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Eigene Ressourcen ermöglichen den Zugang

Im Dokument Kultur und soziale Praxis (Seite 136-140)

Der sozioökonomische Status der Familie, ihr Bildungshintergrund, ihre Deutschkenntnisse und das Wissen, auf das Fariba Mostafawy als Sozialpäda-gogin und ihr Mann als Arzt zurückgreifen können, verhelfen der Familie und

Omid zu einer privilegierten Situation. Die Eltern haben sämtliche zur Verfü-gung stehenden Ressourcen eingesetzt, um Omid zu unterstützen.

Doch obwohl sie viele Möglichkeiten für ihren Sohn berücksichtigen und ausschöpfen, hat Fariba Mostafawy sich gerade zu Anfang mehr Hilfestellun-gen gewünscht. Sie habe Unterstützung benötigt, um sich im Hilfesystem zurechtzufinden (2, 351 M) und um mehr zur Ruhe kommen zu können (2, 343 M). Mehrmals spricht sie von einer Unruhe – vor allem zu Anfang – in der sie weder Mutter noch Vater sein konnten (2, 45 M). Sie habe den Wunsch ge-habt zu erfahren, wie es mit ihrem Sohn weitergehen könne: »Wir waren alle unsicher und auch der Bruder und das Kind merkt alles« (2, 348 M). Diese Un-sicherheit habe die ganze Familie belastet: »Zwischen Geschwistern, Partnern, Oma. Dann gibt es dauernd Meinungsverschiedenheit« (2, 345 M). Wenn sie sich an Institutionen wendet, trifft sie auf ein distanziertes Verhalten, das sie einer »Mentalität« (2, 553 M) in Deutschland zuschreibt. Die fehlende emotio-nale Bindung habe sie ein Gefühl von Sicherheit vermissen lassen. So ist sie dann auch vor allem mit den Institutionen zufrieden, die ihr Mut und Omid eine Besonderheit bzw. besondere Fähigkeiten zusprechen (2, 356 M).

Es werde Familien erschwert, die passenden Hilfen zu finden, kritisiert die Mutter. Ohne Standards, Konzepte oder eine zentrale Anlaufstelle – so vermu-tet sie – ist es für Familien im Migrationskontext, die wenig Deutsch sprechen oder nicht die Ressourcen aufbringen können, Informationen selbst zu suchen oder sich Wissen anzueignen, noch viel schwieriger. Dieses Stadium scheint Fariba Mostafawy jedoch überwunden zu haben: Sie weiß um ihre privilegierte Stellung. Fühlt sie sich dieser Gruppe zwar selbst nicht zugehörig, so kann sie doch die Wahrnehmung eines Migrationshintergrundes durch Andere nicht vermeiden. Diese werden durch Diskriminierungserfahrungen transportiert.

Es sind »unschöne« Situationen in Arztpraxen oder anderen Orten, in denen aus Omid plötzlich ein schlecht erzogener oder verwöhnter Junge einer Mig-rantin wird und die Fariba Mostafawy und ihren Sohn anfangs in die Isolation treiben. Auch solche Situationen führen dazu, dass Fariba Mostafawy Vieles unternimmt, um ihrem Sohn Auffälligkeiten abzugewöhnen. Es ist aber auch die Angst um seine Zukunft, weil sie nicht wissen, »was passiert mit ihm« (2, 43 M), wenn sie sich nicht mehr kümmern können. Fariba Mostafawy möchte ihm zur Unabhängigkeit verhelfen und gleichzeitig vor der Umwelt schützen.

