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Ausgrenzungs- und Diskriminierungserfahrungen

Im Dokument Kultur und soziale Praxis (Seite 145-148)

In mehreren Belegerzählungen schildert Salma Kolat Ausgrenzungen, die sie aufgrund ihrer fehlenden Kenntnisse des Deutschen erlebt hat. Ihre Deutsch-kenntnisse haben im Leben von Salma Kolat Einfluss auf unterschiedliche Be-reiche, wie sich am Beispiel des rechtlichen Status und dem Kontakt zu ihrem Umfeld zeigt.

Salma Kolat bemerkt, dass sich das Ausgrenzungs- und Diskriminierungs-merkmal »Deutsch« in Kombination mit einer bei der Tochter wahrgenomme-nen Behinderung verstärkend auf Ausgrenzungserfahrungen auswirkt. Es ist nicht der rassialisierte Körper, ihr Aussehen lasse nicht auf einen Migrations-hintergrund schließen. Doch es gebe im öffentlichen Raum häufig Situationen mit Rana, die die Aufmerksamkeit auf die Familie lenken. Wenn sie gefragt wird, was mit Rana los sei, und sie »nicht in einem fließenden Deutsch antwor-ten kann, dann fällt der Schleier« (3, 224 M). Der Augenkontakt werde gemie-den, sie werde nicht gegrüßt.

Anforderungen, wie das pünktliche Erscheinen zu Versammlungen in Schule oder Kita, sind für sie durch die besondere Situation zuhause schwerer zu erfüllen:

»[türk.] Wenn ich durch dieses Kind, also wenn ich mit Rana etwas machen muss, und ich dadurch zu anderen Versammlungen zu spät komme, das eine Kind muss um 8.15 Uhr da sein, das andere um 9.00. Sofort musste ich dem Direktor oder der Leiterin ver-ständlich machen, warum ich zu spät komme, und sie haben überhaupt kein Verständ-nis dafür. Auf einmal verlangt der Direktor dann von mir: ›Sprechen sie doch mit ihren Kindern Deutsch.‹ Da frage ich ihn, wie ich denn mit meinen Kindern Deutsch sprechen solle. Ich spreche doch selber kein Deutsch. Das Leben wird immer kompliziert dadurch.

Das eine Problem hat immer Auswirkungen auf den anderen Bereich des Lebens« (3, 240 M).

Ihre Anstrengungen, die sie im Alltag zu bewältigen hat, werden nicht erkannt, stattdessen werden zusätzliche Anforderungen an die Mutter gestellt, die sie nicht zu erfüllen vermag. Sie glaubt, dass sich die Herausforderungen, die mit der Behinderung des Kindes einhergehen, mit den vorhandenen Problemen als Migrantin ohne Deutschkenntnisse auf einem gehobenen Sprachniveau potenzieren. Durch das Zusammenwirken der Barrieren entstehen zusätzliche Probleme, die Auswirkungen haben auf den Umgang mit ihr und ihren Kin-dern, auf ihr Privatleben und auf ihre Identitätskonstruktion als Migrantin.

Oftmals sind die von Salma Kolat bei Verständnisproblemen entwickelten Strategien nicht erfolgversprechend: In Beratungen wünscht sie, mit türkisch-sprachigen Mitarbeiter*innen sprechen zu dürfen, muss dann aber feststellen, dass diese kaum Kenntnisse über ihre spezifischen Anliegen im Kontext

Be-hinderung haben. Ärzt*innen oder Anwält*innen bittet sie z. B. darum, Ge-sprächsprotokolle anzufertigen, die sie dann übersetzen lässt. Diese Strategie ist jedoch immer abhängig vom Willen des Gegenübers.

Salma Kolat steht staatlichen Stellen kritisch gegenüber. Durch ihr Sprach-niveau im Deutschen sind Gespräche zwischen Salma Kolat mit Behörden und Institutionen von einer Machtasymmetrie gekennzeichnet. Mit dem Erhalt einer dauerhaften Aufenthaltsgenehmigung bemüht sich Salma Kolat auch um den Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft. Auch auf der Ausländerbe-hörde trifft sie neben Äußerungen, die sie kränken, auf eine offene Ungleich-behandlung durch die staatliche Stelle.

»[türk.] Wenn ich die darum bitte, auch Ärzte, bitte reden sie langsam, dann machen sie das auch. Aber die Ausländerbehörde, da wird man so von oben herab behandelt, und als ich denen gesagt habe, ich möchte die deutsche Staatsbürgerschaft haben, da ha-ben sie mir von Anfang an gesagt: ›Machen sie sich keine Mühe. Sie brauchen gar nicht zu kommen, das führt zu gar nichts.‹ Und haben die Tür zu gemacht. Dann habe ich ge-sagt, dass ich mir einen Anwalt nehme. Sie sagten, ich hätte keine Chance: ›Werfen sie ihr Geld nicht zum Fenster raus.‹ […] Sogar den Dolmetscher haben sie aus dem Zimmer geschickt. Sie sagten: ›Sie wenden sich an eine deutsche Behörde. Dann müssen sich auch deutsch reden‹« (3, 267 M).

