• Keine Ergebnisse gefunden

Alper Özdemirs Fatalismus contra Meral Özdemirs Anklage

Im Dokument Kultur und soziale Praxis (Seite 193-197)

Die Familie wird von Beginn an bis heute durch eine Mitarbeiterin eines Trä-gers der Behindertenhilfe begleitet, von der sich die Familie sehr gut unter-stützt und beraten fühlt. Schon kurz nach der Geburt erhält Berkin Özdemir zweimal pro Woche zu Hause Physiotherapie. Die Erfolge sind allerdings recht spärlich. Durch eine Muskelhypertonie kann er sich nur schwer auf den Bei-nen halten. Erst mit drei Jahren kann er stehen, mit vier kann er erste Schritte machen. Bis ins Schulalter hinein hat er Schwierigkeiten, mehrere Minuten am Stück zu gehen. Die Eltern sind auf der Suche nach alternativen Methoden, die ihrem Sohn helfen könnten. Sie konsultieren weitere Ärzt*innen, besu-chen einen Heilpraktiker, für dessen Kosten sie privat aufkommen.

Aufgrund dieser anfänglichen Probleme benötigt Berkin Özdemir einen Reha-Kinderwagen, der sich besser an seine Bedürfnisse anpassen lässt. Die Eltern beantragen diesen bei ihrer Krankenkasse. Als der Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MdK) für eine Begutachtung unangemeldet bei der Familie erscheint, trifft der Mitarbeiter lediglich auf Berkin Özdemir und seine Großmutter. Als sie ihm die Haustür öffnen, erschreckt sich Berkin Özdemir vor dem fremden Mann und schubst ihn auf den Gehweg. Da die Großmutter kein Deutsch spricht, kann sie dem Mitarbeiter die Situation ihres Enkels und seine Probleme beim Laufen nicht schildern. Weil Berkin Özdemir durch den Schupser den Eindruck erweckt hat, kräftig genug zu sein, lehnt die Kranken-kasse den Antrag für den Kinderwagen schließlich ab, so dass die Mutter ge-zwungen ist, ihren Sohn weiter auf ihrem Rücken zu tragen.

Meral Özdemir beschreibt ihren Sohn als einen in der Kindheit vor allem nervösen Jungen, der nicht wusste, »[türk.] was er gerade machte, er wusste selber nicht, was er machte« (7, 328 M). Berkin Özdemir leidet in der Schule darunter, sich weder mit anderen Kindern noch mit den Lehrkräften verstän-digen zu können.

»[dt.] Beispiel kann er nicht reden. War mit den Kindern zusammen, zanken in der Schu-le. Und dann, wer hat Recht? Weiß man das nicht und Lehrer sind da, immer Schuld von Berkin gegeben. Das ist auch … ich bin also also hm [schweigt]« (7, 335 M).

Als Berkin Özdemir acht Jahre alt ist, empfehlen die Lehrkräfte den Eltern die Beantragung eines Talkers37, um seine fehlende Lautsprache zu ergänzen und seine Sprachentwicklung zu unterstützen. Doch wieder lehnt die Krankenkas-se den Antrag ab. »[dt.] Vier Jahre kämpfen um so ein Gerät« (7, 91 V). Erst als Alper und Meral Özdemir einen Anwalt einschalten, erhält Berkin Özdemir im Alter von 12 Jahren den Talker. Alper Özdemir ist davon überzeugt, dass es zu diesem Zeitpunkt zu spät ist, um die Sprachentwicklung seines Sohnes noch nachhaltig zu verbessern. »[dt.] Aber, ja, damit hat der Berkin bisschen etwas gelernt, aber war eigentlich auch zu spät« (7, 92 V). So zeigt sich auch heute, dass Berkin nur wenig Lautsprache spricht.

Auf die Frage nach seiner Einschätzung der Gründe für die Ablehnung der Bescheide erwidert er:

»[dt.] Ich kann nicht sagen, vielleicht ist der Sachbearbeiter schlecht gelaunt gewesen.

Mein Frau sagt anders. Sie sagt, das kann nicht sein. Andere Kinder bekommen auch, was sie brauchen. Meine Frau sagt, das liegt daran naja unsere Name« (7, 122 V).

Der Vater gibt sich bezüglich des Vorwurfs einer Diskriminierung zurück-haltend, gibt stattdessen  – anscheinend etwas peinlich berührt  – die Worte seiner Frau wider: Meral Özdemir verspürt eine gesellschaftliche Abwertung.

Ihrem Kind werde das, was es brauche, aufgrund einer ethnischen Herkunft vorenthalten. Sie empfindet die Vorgehensweise der Krankenkasse, sei es im Fall des Kinderwagens oder im Fall des Talkers, als tiefe Ungerechtigkeit, der sie mit Hilfe einer Kontrastierung Nachdruck verleiht und durch die sie auf eine deutliche Differenz zu Familien außerhalb des Migrationskontextes ver-weist (7, 84 f. M/V):

Mutter: »[dt.] Aber ich habe gesehen, viele deutsche Familien haben Kinderwagen be-kommen. Sie können ja nicht selbst kaufen, solche Kinderwagen teuer. Wir haben aber nicht bekommen.«

Das andere Kind aus der Klasse mit dem Talker, woher hatte es denn Talker?