Zusammenfassung

Die anfängliche Unsicherheit und Einschüchterung, die sich auch aus Diskri-minierungserfahrungen aufgrund des Zusammenwirkens der Strukturkate-gorien Migration und Behinderung ergeben haben, konnte Fariba Mostafawy ablegen. Dazu verholfen haben ihr vor allem ihr sozioökonomischer Status so-wie ihre und die fachliche Expertise ihres Mannes. Durch diese Ressourcen, ihre Deutschkenntnisse und ihre professionelle Sprache hat Fariba Mostafawy

mit der Zeit gelernt, wie sie innerhalb der vorhandenen Strukturen agieren kann, so dass sie die ihrer Meinung nach für Omid besten Bedingungen schaf-fen kann. Mit den Jahren hat sie einen Expertinnenstatus erworben, Kinder-gärten und Schulformen lernt sie problemlos kennen, in dem sie sich Kennt-nisse über Möglichkeiten der Unterstützung im Hilfesystem eigenständig verschafft und Expertisen für eine Beratung einfordert. Die selbstständige Er-schließung ist für sie zwar eine Herausforderung, der sie sich aber gewachsen fühlt. Mittels einer Autismusexpertin verschafft sie sich und ihrem Sohn Zu-tritt zu den von ihr als geeignet erachteten Bildungseinrichtungen. In diesen als passend befundenen Systemen angekommen, bemerkt sie jedoch Mängel, die ihrem Ziel im Weg stehen. Statt diese zu kritisieren, verfolgt sie die Stra-tegien der Herstellung von Harmonie und Eintracht und des Marsches durch die Institutionen. Wenn sie mit Lehrinhalten und Umgangsweisen nicht ein-verstanden ist, bleibt sie passiv, verhält sich unauffällig und unaufdringlich, um eine Exklusion durch das System zu vermeiden. Da sie durch ehrenamt-liche Positionen selbst zu einem Teil des Schullebens wird, ist sie in der Lage, Mängel dingfest zu machen und sie schließlich selbst auszugleichen. Für die Bildung und Erziehung von Omid fordert sie kaum Ressourcen und Unter-stützung von außen ein, sondern nutzt die ihr als gut situierte und gebildete Familie vorhandenen Möglichkeiten, »Enthinderungsstrategien«27 zu planen und durchzuführen.

Inhalt ihrer Erzählung sind vor allem die sie leitenden Normen und Werte sowie die damit verbundenen Identitätskonstruktionen. Im Vordergrund steht dabei ihre Selbstrepräsentation als akademische Familie, ihre Suche nach und Förderung von Entwicklungsmöglichkeiten für Omid, die sich durch die er-fahrenen Diskriminierungen als Mutter iranischer Herkunft und eines Kindes mit Asperger-Syndrom sowie durch das Motiv des Statuserhalt (unter Bedin-gungen von Migration) zu verstärken scheinen.

Eine nicht-akademische Laufbahn Omids war in ihrem Lebensentwurf nicht vorgesehen. Sämtliche Bemühungen zielen darauf ab, den dadurch poten-tiell entstehenden »Schaden« und die Beeinträchtigung in der Familienbiogra-phie zu minimieren, die Abweichung von der Norm so gering wie möglich zu halten – auch um ihren Sohn vor Diskriminierungen zu schützen, denen er als »behinderter Jugendlicher mit Migrationshintergrund« ausgesetzt ist.

Dies stellt sich als große Herausforderung dar. Von Beginn an bemüht sie sich, Omid die beste Förderung zukommen zu lassen, um den »Schritt zurück«

zu vermeiden. Sie gibt an, ihm alle Chancen und Freiheiten ermöglichen zu wollen. Doch es geht ihr nicht nur um eine Form von Befähigung wie es bspw.

im Capability Ansatz (vgl. Kap.  1 und Sen 1992; Nussbaum 2006) gefordert 27 | Dieser Ausdruck ist abgeleitet von dem an der Ev. Hochschule Ludwigsburg existie-renden »Beauftragten für Enthinderungsfragen«.

wird: Um ein Teil dieser Gesellschaft werden zu können, erwartet sie auch von Omid Unauffälligkeit und Anpassung. Dabei versucht sie allerdings immer im Blick zu haben, was für ihren Sohn zumutbar ist und was nicht. Eine für sie zentrale Erkenntnis nach den ersten gemeinsamen Jahren mit Omid ist, dass er für einen Anpassungsprozess Zeit benötigt und sie ihn nicht hetzen darf. Um für ihn weitere Zeit gewinnen zu können, hält sie die Verwandtschaft von ihm fern und versucht eine Etikettierung zu verhindern, sei es durch die Verwendung einer etikettierungsfreien Sprache oder der Vermeidung struk-tureller Maßnahmen wie der Beantragung eines Behindertenausweises. Auf eine Unterstützung durch das Hilfesystem ist sie ohnehin nicht angewiesen:

Die Familie ist sozioökonomisch so gut aufgestellt, dass sie die Versorgung Omids alleine stemmen kann. Fariba Mostafawy hält ihrem Sohn den Rücken frei, bis er den Prozess der Reduktion seiner Normabweichung vollzogen hat.

Dafür bildet sie Omid aus, erzieht und therapiert ihn und handelt dabei nach dem mittlerweile stark kritisierten28 Prinzip der Normalisierung. Dabei wird davon ausgegangen, dass »die Norm des normalen Lebens, der die Mehrheit der Bevölkerung entspricht, optimal sei und daß es für behinderte Personen darum gehe, ebenfalls gemäß dieser Norm zu leben« (Prengel 2006, 157). Der Lebensform der Mehrheit, so Prengel, werde universelle Gültigkeit zugespro-chen. Fariba Mostafawy wendet diese Techniken der Normalisierung auch an, weil sie weiß, dass ihr Sohn darunter leidet, in der Akademiker*innenfamilie nicht mithalten zu können. Doch besteht die Gefahr, dass sich nicht zwangs-läufig die erwünschte Selbstständigkeit des Sohnes entwickelt, sondern viel-mehr, »dass endlose Trainings dazu führen, abhängig zu machen und zu ma-nipulieren« (Nirje 1994, 21).

5.4.3 Salma Kolat und ihr Verlust von Ressourcen durch die Migration Hintergrundinformationen

Rana Kolat wird 1997 in der Türkei geboren. Sie lebt mit ihren Eltern in einer türkischen Großstadt. Als Rana Kolat 22 Monate alt ist, wird bei ihr ein früh-kindlicher Autismus diagnostiziert. Ihre Mutter, Salma Kolat, ist als Musike-rin und als Kurdin in der Türkei politisch aktiv. 2002 trennt Salma Kolat sich von ihrem Mann. In diesem Jahr ist sie auch gezwungen, mit ihrer damals vierjährigen Tochter Rana aufgrund einer akuten Bedrohungssituation29 als politisch Asylsuchende nach Deutschland zu fliehen. Obwohl sie einige Jahre

28 | Die Heterogenität behinderter Menschen, so die Kritik, stehe im Vergleich zum In-klusionsgedanken nicht explizit »im Mittelpunkt aller theoretischen Überlegungen und praktischen Vorhaben« (Prengel 2006, 157).

29 | Genauere Umstände sind nicht bekannt.

später einen deutschen Pass erhält, sind ihr Reisen in die Türkei aufgrund ihrer politischen Aktivitäten nicht mehr möglich.

Heute hat Salma Kolat zwei weitere Kinder, David, 5, und Lea, 3, aus einer anderen Beziehung. Rana ist mittlerweile 14 Jahre alt. Mit dem Vater der bei-den Kinder lebt Salma Kolat heute nicht mehr zusammen. Sie ist alleinerzie-hend und wohnt mit ihren drei Kindern in einer drei-Zimmer-Wohnung in einem sozial benachteiligten Vorort einer Großstadt. Sie ist nicht erwerbstätig.

Rana geht auf eine Förderschule mit dem Förderschwerpunkt Geistige Ent-wicklung. David und Lea besuchen zurzeit den Kindergarten.

Anwesend im Interview war nur Salma Kolat. Das Interview fand auf Tür-kisch statt.

Die von Salma Kolat erzählte Biographie lässt sich in die Zeit vor und nach der Migration einteilen. So erfolgt die folgende Darstellung ihrer Geschichte auch in zwei Teilen.

Kernthema: Hartnäckigkeit, der transnationale Raum

Im Dokument Kultur und soziale Praxis (Seite 136-140)