Salma Kolat wird aus dem Büro verwiesen, weil sie das imaginierte Kriterium für ein Gespräch »Deutsch auf einem hohen Sprachniveau« nicht erfüllt. Sie weiß um dieses Kriterium und sucht sich Unterstützung, aber auch der von ihr engagierte Dolmetscher kann sich keinen Zutritt verschaffen. So macht sie die Erfahrung, dass sie selbst mit Unterstützung keine Möglichkeit be-kommt, sich zu äußern respektive gehört zu werden. Die Ausländerbehörde folgt der »Logik der Diskriminierung«, in der es erlaubt scheint, Salma Kolat zu benachteiligen und ihr »grundlegende Menschenrechte mehr oder weniger umfassend vorzuenthalten« (Scherr 2012, 18), weil sie die von ihr auferlegten Kriterien nicht erfüllt. Schließlich ruft der Mitarbeiter der Ausländerbehörde den fünfjährigen David in das Büro und beginnt ihn gegen den Willen der Mutter auszufragen. Sie selbst kann nicht verstehen, worum es geht, weil der Mitarbeiter »Hochdeutsch« mit ihrem Sohn spricht. Salma Kolat befindet sich in einer machtasymmetrischen Situation, lässt sich aber nicht einschüchtern.

Sie bleibt hartnäckig und wehrt sich. Sie leitet schließlich rechtliche Schritte ein und zeigt sich in letzter Instanz erfolgreich:

»[türk.] Dann habe ich mir einen Anwalt genommen. Das sind solche hässlichen Begeg-nungen, wo ich alleine mit den Problemen nicht fertig werde und gezwungen bin, Hilfe zu holen. Am Ende habe ich sie auch bekommen, die Staatsbürgerschaft« (3, 280 M).

Das Hilfe- und Bildungssystem: (Später) Zugang ja, Qualität nein

Die Sorge um ihr Kind begleitet ihr Muttersein. Schon früh hat sie sich zu einer Expertin für ihr Kind entwickelt. In der Türkei hat sie die Möglichkeit, sich Wissen anzueignen und Rat einzuholen. Während Rana und auch sie selbst von diesem Expertinnenwissen in der Türkei profitieren konnten, schafft sie es nicht, dieses Wissen in ihrer Zeit im Wohnheim für Geflüchtete und als Geduldete zur Verbesserung ihrer Situation einzusetzen. Damals »machtlos«

(3, 214 M), nimmt sie sich heute wieder den Herausforderungen an. Nun ist sie wieder die Handelnde, »greift ein« (3, 81 M), vertritt Rana anwaltschaftlich, wenn sie glaubt, ihre Tochter gerate bspw. in der Schule oder im Hilfesystem in Situationen, die ihr nicht gut tun. Durch die Beratungen der Lebenshilfe erfährt sie von der Möglichkeit, Pflegegeld zu beantragen, das sie für sich zu-nächst nicht in Erwägung zieht: »Warum sollte ich Geld dafür bekommen, dass ich mich um meine Tochter kümmere?« (3, 159 M). Zwar wünscht sich die Mutter Unterstützung und Entlastung von außen durch das Hilfesystem, für ihre Rolle als Mutter ein Pflegegeld zu bekommen, fühlt sich für sie aber befremdlich an. Heute nimmt sie die finanzielle Unterstützung an und legt die Beiträge für Ranas zukünftige Versorgung zur Seite.

In der Beratungsstelle erhält sie außerdem Informationen über das System der Schulbegleitung und des FUD – ein Angebot, das die Mutter dankbar an-nimmt. Die Auswahl der Rana begleitenden Personen nimmt Salma Kolat sehr ernst. Sie sucht aus den Bewerberinnen passende aus und ist diejenige, die die Entscheidung trifft, wer Rana begleiten darf. Sie gibt an, von den Schwierig-keiten zu wissen, die pädagogische Fachkräfte mit der Tochter haben, habe Verständnis dafür, wenn sie die Arbeit mit der Tochter nicht aushalten: »Das verstehe ich auch, dass sie müde werden, wenn man sieben Stunden mit so einem Kind zu tun hat« (3, 92 M). Auch sie selbst ist erschöpft von den »Be-lastungen« und dem »schwierigen Leben« (3, 15 M).

Von der anspruchsvollen Tätigkeit wissend, fordert Salma Kolat daher ein höher qualifiziertes Personal, das sich nicht nur um die Betreuung des Kindes kümmert, sondern auch um die Erziehung und Bildung. Ohne eine adäquate Förderung hat sie Sorge, ihre Tochter könne sich weiter isolieren. Es fehlt das Vertrauen in ausreichende Kenntnisse derjenigen, »die zum Helfen kommen«

(3, 194 M). Sie kritisiert, dass Schulbegleiter*innen ohne entsprechende fach-liche Ausbildung ihre ersten Erfahrungen mit behinderten Menschen an ihrer Tochter machen. Das mangelnde Vertrauen hat Auswirkungen auf die Orga-nisation ihres Alltags und die Planung der Zukunft. Zwar entspricht es nicht ihrer Vorstellung vom Muttersein, kaum ihren eigenen Bedürfnissen nach-gehen zu können, sieht für sich aber keine Möglichkeit, sich zurückzuziehen.

Bisher kann sie sich auch nicht damit abfinden, dass, sollte sie einmal nicht mehr können, Rana institutionell betreut wird.

Das soziale Netzwerk: Sprache, ethnische Herkunft

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