topografi sche Instrumente anstelle von wuchernden Wortanhäufungen treten. Man muss sich den Schreibenden mit

50 In der Ästhetik des Widerstands greift Weiss auf die gleiche Struktur zurück: Unmittelbar vor seiner Hinrichtung schreibt die Romanfi gur Heilmann einen Brief an »Unbekannt«, also an den schrei-benden Erzähler, dem die Rolle des älteren Sohnes in der Peripherie zukommt: »Auch wenn ich glaubte, Einsicht zu haben in vieles, ist alles jetzt so ineinander verschlungen, [Herv. JW] daß ich nur winziger Fäden habhaft werden kann. Du, an deinem Ort, besitzt größern Überblick [Herv. JW], kannst vielleicht einmal, wenn dich meine Zeilen erreichen sollten, die Zusammenhänge deuten«.

(ÄdW III 210)

hochgekrempelten Ärmeln vorstellen, als würde er seine Ohnmacht gegenüber der Sprache durch ein Bündel von Aktivitäten überdecken wollen.

In manchen Passagen agiert der Schreibende als Feldwebel seiner eigenen Spra-che: Er befi ndet sich »mit ihnen [den Worten] in einer äußerst kargen ausgebrann-ten Gegend« (L 183), als wäre er am Ort der Zerstörung mit einer Truppe aus Wor-ten eingetroff en, die für eine neue Ordnung sorgen sollen. Während der Schreibende die Kontrolle beschwört, suggeriert die Erzählinstanz immer drastischere Formen unkontrollierbarer Sprachdynamik:

Oft, wenn der Schreibende sich seiner Wörter bedient, stellen sie sich im Flug der Ge-danken ein und spiegeln seine Erwägungen. Doch manchmal, wenn er sich darauf besinnt, was er eigentlich vorhat, wollen ihm die Wörter entgleiten, und er muß sich jedes Wort einzeln heraufsuchen und erobern, um es einzugliedern in seine Sprache.

(L 170)

Es sind die Wörter, nicht der Schreibende, die die Bedingungen des Schreibens dik-tieren, entweder »wollen« die Wörter, oder sie wollen nicht. Bei Freud geht die Vor-stellung, dass das Bewusstsein eines Schreibenden den Schreibprozess nie souverän lenken kann, bekanntlich mit dem Ideal einer Off enheit gegenüber dem Unbe-wussten einher. Freud hat einmal erklärt, dass seine Arbeit ganz dem UnbeUnbe-wussten nachgeschrieben sei, nach dem Prinzip von Itzig dem Sonntagsreiter: »Itzig, wohin reit’st Du? Weiß ich, frag das Pferd«.51 Auch die Lessingpreisrede befasst sich mit Kräften, die sich der Willkür des Schreibenden widersetzen und die Vorstellung ei-nes sprachlichen Unbewussten nahelegen. Th ematisiert wird jedoch vor allem, dass der Schreibende, anders als Freud in seiner Selbstbeschreibung, keineswegs off en und gelassen mit diesem Phänomen umgeht. Wenn er die Worte nicht zur Hand hat, schreitet Weiss’ Schreibender in einem reaktiven Folgeschritt zur Tat: Er muss jedes Wort »einzeln heraufsuchen«, »erobern« und »eingliedern« – es spricht der Wille zur Disziplinierung. Dieser Wille ist allerdings nicht der Wille der Worte, die Beschreibung setzt voraus, dass Worte aktiven Widerstand gegen den Schreibenden ausüben. Liest man die Tropen genau, wird die grundsätzliche Unberechenbarkeit der Sprache weiterhin implizit vorausgesetzt, sie führt ein nächtliches Doppelle-ben, in ihr regt sich eine Fluchtbewegung:

Nur hin und wieder, beim Aufwachen nachts, konnte sich die Sprache auf eine weit entfernte Ebene entziehen […]. Und wenn er dann die Wörter wiedergewann, waren sie dürr und trocken, und hinter jedem Wort hing die Gefahr des Verstummens.

(L 187)

51 Sigmund Freud, Briefe an Wilhelm Fliess. 1887–1904, hg.  v.  Jeff rey Moussaieff Masson, Frank-furt a. M.: Fischer 1986, 348 f. (Brief vom 7.7.1898).

Die Sprache entzieht sich ihrem Feldwebel, dem Sprecher, sie büxt aus und deser-tiert, wobei die Metaphorik eine gespenstische Gestalt heraufbeschwört, die das Grauen lehrt: Dürr und trocken, nur noch ein Schatten ihrer selbst jagt sie nachts über die entfernte Ebene, vermutlich mit ihren verwitterten Wurzeln in rasselndem Schlepptau. Off enbar sind die Wörter untot, off enbar sucht die getötete Sprache den Sprecher heim.

