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die Personae der Radikalisierung

1.1 Ein komischer Partisan

Mit den Neuerungen der Aufnahmeapparatur, die es erlauben, den Redenden während der Rede unbegrenzt vielen vernehm-bar zu machen, tritt die Anstellung des politischen Menschen vor dieser Aufnahmeapparatur in den Vordergrund. […] Das ergibt eine neue Auslese, eine Auslese vor der Apparatur, aus der der Star und der Diktator als Sieger hervorgehen.5

Walter Benjamin Inferno wurde zu Lebzeiten von Peter Weiss weder publiziert noch aufgeführt. Da-für wirkt die Regieanweisung zum Bühnengelächter rückblickend wie die

3 Der »kritische Refl ex«, der das Sentimentale dem Trivialen gleichsetzt, sei Martin von Koppenfels zufolge die Leistung einer langen Traditionslinie, die sich antipathetisch gibt. Inzwischen habe sich der Begriff des Sentimentalen so weit ausgeweitet, dass die bloße Darstellung des erwartbaren Ge-fühls zum erwartbaren Zeitpunkt am erwartbaren Ort als potenziell sentimental bzw. trivial gilt (Koppenfels, Immune Erzähler, 17).

4 Vgl. u. a. Jens-Fietje Dwars, Und dennoch Hoff nung, Berlin: Aufbau Verlag 2007, 163.

5 Walter Benjamin, »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« [Zweite Fassung], in: ders., Gesammelte Schriften I.2, unter Mitwirkung von Th eodor W. Adorno und Gershom Sholem, hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M.: Suhr-kamp 1980, 471–508, hier 491 f. (Fußnote).

sche Vorwegnahme der Wechselwirkung zwischen Weiss und der medialen Öff ent-lichkeit ein halbes Jahr nach der Abgabe des Stücks an den Suhrkamp-Verlag. Im Mai 1965, also nur vier Wochen nach der Verleihung des Lessingpreises und weni-ge Monate vor der Urauff ührung von Die Ermittlung, veränderte sich die öff entli-che Rolle von Weiss schlagartig, wobei es aussah, als hielten sich seine bundesrepu-blikanischen Kritiker genau an das erst im Jahr 2003 publizierte Dramenfragment:

»Peter Weiss als Partisan? Zum Lachen«, schreibt der Münchner Merkur am 21. Mai 1965, »[g]laubt er denn, daß […] er in West-Berlin den Marat-Psychologen, in London den Sadisten und in der Sowjetzone den marxistisch-kommunistischen Weltprediger spielen kann, ohne daß ihm einer das Geschäft nachrechnet?«6 Die Berliner Stimme zählt Weiss’ zahlreiche Auff ührungsdaten in Westdeutschland auf und spottet: »Ein tüchtiger Partisan, der Peter Weiss, der off ensichtlich bei der Ver-breitung der ›Wahrheit‹ auf keine nennenswerten Schwierigkeiten stößt. Ein Hypochonder?«7 Der Wiesbadener Kurier spricht von der »Verfolgung und Ermor-dung der Wahrheit, dargestellt durch die Schauspieltruppe zu Weimar unter Anlei-tung des Herrn Peter Weiss«8 – und so weiter, kreuz und quer durch die Republik, von den großen Boulevardblättern über die kleinen Lokalzeitungen bis zu den füh-renden Feuilletons. Die literarische Dante-Figur hat den Lorbeerkranz von sich ge-worfen. Was hat nun der Schriftsteller Weiss getan, um diese symbolische Geste so eff ektiv in Handlung zu übertragen, dass die Reaktion wie eine Fortsetzung des grölenden Dramengelächters anmutet?

