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Besonderheiten in der Auswertung

Im Dokument Kultur und soziale Praxis (Seite 98-101)

Dort, wo Eltern Deutsch sprachen, deren Muttersprache nicht deutsch war, konnten die Interviews nicht durchgehend mit Hilfe einer Narrationsanalyse11 bearbeitet werden, für die die formalsprachliche Gliederung der Daten, wie sie Schütze (1983) und später in modifizierter Form Rosenthal (2003) für narrative Interviews vorschlagen, notwendig gewesen wäre. Denn »sprachliche Marker«

können in Interviews mit Nicht-Muttersprachler*innen nicht unbedingt auf 8 | Dabei stützt Reiß sich auf die Einteilung der Sprache nach Karl Bühler in Darstel-lung, Ausdruck und Appell (Reiß 1971, 32).

9 | Dabei bezieht sie sich auf Reden Fidel Castros, bei denen ein »demagogischer Betäubungseffekt« bei einer wortwörtlichen Übersetzung ins Deutsche wohl sehr viel schneller eintreten würde, als im spanischen Original. Das Spanische ist weniger nüch-tern und resistenter gegenüber seiner Rhetorik.

10 | So wurde die deutsche Sprache nach der überladenen und bombastischen Rheto-rik im Nationalsozialismus nüchterner (vgl. Braun 2007 und Klemperer 2010).

11 | Mit Hilfe von »sprachlichen Markern« unterscheidet Schütze im ersten Schritt der Narrationsanalyse zwischen den drei sprachlichen Darstellungsformen »Erzählung«,

»Argumentation« und »Beschreibung«.

eine bewusst gewählte sprachliche Darstellungsform des narrativen Inter-views hinweisen. Um einige Beispiele zu nennen: Eine Interviewpartnerin mit persischer Muttersprache hat in ihren Ausführungen oft »weil« verwendet.

Mit Schütze würde man hier annehmen, es folge eine Argumentation mit der Klärung eines kausalen Zusammenhangs. Die Beispiele zeigen allerdings den fehlenden kausalen Zusammenhang:

»Aber ich muss wirklich sagen, ich muss immer gucken, was in der Schule los ist. Weil er hat natürlich Glück, er hat unheimlich tolle Klassenlehrerin. Und das funktioniert. Aber nicht bei allen Lehrern« (2, 154 M).

»Dann hatten wir mit der Grundschule sehr viel Glück gehabt. Weil es gab eine Eingangs-klasse erstens und dann vier Grundschuljahre, und wir haben eine sehr sehr tolle Lehre-rin gehabt. Also sie war sehr gut für Omid. Weil es war für ihn etwas langweilig vom Stoff her« (2, 85 M).

»Und die überall in N-Straße wollten nochmal Stempel. Die meinte hier oder weiß ich nicht. Weil jedes Mal, jedes Monat war ich da: ›Bitte, haben sie Stempel oder haben sie Arbeit?‹ Stempel Stempel« (9, 1043 M).

In den folgenden Beispielen wird ein »dann«, das eigentlich auf eine Erzäh-lung hinweist, für eine Beschreibung bzw. Argumentation verwendet.

»Das heißt, es gibt keine Möglichkeit. Eine Lehrerin für so viele Kinder. Dann hat man jeden Tag sehr viel Probleme« (2, 83 M).

»Dann hab ich sie dort angemeldet und seit dann bin ich zufrieden bis jetzt« (10, 37 M).

Statt systematisch wurde deswegen eher sporadisch mit dem Instrument der Narrationsanalyse gearbeitet.

Dass sich die Eltern beim Sprechen in einer Sprache, die sie auf einem niedrigeren Sprachniveau erlernt haben, nicht in dem Maße differenziert aus-drücken können, wie es ihnen in ihrer Muttersprache gelänge, ist evident.

Auch das gilt es bei der Auswertung des Materials – sofern sie ins Deutsche wechselten  – zu berücksichtigen. Das wird an folgendem Beispiel deutlich, in dem mir eine Mutter von der Schulschließung einer arabischen Schule be-richtet.

»Dann kommt die Probleme, wegen die K-Schule. Weil, dass sie erzeugt Terroristen. Ich hab das Gefühl nicht, weil mein Kinder sind ganz normal. Äh, meine dritte Sohn war auch in türkische Schule, ähh lybische, die ist in K-Straße. Dort gibt es eine lybische.

Aber damals hatte viele Probleme angefangen mit die Schule aus arabische Gründe. Sie haben Genehmigung von Schulamt nicht gegeben« (10, 434 M).

