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Die distanzierende Funktion des politischen Bekenntnisses

die Personae der Radikalisierung

1.3 Die distanzierende Funktion des politischen Bekenntnisses

Die Hauptsache ist, plump denken zu lernen.

Plumpes Denken, das ist das Denken der Großen.48 Peachum (Bertolt Brecht) Unter verständnisvollen wie spöttischen Kommentatoren herrschte weitgehend Ei-nigkeit darüber, dass Weiss nicht wusste, was er in Weimar tat. Im Widerspruch dazu stehen allerdings die Gebrauchsspuren in den Büchern, die er im Zeitraum seiner politischen Radikalisierung studierte. Vom blinden Punkt eines jeglichen Sprechakts abgesehen, dürfte sein Umgang mit unzeitgemäßen revolutionären Pa-thosformeln zumindest kein vollkommen unbewusster Vorgang gewesen sein. Eine seiner Inspirationsquellen scheint Jürgen Rühles 1963 erschienene Untersuchung über den Avantgardismus des Revolutionstheaters gewesen zu sein:49 Das Exemplar

48 Bertolt Brecht, Dreigroschenroman, in: ders., Prosa 1, Frankfurt a. M., Berlin, Weimar: Suhrkamp u. Aufbau-Verlag 1990 (= Bertolt Brecht, Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Aus-gabe, hg. v. Werner Hecht u. a., Bd. 16), 7–391, hier 173.

49 Jürgen Rühle, Th eater und Revolution. Von Gorki bis Brecht, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1963. Für die Gelegenheit, die Anstreichungen in Weiss’ Exemplar zu studieren, bedanke ich mich bei Jürgen Schutte, der sie in der Privatbibliothek des Paares Palmstierna-Weiss in Stock-holm im Mai 2009 dokumentiert hat.

in Weiss’ Bibliothek ist von Anstreichungen gesäumt, in seinem Notizbuch er-wähnt er den Band das erste Mal im Jahr 1964.50 Der Verfasser Rühle, ehemaliger Th eaterkritiker bei Ostberliner Zeitungen, sah sich bereits 1955 aufgrund von Konfl ikten mit den Organen des DDR-Regimes gezwungen, in den Westen zu ge-hen.51 In seiner dort verfassten, entsprechend kritischen Untersuchung kontrastiert er die Anfänge des Revolutionstheaters in den 1920er-Jahren mit dem Ende dieser Bewegung unter Stalin. Zwar widmet er das letzte Kapitel dem Wiederaufl eben des Sowjettheaters, allerdings unter dem mehrfach betonten Vorbehalt, dass insbeson-dere das Pathos der 20er-Jahre eine historisch widerlegte und unwiederholbare Er-scheinung sei. Weiss hat die entsprechenden Erklärungen mit Sicherheit nicht übersehen, denn er hat sie deutlich markiert: Die Kunst jener Epoche habe ihre

»Überzeugungskraft und Ausdrucksgewalt aus dem Pathos der damals noch unge-brochenen revolutionären Illusionen«52 bezogen, heißt es bei Rühle. Dieses Pathos habe jedoch seine Berechtigung verloren, als das Revolutionstheater zur gleichen Zeit von Hitler wie von Stalin liquidiert wurde.53 Auch den folgenden Satz hat Weiss mehrfach unterstrichen und mit zahlreichen Ausrufungszeichen versehen:

Von der Rehabilitierung des Revolutionstheaters ist nichts als eine Wiederbelebung der Agitprop-Gruppen geblieben, von deren Holzhammer-Agitation sich Meyerhold und Piscator schon vor dreißig Jahren distanzierten.54

Die handschriftlichen Markierungen in Weiss’ Ausgabe zeugen von einer Lektüre gegen den Strich, denn sie begleiten die historische Darstellung, als folgten sie der Witterung für das Unzeitgemäße. Unterstrichen und angestrichen wurde Gorkis Be-fürwortung eines »Realismus der krassen Einfachheit, der großen Wahrheit, […] ei-ner großartigen, strengen Sprache, die nie naturalistisch aufgeweicht werden darf, und einer mit echtem Pathos gesättigten Idee«.55 Vorn im Buch hat Weiss mit rotem Kugelschreiber notiert: »Ganz einfach und eindringlich muss gespielt werden«, und entsprechend klingen seine Selbstaussagen und Stellungnahmen um 1965: Er ver-teidigt die »Schwarz-Weiß-Zeichnung«, proklamiert die »Sprengkraft« als

50 Vgl. Erwähnung Jürgen Rühles im KGA 1.679, Notizbuch 8 (28.11.1964–5.4.1965), 143, bei späteren Notizen handelt es sich off enbar um Exzerpte aus dem gleichen Buch: KGA 2.585 f., No-tizbuch 14 (24.10.1967–16.5.1968), 35 f.