Es handelt sich um politische Positionierungen, die niemand von ihm erwartet hätte. Nur wenige Wochen nach Verleihung des Lessingpreises trat Weiss mit Äu-ßerungen hervor, die den Tonfall in der Berichterstattung über seine Person abrupt umschlagen ließen. 1965 ist das Jahr, in dem Weiss mit zunehmender Entschlos-senheit zu literarischen Formen greift, bei denen die politischen Inhalte unüberseh-bar werden. Mit seinen öff entlichen Stellungnahmen zur aktuellen Weltpolitik be-gibt er sich auf vermintes Gelände, bringt seinen Verleger in Verlegenheit und wird plötzlich – wenn auch nur vorübergehend – zum Günstling der Kulturpolitik der DDR. Weiss belässt es nämlich nicht bei der Th ematisierung des Nationalsozialis-mus. Am 22. Mai 1965 blickt Neues Deutschland (Berlin/Ost) mit Schadenfreude nach Westen:

6 Michael Müller, »Warum nicht nach Weimar?« (Münchner Merkur, 21.5.1965), in: AGW 98.

7 Anonymus, »Partisan Weiss, die Wahrheit und die Augenheilkunde« (Berliner Stimme, Berlin/

West, 29.5.1965), in: AGW 115–116, hier 116.

8 Rudolf Krämer-Badoni, »Peter Weiss hat recht« (Wiesbadener Kurier, 22.5.1965), in: AGW 103–

104, hier 103.

Weiss-Glut ist eine neue Krankheit. Wie wir gleich sehen werden, gehört sie zur Gruppe des Rot-Sehens, einem Leiden, das auch als Straußischer Blick bekannt ist.

Datum ihres Auftretens: Donnerstag und Freitag dieser Woche. Bazillenträger: west-deutsche und Westberliner Konzernpresse. Leidensgrund: der Ruf aus Weimar.9 Der Umbruch in der öff entlichen Wahrnehmung von Peter Weiss lässt sich auf den 19. Mai 1965 datieren. Auf Einladung von Anna Seghers und Arnold Zweig war Weiss in die DDR gereist, zum Internationalen Schriftstellerkongress in Weimar.

Dort unterzeichnete er den »Ruf aus Weimar« mit, dessen Auff orderung darin be-stand, »mit Geist, Herz und Talent solidarisch zu kämpfen gegen off enen und ge-tarnten Faschismus, gegen die Aggressionen des Imperialismus und gegen den Atomkrieg. […] So wenden wir, Schriftsteller aus 52 Ländern, uns an alle, die heu-te schreiben: Nehmt unseren Ruf aus Weimar auf!«10 Anschließend trat Weiss ans Mikrofon und hielt spontan jene Stegreifrede, die die Fernschreiber in den Redak-tionen rund um die Welt tickern lassen sollte. Zunächst beklagt er die Abwesenheit westdeutscher Schriftsteller und anschließend formuliert er die Worte, die zum Auslöser der oben zitierten Kommentare werden sollten:

Für uns, die wir in der westlichen Gesellschaft leben und arbeiten, ist die Verbreitung der Wahrheit, von der Brecht spricht, mit großen Schwierigkeiten verbunden. Zu-nächst müssen wir die erste Schwierigkeit überwinden, die Wahrheit überhaupt auf-zufi nden, und wenn wir sie gefunden haben, müssen wir als Partisanen arbeiten, um die Wahrheit zu verbreiten.11

Während Weiss einerseits seinen Status als einsamer deutschsprachiger Vertreter aus dem Westen betont, legt andererseits das Wort »wir« nahe, dass er als Teil einer dort operierenden Untergrundbewegung agiert. In der Bundesrepublik reagierte man spöttisch auf die Rede vom Partisanenleben. Ein Partisan führt Kampfhand-lungen in einem Gebiet durch, in dem eine andere reguläre Gewalt offi ziell den Herrschaftsanspruch erhebt. Indem der gefeierte Erfolgsschriftsteller Weiss ent-sprechende Vorstellungen vom widerständigen Schreiben auf seine gegenwärtige Situation bezieht, suggeriert er, dass er seinem Beruf nur unter großen Entbehrun-gen, in konspirativem Kampf gegen etablierte Mächte nachgehen kann, dass er Ge-walt ausüben und sich aufopfern muss. Weiss erklärt es zu seinem Kampfziel, die

»Wahrheit, von der Brecht spricht« erstens aufzufi nden und zweitens zu verbreiten.