Vater: »[dt.] Kasse. Vielleicht hatte die andere Kasse, DAK oder so.«

37 | Bei einem Talker handelt es sich um eine elektronische Kommunikationshilfe mit Sprachausgabe.

Während der Vater die Gründe für die Ablehnung in unterschiedlichen Förder-systemen von Krankenkassen zu finden versucht, hat die Mutter bereits Re-cherchen unternommen: »[dt.] Nein, diese Paul ist auch bei AOK. Mutter hat gesagt, aber die Mutter, Vater sind Deutsche. Deutsche Name« (7, 89 M, ähn-lich auch 117 M).

Meral Özdemir wirft der Krankenkasse eine unmittelbare Benachteili-gung38 bzw. eine institutionelle Diskriminierung vor, durch die mit Hilfe von rechtlichen Regelungen oder wie in diesem Fall mit Hilfe von »etablierten Praktiken in den wohlfahrtstaatlichen Organisationen der Gesellschaft« Un-gleichbehandlungen und Diskriminierungen erfolgen, weil diese ihre Leistun-gen begrenzen wollen (Gomolla/Radtke 2009, 18). Eine solch diskriminieren-de Absicht ist für die Eltern schwer nachzuweisen. Ein klärendiskriminieren-des Gespräch über die Gründe einer Ablehnung hat nicht stattgefunden, stattdessen, so der Vater, werde die Schuld auf andere, z. B. den Vorgesetzten geschoben. So auch im Fall der Pflegestufe: Wieder kommt der MdK – diesmal zur Überprüfung der Pflegestufe von Berkin Özdemir, der bislang die Pflegestufe II erhalten hat – ins Haus der Familie Özdemir. Meral und Alper Özdemir berichten (7, 250 f. V/M):

Vater: »[dt.] Es war so. Kam eine Frau hier und machte Kontrolle. Das Kontrolle von AOK auch. Und die gucken Berkin, ob er gut gepflegt ist, wo er schläft, was er macht und fragen die alle nach. Und seinen Behindertenzustand. Ob er noch mehr Hilfe braucht, weniger Hilfe braucht. Und diese Frau hat Fragen gestellt und meine Frau hat auch un-bewusst so geantwortet. Diese Frau hat gefragt: ›Hilft ihr Mann auch?‹ Sie sagte ja.«

Mutter: »[dt.] Ja, muss ich sagen, Du bist ja Papa, musst Du ja helfen«.

Vater: »[dt.] Ja, dann hat sie gesagt, ja ihre Mann hilft, in der Woche muss man soundso viel Stunden haben, um bestimmte Pflegestufe zu haben, dann auf einmal haben sie unsere Pflegegeld ganz gestrichen. Weil ich helfe auch mit.«

Mutter: »[dt.] Ja, Du bist ja zu Hause. Mit uns leben. Bist Du ja Vater, musst Du auch helfen.«

Meral Özdemir vermutet hinter der Frage der Gutachterin über den Umfang der Unterstützung des Vaters im Haushalt einen Rückgriff auf den in Deutschland dominanten Diskurs um vermeintlich patriarchalische Strukturen in musli-mischen Familien sowie der dieser Vorstellung inhärenten klassischen Rollen-38 | Bei einer unmittelbaren Benachteiligung werden Personen ungünstiger behandelt, als andere in einer vergleichbaren Situation, ohne dass dies ein sachlicher Grund recht-fertigen würde (Zinsmeister 2014, 268).

verteilung39 und entgegnet deswegen, dass ihr Mann sehr wohl im Haushalt und bei der Versorgung der Kinder helfe. Einige Zeit später erhalten die Eltern eine Mitteilung darüber, dass das Pflegegeld des Sohnes gestrichen worden sei.

Als sie sich bei der Krankenversicherung über die Beweggründe informieren, erhalten sie die Auskunft, dass eine Pflegestufe im Falle von Berkin Özdemir nicht bewilligt werden könne, da der Vater im Haushalt unterstützend tätig sei. Die Eltern schildern hier eine hierarchische, wie in einer Prüfung struktu-rierte Situation, die dadurch verstärkt wird, dass sich die Mutter im Deutschen nicht differenziert ausdrücken kann. Alper Özdemir erbringt im Haushalt das, was er über die eigene Berufstätigkeit hinaus leisten kann. Dies wird in dem unmittelbaren Gespräch mit der Gutachterin allerdings nicht geklärt. Nach-fragen über Rahmen und Umfang der Unterstützung des Vaters bzw. über die Gestaltung des Alltages der Familie werden nicht gestellt und eine Berufs-tätigkeit des Vaters wird gar nicht erst angenommen. Stattdessen agiert und reagiert die Gutachterin auf der Grundlage gesetzlicher Regulierungen, als sie der Familie ohne Mitteilung das Pflegegeld verweigert.