51 Vgl. Klappentext der o. g. Ausgabe; Rühle, Th eater und Revolution.

52 Rühle, Th eater und Revolution, 198.

53 Ebd., 158.

54 Ebd., 199, vgl. auch 77, wo Weiss folgende Stelle angestrichen hat: »Ende der zwanziger Jahre sag-te sich Meyerhold vom Th eateroktober los: ›Die Zeit der »Agitkas« (Agitationsstücke) ist vorbei‹

[…]. Meyerholds Regie wurde sublimer und behutsamer; der […] musikalisch-komödiantische Darstellungsstil verdrängte das politische Pathos [Herv. JW]; psychologische, gesellschaftskritische, aber auch spielerische und sogar absurde Elemente drangen ein.«

55 Rühle, Th eater und Revolution, 33.

sches Ideal, erklärt, dass seine Arbeitsweise ganz auf der Antithese »statisch – explo-siv, Einzelperson – komplexe Wirklichkeit« beruhe,56 und berichtet von seinen Versuchen, »die Sprache selbst so einfach wie möglich zu machen«.57 In seiner Aus-gabe von Tairows Das entfesselte Th eater ist mehrfach der Satz unterstrichen: »[W]ir wollten dem Th eaterphilister von vornherein klarmachen, dass wir um seine Freund-schaft nicht warben und seine Nachmittagsbesuche nicht brauchten«.58 Im Jahr 1968 spricht Weiss in einem Interview darüber, wie er der bürgerlichen Gesellschaft vermittels seiner Aggressionen gegen ihr Wesen provokativ »auf den Pelz« rücke.59

Weiss’ Studium der linksaktionistischen Avantgarde kreist um Meyerhold dort, wo seine Experimente am ehesten vom Futurismus inspiriert waren, um Tairow und Stanislawski, die unter dem Stalinismus als bürgerliche, westliche Intellektuel-le galten, sowie um Majakowski und Eisenstein, die eher Formalisten als sozialisti-sche Realisten waren. Wenn die Weimarer Stegreifrede dazu aufruft, nach der Wahr-heit zu suchen, »von der Brecht spricht«, verdient es zudem besondere Beachtung, dass Brecht die Wahrheit – in Anlehnung an Tretjakow und andere Vertreter der schon damals längst in Ungnade gefallenen Avantgarde-Bewegung – als praktische, handlungsorientierte Größe defi niert und mit taktilen Attributen versieht. Eine praktikable Wahrheit muss »hergestellt«60 und dann »handhabbar« gemacht wer-den »als eine Waff e«.61 Wenn Weiss solche Formeln 1965 aufgreift – drei Jahrzehn-te und einen Weltkrieg späJahrzehn-ter – sind sie zwar unzeitgemäß, aber gerade deshalb bei Weitem nicht wertneutral oder wirkungslos.

Nicht in ihrer Aussage, sondern in ihrem Stil und ihrem Gestus liegt die wirkli-che Sprengkraft der Weimarer Stegreifrede. Gerade im feierliwirkli-chen Pathos konkur-riert purer Zerstörungsdrang mit der traditionell dem Pathos zugeschriebenen Funktion, das Publikum zu einer gleichgerichteten Gefühlsregung zu bewegen. So sehr es zutriff t, dass Weiss mit Stücken wie Die Ermittlung und Viet Nam Diskurs das Publikum zu einer Auseinandersetzung mit dem historischen Geschehen bewe-gen wollte, so sehr es ihm tatsächlich um politische Inhalte ging, so sehr stimmt es auch, dass sein Stil, sein Wahrheitsbegriff und das von ihm proklamierte Sprachver-ständnis als Antiwerbung fungieren. Es scheint, als habe der esoterische Meister der Introspektion gelernt, »[w]ie man mit dem Hammer philosophirt«,62 als habe eine

56 Giorgio Polacco, »Unterentwickelte Länder und revolutionäre Gewalt. Eine Begegnung mit Peter Weiss« [10. Februar 1968], in: PWG 129–135, hier 131. Zuerst erschienen in: Peter Weiss, Gesang vom Lusitanischen Popanz. Mit Materialien, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1974, 87–92.

57 »Sun Axelsson. Gespräch mit Peter Weiss« (Interview für die Zeitschrift Ord & Bild, 1967), in:

PWG 117–128, hier 121.