Es wirkt somit, als habe er Brechts »Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der

9 Klaus Höpcke, »Weiss-Glut« (Neues Deutschland, Berlin/Ost 22.5.1965), in: AGW 102.

10 »Ruf aus Weimar. Manifest der Schriftsteller aus 52 Ländern« (Neues Deutschland, Berlin/Ost, 20.5.1965), in: AGW 95–96, hier 95, Fußnote 2.

11 Peter Weiss, »Partisanen der Wahrheit« (Neues Deutschland, Berlin/Ost 21.5.1965), in: AGW 100.

Wahrheit«12 auf zwei Punkte reduziert und verallgemeinert: Brecht bezog sich 1939 auf die Schwierigkeiten eines oppositionellen Schriftstellers in einer faschistischen Diktatur, Weiss jedoch lebt in Stockholm und hält sich im Westdeutschland der 1960er-Jahre auf. Vor allem der Widerspruch zwischen behaupteter Isolation und tatsächlicher Popularität wirkt provozierend: »Was zwingt Sie hinter die Hecke?«, fragt die Münchner Zeitschrift Quick, als hätte man soeben einen Erwachsenen beim Heckenschützenspiel im Kleingartenbereich entlarvt:

Sie fühlen sich […] als Partisan? Nennen Sie die Hindernisse, die Schwierigkeiten, über die Sie ausgerechnet in der Bannmeile nachkriegsdeutscher Despotie klagten!

Wurde Ihr Fluchtpunkt heimlich in der Nacht gedruckt und im Morgengrauen von Gesinnungsfreunden auf den Treppenhäusern der konformistischen Bürger gestreut?

Gelangte Ihr Marat in einem verborgenen Keller, gefl üstert wegen der Ohren der Spitzel, zur Auff ührung? Oder schrieen die Irren von Charenton die Wahrheiten von Sade-Marat-Weiss […] in die Ohren des Publikums?13

Weiss’ Äußerungen wirkten historisch überholt und tagespolitisch naiv. Als Skan-dal, als Hohn wurde seine Stegreifrede vor allem angesichts der Verfolgung von Dissidenten auf der östlichen Seite des eisernen Vorhangs aufgenommen.14 Dafür war seine Infragestellung der Meinungsfreiheit im Kapitalismus bestens dazu geeig-net, für Applaus von offi zieller Seite in der DDR zu sorgen, zumal der kämpferi-sche Tonfall zumindest auf den ersten Blick an die Prinzipien der Kulturoff ensive erinnert, denen zufolge die Kultur als ›Waff e‹ bei der Verfechtung des politischen Systems zu fungieren habe.15

12 Bertolt Brecht, »Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit«, in: ders., Schriften 2, Frank-furt a. M., Berlin, Weimar: Suhrkamp u. Aufbau-Verlag 1993 (= Bertolt Brecht, Werke. Große kom-mentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, hg. v. Werner Hecht u. a., Bd. 22), 74–89.

13 Matthias Walden, »Was zwingt Sie hinter die Hecke? Off ener Brief an Peter Weiss« (Quick, Mün-chen 13.6.1965), in: AGW 130–132, hier 131.

14 Vgl. dazu Martin Rector, »Der zensierte Sympathisant. Zur selektiven Rezeption von Peter Weiss in der DDR«, in: Studia Germanica Posnaniensia 12 (1995), 139–163, hier 152 f. Rector nennt die pu-blizistischen Beiträge der beiden DDR-Flüchtlinge Matthias Walden sowie Günter Zehm, die mitt-lerweile neu erschienen sind: AGW 130–132 (Walden, Quick); AGW 194–107 (Zehm, Die Welt).