Mit ihren Ausführungen möchte die Mutter erläutern, dass die lybische Re-gierung keine Genehmigung für die Weiterführung der Schule erteilt hat und die Finanzierung eingestellt hat. Dieser Sachverhalt wird allerdings erst durch Kontextwissen verständlich.

An einem weiteren Beispiel zeigt sich, dass auch Faktoren wie Verzweif-lung und Aufregung in den Interviews dazu führen konnten, dass die Be-herrschung der Sprache, korrekte Formulierungen sowie eine Strukturierung der Erinnerung in der Zweitsprache innerhalb eines Interviews nachgelassen haben, insbesondere dann, wenn die Sprache erst spät erlernt bzw. nicht ver-innerlicht worden ist. Das Sprachniveau wechselte im Gespräch immer wieder und zeigte sich abhängig von den jeweiligen Themen und seiner emotionalen Besetzung:

»Dann hat mich gesehen, dann hat es mit Nagellack angefangen … Mich terrorisiert. Da-mals hat Frau Moin mich so kennengelernt. Hat in Therapeuten mit Depressiontabletten diese Frau. Weil, ich wollte die Frau schlagen. Bin ich aufgestanden. Da war in der hinter ein Tisch. Bin ich reingegangen, habe ich gesagt: ›Ok wenige Haare hat, jetzt ist mein Hand, dann hast du kein Kopf. Nein, ich glaub, du spielst mit mir.‹ Wo denn wollte ich diese Frau umbringen? Da hat es nur Glück gehabt. Frau Moin hat angefangen, hat ge-sagt: ›Wir unterstützen diese Frau.‹ … Meine Vater ist gestorben. Ich bin allein hier und mein Vater war wirklich meine Geliebte. Und ich hab das jedes Mal mir Papier gegeben, Stempel, Stempel, wo ich arbeiten gehen sollte« (9, 1035 M).

Diesen Fallstricken konnte mit dem Angebot, in der Muttersprache sprechen zu können, entgegen gewirkt werden, wenngleich die Eltern natürlich nicht daran gehindert wurden, zwischendurch ins Deutsche zu wechseln.

Durch die oben sprachlich-kulturell beschriebenen Formen der Rede-kunst, die Deutschkenntnisse der Interviewpartner*innen auf unterschiedli-chem Niveau, aber auch durch die Glättung, die die übersetzten Texte erfahren haben, schien ebenfalls ein »Auseinandernehmen« des Textes und das Suchen nach latenten Sinnstrukturen, wie es die objektive Hermeneutik vorsieht und dabei jedes Wort »auf die Goldwaage« legt (Kleemann et al. 2013, 126), für diese Untersuchung ungeeignet.

Bei der Analyse der Schwerpunktsetzungen der aus dem Stehgreif ent-wickelten Erzählung12 muss berücksichtigt werden, dass ich, wie bereits er-12 | Schütze z. B. misst der Schwerpunktsetzung der Stehgreiferzählung, also der von den Befragten ohne vorherige Planung und Überlegung begonnene Darstellung der Erlebnisse, eine besondere Bedeutung für die Auswertung und Interpretation bei (Schütze 1983).

wähnt, an manchen Stellen in das Interview eingegriffen habe, um es in Gang zu halten. Schulze (2006) betrachtet dies als unproblematisch, wenn dem Er-fahrungsvorrat eine größere Selbstständigkeit zugestanden wird, als bei vielen Biographieforscher*innen zumeist üblich (vgl. dazu auch Denzin 1989). Er bezweifelt, dass jenes, »was als Erfahrungsaufschichtung oder Erfahrungs-zusammenhang angesehen wird, ein derart konstantes Gefüge darstellt und dem biographischen Subjekt jeweils – wenn auch unbewusst – so präsent ist, dass es dasselbe immer wieder in derselben Weise erzählt« (Schulze 2006, 103). Schulze vermutet hinter der Auswahl und der Schwerpunktsetzung der einzelnen Erzählung vielmehr ein »Durcheinander, in dem mal diese mal jene Erinnerung oben auf liegt und in dem man mal an dieser und mal an jener Stelle zu suchen beginnt.« Dieses »Durcheinander« sehe ich auch durch meine erzählstimulierenden Fragen begünstigt.

Die oben dargestellten Besonderheiten werden bei der Wahl des Auswer-tungsinstrumentes berücksichtigt. Zudem wird – je nach vorliegendem Mate-rial – flexibel auf die Möglichkeiten der Auswertung reagiert.

Im Dokument Kultur und soziale Praxis (Seite 98-101)