Die Familie ist auf die Hilfe von geschulten Berater*innen angewiesen, die ihnen zusätzliche Informationen adäquat und verständlich zur Verfügung stellen, um handlungsfähig werden zu können. Allerdings kann der Vater, der über bessere Deutschkenntnisse verfügt als die Mutter, durch seine berufliche Einbindung im Schichtdienst selten zu den angebotenen Informationsabenden der Behindertenhilfe gehen (7, 274 V). Zudem hat auch er Schwierigkeiten, die Auskünfte und Hinweise zu verstehen, die im Rahmen dieser Informations-veranstaltungen vermittelt werden. Wie eingangs bereits erwähnt, ordnet sich Alper Özdemir selbst der Gruppe der Arbeitsmigrant*innen zu, die durch ihre späte Einwanderung über geringere Deutschkenntnisse verfügen. Mehrfach erwähnt der Vater, dass er zwar sprechen, aber nicht alles verstehen kann. Er benennt zwei Ebenen der Kommunikation und verdeutlicht, dass es bei Ver-handlungen und Gesprächen mit Behörden (bspw. bei Einspruch einer Ableh-nung von finanziellen Leistungen) oder mit beratenden Institutionen (bspw.

über Möglichkeiten für Berkin Özdemir und die Eltern) Kenntnisse eines an-deren Sprachregisters bedarf (7, 275 V).

Dennoch versuchen die Eltern im Rahmen ihrer Möglichkeiten, den he-gemonialen Strukturen in staatlichen Institutionen entgegenzutreten, nutzen die Angebote der Beratungsstellen, die Kompetenzen des Schwiegersohns, um Widerspruch einzulegen oder schalten zur Not auch einen Anwalt ein. In den unmittelbaren Gesprächen mit Mitarbeitenden der Verwaltung lassen sie sich aber zunächst einschüchtern.

39 | Die Geschichte wiederholt sie später beim Hinausgehen als das Tonbandgerät ausgeschaltet war mit dem Hinweis, dass sie oft gehört habe, »Deutsche« denken, dass türkische Männer nicht im Haushalt helfen.

So hat Berkin Özdemir z. B. seit seinem 18. Lebensjahr einen Anspruch auf Grundsicherung40. Im Sozialamt wird den Eltern allerdings erklärt, sie müss-ten ihre Einkommensverhältnisse beibringen, um dieses Anrecht überprüfen zu können. Die sie beratende Mitarbeiterin eines Trägers der Behindertenhilfe erklärt dem Vater daraufhin, dass das Recht auf Grundeinkommen des Sohnes unabhängig vom Einkommen der Eltern sei. Mit diesen Erkenntnissen geht Alper Özdemir wieder zum Sozialamt:

»[dt.] Aber der Mann von der Sozialamt sagte mir, glauben sie mir, hier sitzen Fachleute.

Ich bin ein Fachmann und sie brauchen das, sie müssen das und das bringen, aber Frau S. [von der Lebenshilfe] meinte, nur B-Stadt macht solche Schwierigkeiten, alle ande-ren nicht so« (7, 108 V).

Obwohl der Grundsicherungsträger die Einkommensverhältnisse der Eltern des Antragsberechtigten nur überprüfen darf, wenn im Einzelfall Anhalts-punkte für ein Überschreiten der Einkommensgrenze von 100 000 € pro Jahr vorliegen (selbst wenn die Eltern über erhebliches Vermögen verfügen, steht Berkin Özdemir ein Anspruch auf Grundsicherung zu), besteht der Sachbe-arbeiter im Sozialamt auf die Offenlegung der Einkommensverhältnisse. Alper Özdemir reagiert verunsichert: »[dt.] Was soll ich da sagen? Wenn er sagt, ich bin Fachmann, ich weiß besser? Ich kann kein Druck machen, ne?« (7, 312 V).

Das Machtgefälle in dem Gespräch unterstreicht und stabilisiert der Verwal-tungsmitarbeiter durch die Demonstration seiner fachlichen Überlegenheit.

Mit dem Hinweis, es mit einem »Fachmann« zu tun zu haben, vermittelt er Alper Özdemir, dass er trotz der gegenteiligen Informationen, die er bei der Beratungsstelle der Behindertenhilfe erhalten hat, nichts auszurichten vermag und der Entscheidung des Mitarbeiters ausgeliefert ist. In diesen Praktiken der Behörden identifiziert Alper Özdemir eine Willkür (7, 282 V), die dazu führt, dass das Misstrauen der Eltern gegenüber den Behörden wächst (7, 154 V).

Im Dokument Kultur und soziale Praxis (Seite 193-197)