15 Die rhetorische Ausrüstung der DDR-Kulturpolitik basierte hauptsächlich auf den in den 1930er-Jahren entstandenen Prinzipien der Kulturoff ensive, die im April 1959 auf der Bitterfelder Konfe-renz mit einem Schlagwort zum Ideal erhoben wurden: »Greif ’ zur Feder, Kumpel«. Vgl. Birgitta Almgren, »Peter Weiss im Spannungsfeld zwischen Kunst und Politik. Rhetorik im Kalten Krieg am Beispiel von Berichten der DDR-Kulturbehörden«, in: Studia Neophilologica 79 (2007), 215–

232, hier 230, Fußnote 12. In diesem Sinne wies der Ostberliner Fernsehkommentator Karl-Edu-ard von Schnitzler vor sowjetischen Soldaten auf die gemeinsame Front der Kulturarbeiter und Ar-meeangehörigen hin: »Wir sind Waff enbrüder, ihr Soldaten erfüllt eure Pfl icht zu Lande, zu Was-ser und in der Luft, wir Fernsehleute im Äther«, 215.

Es täuscht allerdings der Eindruck, Weiss’ spontaner Beitrag lasse sich nahtlos mit der staatlichen Rhetorik der DDR und dem gemeinsamen »Ruf aus Weimar«

verbinden. Wie sich später gezeigt hat, erzeugte Weiss’ Stegreifrede von Beginn an Argwohn in den kulturpolitischen Kreisen der DDR: Die Rolle eines »Partisanen«

wirkte ideologisch verdächtig, klang zu sehr nach Spontaneität und Anarchismus.16 Sich gar als einsamer Partisan auf ein ausgesprochen nebulös gehaltenes Kollektiv zu berufen, ist sehr weit von einem Bekenntnis zur Parteidoktrin der SED entfernt.

Nur zu Beginn konnte man darüber hinwegsehen, um den prominenten Überläu-fer zu feiern.

Mit seiner Stegreifrede machte sich Weiss keine Freunde, und gerade deshalb ist sie der Rede wert. Ihre Relevanz besteht weniger in der Solidarisierung mit der DDR als in der Abgrenzung von der BRD. Auf dem Höhepunkt seiner Anerken-nung in der Bundesrepublik machte Weiss, wie es Katja Garloff treff end beschrie-ben hat, seine Außenseiterposition wieder geltend.17 Im Rückblick ist der Eff ekt der Weimarer Stegreifrede auff älliger als ihre Aussage, denn die heftige Dynamik, die sie ausgelöst hat, geht weit über das explizit Th ematisierte hinaus – und das Ge-lächter reicht tiefer als sein Anlass.

1.2 Peinlichkeit und Parodie. Das Eigenleben der ›Weimarer Stegreifrede‹

Sein Name ist ein Ärgernis, und nur wer dem ohne Schönfärberei sich stellt, kann hoff en, weiterzuhelfen.18

Th eodor W. Adorno über Heinrich Heine (1956) Es lohnt sich, die Dynamik um das Redeereignis in Weimar noch näher zu betrach-ten, denn beim Wechselspiel zwischen Weiss und der Öff entlichkeit um 1965 bil-dete die politische Kontroverse nur eine Ebene. Im Westen schwankten die

16 Dies wurde u. a. deutlich in: Heinz Plavius, Zwischen Protest und Anpassung. Westdeutsche Literatur, Th eorie, Funktion, Halle: Mitteldeutscher Verlag 1970, 51, zitiert nach Rector, »Der zensierte Sym-pathisant«, 153: »Das Engagement erleidet […] Rückschläge und Einbußen, wo es spontan-parti-sanenhaft agiert, wo es nicht die Kräfte organisiert, die zur Durchsetzung eines Anliegens auch in der Lage sind […]. Dies aber ist die Partei.«

17 Garloff , »Peter Weiss’s Entry into the German Public Sphere. On Diaspora, Language and the Uses of Distance«, 64: »Th e shift from the Divina Commedia project to documentary theatre trans-forms the vulnerable subjectivity of the returning exile into a hyper-objectivity that may be regard-ed as a protective mechanism on Weiss’ part, but that was also likely to produce an unsettling eff ect on its audience.« Diese Beobachtung soll im Folgenden vertieft werden.