Genau genommen verhält es sich allerdings genau umgekehrt: Der Sprechende sucht die Sprache heim, denn er ist es, der ihr hinterherjagt. Geschildert wird nicht nur die unheimliche Autonomie der Sprache, sondern auch das kaum weniger un-heimliche Verhalten des Schreibenden im Kampf gegen diese rhetorisch evozierte Kraft. Mag die Sprache noch gelegentlich ausreißen, so befi ndet sie sich stets auf der Flucht vor ihrem Herrn, dem Schreibenden, der sie immerfort obsessiv auf-sucht, um sie erneut zu erobern und einzugliedern. Immerhin ist sie der Gewalt des Gegners entrissen, tröstet sich der Schreibende, doch sein Beharren auf das Besitz-verhältnis verfügt über einen eigentümlichen Unterton:

Doch immerhin konnte er jetzt sagen, daß dies seine Sprache war. Die Sprache gehör-te ihm, mit all ihren Unzulänglichkeigehör-ten, mit ihrer Tendenz zur Selbstaufl ösung und mit ihrer plötzlich auftretenden Klanglosigkeit. Im Vergleich mit der Leere, durch die er gegangen war, war dies schon viel. (L 187)

Wie klingt eine plötzlich auftretende Klanglosigkeit? Was bedeutet es für ein Be-sitzverhältnis, wenn das Objekt des Besitzes zur Selbstaufl ösung tendiert? Der Schreibende hat seine Sprache im Namen der Erkenntnis und des Fortschritts aus getötetem Material errichtet, allerdings nie die Kontrolle über sie gewonnen. Die Sprache ist sein verstümmeltes und zusammengefl icktes, verletztes und beängsti-gendes Monstrum.

Aus der Alienation gegenüber der Sprache werden in den Texten von Weiss und Derrida scheinbar konträre Schlussfolgerungen gezogen. Immerhin, sagt Weiss’ Er-zähler im Namen seines Schreibenden, sei dies seine Sprache. (L 187) »Niemals«, beharrt dagegen Derrida, werde die Sprache »die meinige sein«. (E 12)52 Während in der Lessingpreisrede die dunklen Worte täuschen, (L 184) verortet Derrida die gefährliche Täuschung im Anspruch einer transparenten Sprache als Mittel zum Zweck der Entlarvung: Das Verlangen, die Sprache vollkommen zu kontrollieren, sei nur scheinbar konstruktiv. Derrida betont, dass die beherrschte Sprache stets Ge-fahr laufe, »wiederum eine Sprache des Herren und manchmal diejenige der neuen Herren sein zu wollen«. (E 121)53 Wer behaupte, seine Sprache zu besitzen, könne

52 Vgl. »[C]ette seule langue, […] jamais ce ne sera la mienne«. (M 14) Vgl. auch »Ce que j’ai du mal à entendre, c’est tout ce lexique de l’avoir, de l’habitude, de la possession d’une langue«. (M 42)

53 Vgl. »l’avant-première langue peut toujours courir le risque de devenir ou de vouloir être encore une langue du maître, parfois celle de nouveaux maîtres«. (M 119)

dies nur in einem Prozess »phantasmatisch-politischer Konstruktion« aussprechen, denn die Sprache sei nicht sein natürliches Gut. Der Sprecher könne nur »durch die Vergewaltigung einer kulturellen, das heißt immer wesenhaft kolonialen Usur-pation, vortäuschen […], daß er sie sich aneignet um sie als ›die Seinige‹ aufzurich-ten«. (E 44)54

Weiss’ Schreibender nimmt sich vor, wovon ihm Derrida abraten würde, und betrachtet genau das als Pfl icht, was für Derrida eine gefährliche Versuchung dar-stellt. Dennoch treff en sich die Texte an mehreren wesentlichen Punkten: Sie beto-nen beide, dass Sprachaneignung kein friedliches Unterfangen ist und dass die

Weiss’ Schreibender nimmt sich vor, wovon ihm Derrida abraten würde, und betrachtet genau das als Pfl icht, was für Derrida eine gefährliche Versuchung dar-stellt. Dennoch treff en sich die Texte an mehreren wesentlichen Punkten: Sie beto-nen beide, dass Sprachaneignung kein friedliches Unterfangen ist und dass die