58 Alexander Tairow, Das entfesselte Th eater, Köln: Kiepenheuer & Witsch 1964, 3; 71.

59 Polacco, »Unterentwickelte Länder und revolutionäre Gewalt«, PWG 132.

60 Brecht, »Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit«, 80.

61 Ebd., 77.

62 Friedrich Nietzsche, »Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophirt«, in:

ders., Der Fall Wagner. Götzendämmerung. Nachgelassene Schriften 1888–1889: Der Antichrist. Ecce

Metamorphose in der Schreibstube stattgefunden, bei welcher der für sein Feinge-fühl gefeierte Intellektuelle sich in aller Nüchternheit in einen Barbaren verwandelt hat. In der Dynamik um seine Stellungnahmen fi guriert Weiss als »Kämpfer gegen seine Zeit« im Sinne Nietzsches: als jemand, der polarisierende Einschränkung und rohe Vereinfachung in Kauf nimmt, auf der Suche nach einem Nerv.63 Weiss’ Fort-schrittsoptimismus, seine explizit proklamierte Motivation, das Publikum mit sei-ner Arbeit von der Wahrheit des Sozialismus zu überzeugen, paart sich mit den Zü-gen eines benjaminischen »destruktiven Charakters«, der das »Mißverstandenwer-den« »wie ein Orakel« herausfordert.64 Für eine Auseinandersetzung mit Benjamins Figur des Barbaren gibt es keine Hinweise, aber man bedenke, dass Weiss nur drei Jahre zuvor August Strindberg in einem schwärmerischen Essay mit folgenden Wor-ten beschrieb:

Er sieht sich als primitive Aufruhrsgestalt, als Wilder am Waldrand, pyromanisch zur Stadt hinüberstarrend, die er angezündet hat. Er arbeitet detaillierte Pläne zur Spren-gung des Stockholmer Schlosses aus. Es war ihm ernst mit der Vernichtung der Stadt-zivilisation. […]

Ich sehe nichts Krankes an ihm, wenn er nachts, halbnackt am off enen Fenster steht und beim Schein von zwei Kerzen mit einem Kompaß und seiner Induktionsmaschi-ne die Elektrizität misst, mit der sein Körper zum Bersten geladen ist. […] Strindberg war sein eigener Arzt. Er machte sich selbst zum Gegenstand der Untersuchung, der Vivisektion. […] In einer Welt, die krank, vergrämt und verfahren war, stand er selbst lebendig, gesund, mit weit off enen Sinnen.65

Ein Pyromane hat die Stadt angezündet. Weiss’ plakativer Gestus des politischen Coming-out behält etwas für sich, nämlich dass nicht die Aussage, sondern der Be-kenntnisakt selbst dem Wurf einer Handgranate gleicht: Er erzeugt eine Explosion, bei der die Druckwelle der öff entlichen Reaktion den Redner aus der Umklamme-rung der Vereinnahmung herauskatapultiert. Von Bedeutung ist die distanzierende Funktion seiner scheinbar off enherzigen politischen Bekenntnisakte. Es wirkt, als spreche und schreibe er sich konsequent Ablehnung herbei, in einem fi nsteren

homo. Dionysos-Dithyramben. Nietzsche contra Wagner, Berlin: de Gruyter 1969 (= Friedrich Nietz-sche, Werke. Kritische Gesamtausgabe, hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, 6. Abt., Bd. 3), 49–157.

63 Friedrich Nietzsche, »Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben«, in: ders., Die Geburt der Tragödie. Unzeitgemäße Betrachtungen I–III (1872–1874), Berlin: de Gruyter 1972 (= Nietz-sche, Werke. Kritische Gesamtausgabe, 3. Abt., Bd. 1), 239–330, hier 291.

64 Walter Benjamin, »Der destruktive Charakter«, in: ders., Gesammelte Schriften IV.1, unter Mitwir-kung von Th eodor W. Adorno und Gershom Sholem hg. v. Rolf Tiedemann, Hermann Schwep-penhäuser u. Tillman Rexroth, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1980, 396–398, hier 397. Vgl. auch ebd., »Erfahrung und Armut«, in: ders., Gesammelte Schriften II.1, 213–219.

65 Peter Weiss, »Gegen die Gesetze der Normalität« [1962], in: R1 72–82, hier 78; 81 f.

Spiel, das immer mit der Ausgrenzung seiner Person endet. Er setzt sich den Ab-wehrreaktionen seines Publikums aus und macht sich selbst zum Fremdkörper. Da-bei wird seine Bindung zur nachkriegsdeutschen Öff entlichkeit im Ritual ihrer Zerstörung nur noch fester. Bindend, weil normierend und vereinnahmend, wirkt auch das wirksamste Gegenmittel der Öff entlichkeit: die vielfältigen Strategien, Weiss in eine komische Figur zu verwandeln.