18 Th eodor W. Adorno, »Die Wunde Heine«, in: ders., Noten zur Literatur, Frankfurt a. M.: Suhr-kamp 1998 (= Th eodor W. Adorno, Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann, Bd. 11), 95–

100, hier 94.

ven Reaktionen nicht nur zwischen inhaltlicher Kritik und antikommunistischer Hysterie, sondern betrieben darüber hinaus eine überwiegend einstimmige Stilkri-tik. In den Augen der Kritiker stellten Weiss’ Presseverlautbarungen off enbar einen mustergültigen Fall von ›Parenthyrsos‹ dar: Das übertriebene oder unangemessene Pathos galt bereits in der antiken Enthusiasmuslehre als rhetorischer Kardinalfeh-ler, der in Schwulst und unfreiwillige Komik mündet.19 Weiss’ feierliche Selbststili-sierung, sein Kampfaufruf sowie die emphatische Rede von der »Wahrheit« wurden als Habitus angegriff en und lieferten Zündstoff für die lauff euerartige Verbreitung parodierender Zeitungskommentare. Der pathetische Tonfall wirkte wie eine äs-thetische Provokation, und diesen Skandal setzte Weiss bei aller Diff erenzierung der politischen Aussage in der Folgezeit fort. Während seine Stegreifrede ein Beispiel da-für liefert, wie die Abwesenheit von Ironie Parodien sogartig anzieht, wirken die ag-gressiven Untertöne der kritischen Artikel dem ersten Eindruck entgegen, die Paro-disten würden sich durch Gelassenheit vom Objekt ihrer Kritik unterscheiden. Was bewirkte ihre Unruhe, woher rührte das Unbehagen?

Henri Bergson zufolge paart sich Komik stets mit Gefühllosigkeit: Das Lachen setze eine zeitweilige »Anästhesie des Herzens« voraus und bediene sich der Ge-meinschaft der Gruppe, die sich gegen eine gemeinsame Beute richte.20 Das Wort

»Beute« legt nahe, dass das Gelächter nicht nur auf Abwehr und Ausgrenzung, son-dern zugleich auf Einverleibung zielt. Entsprechend hat Walter Benjamin den Sati-riker als Menschenfresser identifi ziert,21 während Elias Canetti im Lachen den mi-mischen Rest eines aufgegebenen Beuteverhaltens erkennt: Der Mensch, der lachend sein Gebiss entblößt, war einmal ein Tier, er spürt noch den Reiz, sich der gestürzten Beute zu bemächtigen.22 Freud hat den Zusammenhang zwischen Ge-lächter und intensiv peinlichen Aff ekten erläutert: Das GeGe-lächter beziehe seine Kraft aus dem gesparten Hemmungsaufwand, wobei es zwischen dem Komi-schen und dem Witz zu unterscheiden gelte: Anders als der Witz werde das Naiv-Komische nicht gemacht, sondern vom Zuhörer gefunden, und zwar dann, wenn der Produzent des Naiven sich mühelos über eine Hemmung hinwegsetzt, die für

19 Siehe Lexikonartikel »Parenthyrsos«, in: Gert Ueding (Hg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2003, Bd. 6, Sp. 577 f. Zu den gängigen Topoi der Pathoskritik vgl. Ulrich Port, »Vom erhabenen Drama der Revolution zum Selbstgefühl ihrer Op-fer. Pathosformeln und Aff ektdramaturgie in Büchners Dantons Tod«, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 123 (2003), 206–225, hier 209.

20 Henri Bergson, Das Lachen. Ein Essay über die Bedeutung des Komischen, übers. v. Roswitha Plan-cherel-Walter, Hamburg: Felix Meiner Verlag 2011, 15.

21 Walter Benjamin, »Karl Kraus«, in: ders., Gesammelte Schriften II.1, unter Mitwirkung von Th eo-dor W. Aeo-dorno und Gershom Sholem hg.  v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1980, 334–367, hier 367.

