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Der Stellenwert der Religion: Kein Unterstützungspotential

Im Dokument Kultur und soziale Praxis (Seite 149-152)

Auf die abschließende Bitte, eine Einschätzung zu den Potentialen eines isla-mischen Wohlfahrtsverbandes im Hinblick auf die Möglichkeiten der Verbes-serung ihrer Situation zu geben, reagiert Salma Kolat stark ablehnend30. Eine Unterstützung durch islamische Verbände bzw. Vereine wolle sie nicht und könne sie sich auch kaum vorstellen. Sie positioniert sich gegenüber Menschen türkischer Herkunft in Deutschland, die sich in Verbänden organisieren, und bringt sie mit der religiös-konservativen Regierung in der Türkei in Verbin-dung:

»[türk.] Nein. Ich möchte jetzt nicht lügen, ich möchte mit diesen Leuten nichts zu tun haben. Es hat mit der jetzigen Regierung in der Türkei zu tun. Weil es eine religiös ge-prägte Regierung ist, die die Sozialdemokraten und Andere einsperrt. Wenn man dort in der Türkei weiterkommen will, muss man denen gehören. Im Grunde wollen die Leute, 30 | Zum Hintergrund dieser Adressierung als »Muslimin« siehe Kapitel 5.2.3.

die solche Vereine gründen, doch auch nur Ihresgleichen da haben. Ich möchte keinen wegen seiner Religion beleidigen, aber die wollen uns doch gar nicht. Einmal kam eine Frau mir zu Hilfe. Sie trug ein Kopftuch, als sie hörte, dass ich nichts auf die Religion gebe, da hat sie den Kontakt abgebrochen. Sie sagte mir, mir als Mutter sei das Para-dies sicher. Da habe ich gesagt, dass ich an so etwas nicht glaube. Weg war sie dann«

(3, 311 M).

Salma Kolat glaubt, dass es sich bei islamischen Vereinen in Deutschland um homogene Gruppierungen handelt, denen es nicht um eine Unterstützung außerhalb Ihresgleichen ginge. Die Pluralität der Menschen türkischer Her-kunft in Deutschland sieht sie in den islamischen Gemeinden kaum abgebil-det. Mit der Formulierung »Ich möchte keinen wegen seiner Religion beleidi-gen«, die auf eine deutliche Differenz zu religiösen Personen hinweist, sowie der Anmerkung, Grundelemente des islamischen Glaubens anzuzweifeln, hebt sie hervor, dass sie sich selbst nicht als gläubig betrachtet.

Zusammenfassung

Kern der Identitätskonstruktion von Salma Kolat ist ihre Inszenierung als Ex-pertin, die mit Fachwissen über die Behinderung des Kindes ausgestattet ist:

Sie weiß, was ihr Kind kann und was gut für ihr Kind ist. Hatten sie in der Türkei einen höheren sozioökonomischen Status mit einem sie unterstützen-den und tragenunterstützen-den sozialen Netzwerk, guten Bildungsmöglichkeiten und be-ruflichen Chancen, erleben Salma und Rana Kolat in Deutschland eine soziale Abstufung. So ist vor allem der Beginn ihres Lebens in Deutschland von ras-sistischen Ausschlüssen und hegemonialen Vorgaben geprägt.

Bei der Wahrnehmung ihrer Rechte respektive der Verweigerung von Rechten aufgrund des prekären rechtlichen Status wirkt sich die Behinderung verschärfend auf die Situation der Familie aus. Die Wechselwirkungen der strukturellen Rahmenbedingungen im Kontext eines rechtlichen Status und die Barrieren der Teilhabe von behinderten Menschen haben Auswirkungen auf die Entwicklungsmöglichkeiten von Rana, die mehrere Jahre keinen Zu-gang zu Bildung und keinen Kontakt zu anderen Kindern hat.

Während sie der schwierigen Zeit im Wohnheim für Geflüchtete nichts entgegenzusetzen hatte, beginnt mit dem Erhalt der dauerhaften Aufenthalts-erlaubnis und dem Umzug in eine eigene Wohnung eine Stabilisierung der Lebenslage. Salma Kolat findet sich im Bildungssystem zurecht, beantragt Unterstützungen und Förderungen für ihre Tochter. Doch die lingualen Macht-strukturen bzw. die Reaktionen auf ihr geringeres Sprachniveau im Deutschen erschweren ihr die Wege. Sie bemerkt, dass die Ausgestaltung ihres Lebens und das ihrer Tochter nicht mehr alleine in ihrer Hand liegt. Hier zeichnet sich ein Dilemma ab: Ihre Unabhängigkeit, die sie in der Türkei lebte, hat sie in Deutschland verloren. Konnte sie sich dort effizient für ihr Kind einsetzen,

ist sie nun von anderen abhängig, deren Unterstützung ihr aber de facto fehlt, und vom Wohlwollen der sie beratenden und betreuenden Personen. Einerseits ist sie gesellschaftlich isoliert und hat kaum soziale Kontakte, doch aufgrund der lingualen Machtstrukturen im Hilfesystem ist Salma Kolat immer wieder auf die Unterstützung anderer angewiesen, sei es bei Ärzt*innen, in Behörden oder in der Schule. Ihr Expertinnenwissen ist hier nur noch begrenzt einsetz-bar. Bei Abweisungen durch Behörden und bei Konflikten mit (Bildungs-)Ins-titutionen zeigt sie sich selbstbewusst und hartnäckig. Gegen gesellschaftliche Abwertungen und Ungerechtigkeiten versucht sie sich zu wehren und fordert erfolgreich ihre Rechte ein.