22 Elias Canetti, Masse und Macht, München: Hanser 1979, Bd. 1, 248. Hierzu vgl. Manfred Schnei-der, »Ahnen des Gelächters. Canettis Exorzismus des Komischen«, in: Jahrbuch für Internationale Germanistik 44 (1995), 49–60.

den Zuhörer absolut existent ist. Frech sei hingegen, wer die Hemmung bewusst überwindet.23 Burkhard Meyer-Sickendiek hat auf dieser Grundlage die bereits bei Bergson angedeutete normierende Funktion der Parodie erläutert: Sie vollziehe eine Abgrenzung gegenüber einem »anderen Wesen« oder einem »anderen literari-schen Zeugnis«, das die ästhetische beziehungsweise kulturelle Verbotsskala der Gesellschaft zu durchbrechen droht.24 Hinter der imitatio einer für peinlich befun-denen Person oder eines für peinlich befunbefun-denen Stils steckt die tiefe Unlusterfah-rung gegenüber dem anderen, der durch Gelächter ausgegrenzt werden muss.

Das grölende Gelächter und die parodierenden Kommentare über Peter Weiss lassen vermuten, dass ein Schaudern peinlicher Berührtheit jene Öff entlichkeit durchzog, die ihn noch kurz zuvor als einen der größten Nachkriegsschriftsteller gefeiert hatte. Besonders verstörend mag Weiss’ Absturz ins Lächerliche auf jene gewirkt haben, die sich mit Ror Wolf darüber gefreut hatten, dass die deutschspra-chige Literatur mit Weiss »erheblich an Potenz gewonnen« habe.25 Als Weiss nur vier Jahre zuvor, im Herbst 1960, mit dem Mikroroman Der Schatten des Körpers des Kutschers von einem brotlosen schwedischen Künstler zum avantgardistischen Geheimtipp der literarischen Szene der Bundesrepublik avancierte, galt er als

»Sprachexperimentator« und »Wortgraphiker«, als »experimenteller« bis »esoteri-scher« Schriftsteller.26 Noch in der Rezeption seiner autofi ktionalen Erzählungen Abschied von den Eltern und Fluchtpunkt nannte man ihn vor allem einen

»subjektivistische[n] Meister der Introspektion«.27 Im Jahr 1962 verriet Hans Ma-gnus Enzensberger im Spiegel-Interview: »Der Schatten des Körpers des Kutschers

23 Sigmund Freud, »Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten«, in: ders., Psychologische Schriften, Frankfurt a. M.: Fischer 1982 (= Sigmund Freud, Studienausgabe, hg. v. Alexander Mit-scherlich, Angela Richards u. James Strachey, Bd. 4), 9–219, hier 170–175 u. 202–205. Zum Ver-hältnis des Komischen zum Unheimlichen bei Freud vgl. Burkhardt Lindner, »Den ›Autor‹ Freud entdecken. Eine Lektüre der Abhandlungen über den Witz und über das Unheimliche«, in: Rolf Haubl u. Tilmann Habermas (Hg.), Freud neu entdecken. Ausgewählte Lektüren, Göttingen: Van-denhoeck & Ruprecht 2008, 90–116.

24 Burkhard Meyer-Sickendiek, »Die Peinlichkeit in der Parodie«, in: ders., Aff ektpoetik. Eine Kultur-geschichte literarischer Emotionen, Würzburg: Königshausen & Neumann 2005, 407–423, hier 417: »Wir haben es off enkundig sowohl im Peinlichkeitsgefühl als auch in der Parodie mit einer kritischen Reaktion gegenüber einer aus kultureller Perspektive heterogenen Erscheinungsform zu tun: der peinlichen Person wie des parodierten Textes.« Vgl. auch 407; 415; 418. Literaturhisto-risch betrachtet sei die Parodie als logische Begleitung des Individualstils zu begreifen. Gleichzeitig fungiere sie als Relikt normierender Regelpoetiken: Gottsched zufolge müsse der »gute Ge-schmack« mit den Regeln übereinkommen, die von der Vernunft gesetzt wurden. Verstöße dage-gen gehören parodiert, wobei deplatzierter »hymnischer Enthusiasmus« als besonders übler Ver-stoß bewertet wird, vgl. 417.