Es zeigt sich, dass Salma Kolats Identität als Mutter eines behinderten Kin-des in Deutschland schwierig zu leben ist, weil sie mit behinderungsspezifi-schen Barrieren konfrontiert ist, die die Partizipationsmöglichkeiten der Toch-ter und ihre eigenen einschränken. Das Recht der TochToch-ter auf Entwicklung und Befähigung sieht sie in Deutschland nur unzureichend gegeben. Weil Salma Kolat im Hilfesystem angekommen ist, kann sie sich auch mit der Qualität der Angebote auseinandersetzen. Sie erwartet nicht nur Unterstützung und Be-treuung vom Hilfesystem, sondern auch eine hochwertige (Aus-)Bildung ihrer Tochter. So steht die Wahrnehmung der Behinderung der Tochter in einem Zusammenhang mit der Suche nach einer qualitativ hochwertigen Bildung, die Rana Entwicklungsmöglichkeiten eröffnet. Bei einem Vergleich zwischen den Aussichten, Wegen und Mitteln in der Türkei und denen in Deutschland erkennt Salma, dass sie weiterhin den transnationalen sozialen Raum nutzen sollte, um für Rana Bildungsräume zu schaffen. Das Hin- und Herbewegen in unterschiedlichen nationalen Kontexten entwickelt sich zu einer Ressource für Mutter und Tochter. Die in Deutschland vorhandenen Angebote zur Ent-wicklung von Ranas Möglichkeiten, die hier angewandten Methoden stellen die Mutter nicht zufrieden. Sie zehrt weiterhin von den sozioökonomischen Ressourcen der Familie in der Türkei. Nur dadurch existiert die Option, kom-pensatorische Wege für Rana einschlagen zu können.

Sie benachteiligende, diskriminierende und ausgrenzende Praktiken ha-ben das Vertrauen in das Hilfesystem erschüttert. Salma Kolat sorgt sich, Rana irgendwann diesen Strukturen überlassen zu müssen. Sie fühlt sich zwar nicht alleine zuständig für Rana, erkennt aber gerade keine andere Möglichkeit als die alleinige Verantwortung für ihr Leben zu übernehmen.

Eine berufliche Verwirklichung ist als Geduldete ohnehin nicht möglich, aber auch später – ohne das soziale Netzwerk und die Anerkennung ihrer Fä-higkeiten als Musikerin – sind Salma Kolats berufliche Träume nicht realisier-bar.

Eine weitere Barriere äußert sich in den eingeschränkten Möglichkeiten der Familie, Kontakte und Beziehungen zur Außenwelt zu gestalten. Salma Kolat hat kein soziales Netzwerk, die mangelnden Kontakte und die Isolation

sieht sie in der sozialen Praxis hierzulande (ihr Referenzsystem ist auch hier die Türkei) begründet, in der behinderte Menschen exkludiert werden und kaum Kontakte mit Behinderten gepflegt werden. Diese Ablehnung wird ver-stärkt durch die Wahrnehmung ihres Migrationshintergrundes. Hier kommt es zu einer spezifischen Ausgrenzung im Kontext von Migration und Behinde-rung. Auch Kontakte zu anderen migrierten Familien sind nicht möglich, hier ist es weniger die Behinderung, denn die kurdische Herkunft, die sie isoliert.

Dabei verweist sie auf eine deutliche Differenz zu Personen türkischer Her-kunft, die sie dem islamisch-konservativen Lager zuordnet. Zeigt sie auf der Strukturebene eine hohe Widerstandsfähigkeit und den Willen, sich durch-zusetzen, kann sie diese auf der privaten Ebene kaum aktivieren. Sie wirkt zu müde und kraftlos, um sich um Freundschaften zu bemühen.

5.4.4 Die Bahmanis – Kontrollverlust durch Migration Hintergrundinformationen

Mohsen und Parissa Bahmani und ihre beiden Söhne Schayan und Schahriar sind 1998 von Iran nach Deutschland migriert. Sie sind aus politischen Grün-den geflüchtet und haben in Deutschland Asyl beantragt. Die beiGrün-den Kinder waren zu diesem Zeitpunkt sieben und knapp zwei Jahre alt. Zum Interview-zeitpunkt ist Schayan 20 und Schahriar 14 Jahre alt. Familie Bahmani lebt in einer Vier-Zimmer-Wohnung in einem multikulturellen Viertel in K-Stadt.

Mohsen Bahmani ist Fahrer, Parissa Bahmani ist für die Haus- und Familien-arbeit zuständig. In Iran war der Vater ein einfacher Angestellter, die Mutter hat nach ihrem Schulabschluss keine Ausbildung begonnen/Arbeit aufgenom-men.

An dem Gespräch nahm zunächst nur die Mutter teil, später kamen der Va-ter und die Söhne hinzu, die sich im Gespräch jedoch zurück hielten. Das Ge-spräch wurde – abgesehen von ein paar Codeswitchings – auf Persisch geführt.

Die Familie ist entsprechend des Theoretical Sampling gezielt ausgewählt worden. Nach dem Gespräch mit Salma Kolat, die in ihrer Geschichte die be-sondere Barriere »rechtlicher Status« offenbarte, brauchte es einen ähnlichen Fall, um die mit dem rechtlichen Status in Zusammenhang stehenden Barrie-ren spezifizieBarrie-ren zu können.

Kernthema:

Das Scheitern des Projektes »Migration« nach Ressourcenverlust

Im Dokument Kultur und soziale Praxis (Seite 149-152)