25 So formulierte es Ror Wolf in: »Die Poesie der kleinsten Stücke. Bemerkungen zu Peter Weiß [sic]«, in: Streit-Schrift, Heft 1, 34–36, hier 36, zitiert nach Weiß, Auschwitz in der geteilten Welt.

Teil 1, 24.

26 Vgl. Weiß, Auschwitz in der geteilten Welt. Teil 1, 27.

27 Vgl. ebd., 10; 23.

[…] wurde nur in tausend Exemplaren gedruckt, doch liegt es auf dem Schreib-tisch der neuesten Prosaisten Deutschlands.«28 Weiss zu lesen, galt off enbar als In-diz für die Zugehörigkeit zu einer gehobenen Schicht von Intellektuellen, nach genau jenen Distinktionskriterien, denen zufolge die Weimarer Stegreifrede als nicht salonfähig eingestuft wurde.

Als Polemiker schoss Weiss in seiner Rede insofern über das Ziel hinaus, als er sogar gegen die Konventionen intellektueller Polemik verstieß. Die westlichen Kommentare über die Weimarer Stegreifrede drückten Entrüstung über seine Halbbildung aus: Weiss bewege sich nicht auf dem Stand des öff entlichen theore-tischen Diskurses. Ludwig Marcuse kommentierte ihn mit den Worten »schlecht-hin peinlich«: »Der Exhibitionist […] steigt auf die Bühne und verkündet: der Künstler muss die Welt retten – aber ich weiß nicht wie.«29 Der Westberliner Ku-rier gab zu bedenken, dass das »Suchen, Finden und Verteidigen der Wahrheit durch den Schriftsteller« in »einschlägigen Kreisen« schon längst »ausdiskutiert«

worden sei; das von Weiss aufgegriff ene Th ema sei »abgedroschen«.30 Christoph Weiß hat später angemerkt, dass die Stichworte »Partisan« und »Wahrheit« in Westdeutschland zu jener Zeit zwar sehr wohl aktuell gewesen seien – 1961 hatte Rolf Schroers sein Buch Der Partisan publiziert, 1964 war ein prominent besetzter Sammelband zum Th ema Schwierigkeiten heute die Wahrheit zu schreiben31 erschie-nen –, dass daran gemessen allerdings Weiss’ »generalisierend-abstrakte Formulie-rung« in keiner Weise geeignet sei, einer ernsthaften Befragung standzuhalten. Ge-rade unter westlichen Linksintellektuellen wurden Weiss’ Neupositionierungen als untheoretisch bemäng elt,32 und in der Tat spielte Weiss auch hier die Rolle eines Außenseiters: Während im Vorfeld der westdeutschen Studentenbewegung

worden sei; das von Weiss aufgegriff ene Th ema sei »abgedroschen«.30 Christoph Weiß hat später angemerkt, dass die Stichworte »Partisan« und »Wahrheit« in Westdeutschland zu jener Zeit zwar sehr wohl aktuell gewesen seien – 1961 hatte Rolf Schroers sein Buch Der Partisan publiziert, 1964 war ein prominent besetzter Sammelband zum Th ema Schwierigkeiten heute die Wahrheit zu schreiben31 erschie-nen –, dass daran gemessen allerdings Weiss’ »generalisierend-abstrakte Formulie-rung« in keiner Weise geeignet sei, einer ernsthaften Befragung standzuhalten. Ge-rade unter westlichen Linksintellektuellen wurden Weiss’ Neupositionierungen als untheoretisch bemäng elt,32 und in der Tat spielte Weiss auch hier die Rolle eines Außenseiters: Während im Vorfeld der westdeutschen Studentenbewegung