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Die Religion: Legitime Einmischung von Außen

Im Dokument Kultur und soziale Praxis (Seite 187-190)

In ihrem Streben nach Autonomie konzentriert sich Jale Karimi voll und ganz auf die Erschließung ihrer Möglichkeitsräume. Heteronome Tendenzen lässt sie nur in Maßen und nur dann zu, wenn sie ihr auf dem Weg zur Autonomie

dienlich sein können. Einzig die Religion ist ein »von außen«, das sie in ihrem Leben anerkennt und annimmt:

»[pers.] Der Glaube an Gott war die größte Stütze meines Lebens. Ich habe von Anfang an daran geglaubt, Gott würde mir helfen und ich müsste es weiter vorantreiben. Wenn ihre Eltern [Purans Eltern] denselben festen Glauben hätten, wäre Puran vielleicht wei-ter als jetzt. Aber trotzdem während dieser Zeit hat sie meiner Meinung nach sehr große Fortschritte gemacht. Sie ist ganz anders geworden als sie war. So 40, 50 Prozent an-ders, als sie vorher war. Und das war nur deswegen, weil ich fest daran geglaubt habe, dass Gott mir helfen würde. [dt.] ja ich habe gesagt [pers.] Ich kann ihn natürlich nicht sehen, aber ich habe immer gewusst, dass er bei mir ist [weint]. Ich war es nicht. Es war Gott, der mich geleitet hat« (6, 169 G).

Der Glaube kann in bestimmten Situationen aktiviert werden, um die Groß-mutter zu stärken. Er bietet ihr eine verlässliche Ordnung und einen ver-bindlichen Sinn, wo »andere Wirklichkeiten« den Alltag und die Routinen bedrohen (Berger 2010, 155 f.). Die Religion als »Schutz- und Orientierungs-funktion« (Uslucan 2010, 390) bietet der Großmutter durch die Vorstellung der Prädestination eine Konstante und Verhaltenssicherheit. Diesen Glauben, der gleichzeitig eine kompensatorische Wirkung erzielt und der auch sie im Umgang mit ihrer Tochter hätte stärken können, vermisst sie bei den Eltern Purans.

Zusammenfassung

Jale Karimis Identitätskonstruktion und ihr Leben in Deutschland kennzeich-net das Streben, durch nichts fremdbestimmt sein und autonom agieren zu wollen. Sie macht sich die Situation von Puran zu Eigen und schafft sich so einen neuen Lebensmittelpunkt, den sie mit der Emigration der Tochter in die USA verloren hat – wohlmöglich auch, weil sie sich durch ein ihr inhärentes (und von ihr imaginiertes36) kulturspezifisches Verständnis über Pflichten der erweiterten Familie als Großmutter für ihre Enkelin verantwortlich fühlt. Von dem Wunsch geleitet, ihrer Enkelin die besten Voraussetzungen zu bieten, schlägt die Großmutter Rahmenbedingungen vor und inszeniert die Verän-derung, indem sie sich neben dem bestehenden ein eigenes System aufbaut.

Alles, was in ihrer Macht steht, versucht sie umzusetzen. Dabei strebt sie nicht danach, Ansprüche in Bereichen geltend zu machen, die sich zunächst ihres Einflussbereiches entziehen und die nicht selbst von ihr eingeleitet werden. Sie stellt keine Anforderungen an den Staat und erwartet keine Hilfen von außen.

Hilfen werden zwar – sofern angeboten – gerne angenommen, allerdings leitet 36 | Wie die Analyse der Familiengeschichte gezeigt hat, scheint ihre Familie in Iran keineswegs von diesem Familienmodell überzeugt zu sein.

sie der Gedanke, dass sie sich alleine durchschlagen muss und sie für sich und die Enkelin selbst verantwortlich ist – getreu dem Motto: Jede ist ihres Glückes Schmied.

Ihre Abwehr gegenüber dem Etikett »Migrationshintergrund« kann vor diesem Hintergrund als Wunsch gedeutet werden, nach einem von ihr als erfolgreich befundenen Individualisierungsprozess als Individuum wahrge-nommen zu werden, das nicht durch ein »Migrantin-Sein« bestimmt ist. Doch schildert Jale Karimi auf der Ebene der Identitätskonstruktion eine komplett andere Situation als auf der Strukturebene nachgewiesen werden kann. Denn ihrer Verwehrung zum Trotz zeigt sich auf der Strukturebene, dass das Merk-mal »Migrationshintergrund« verbunden mit rechtlichen Restriktionen eine erhebliche Relevanz besitzt, das sich bedeutend auf die Möglichkeiten ihrer Lebensgestaltung auswirkt: So sind es vor allem aufenthaltsrechtliche Barrie-ren, mit der ihre Tochter und ihre Enkelin konfrontiert sind, die dazu fühBarrie-ren, dass die Enkelin kaum Unterstützung in Deutschland erfährt und sie zu einer Auswanderung gezwungen sind. Als die Enkelin bei der Großmutter leben soll, sind es wieder aufenthaltsrechtliche gesetzliche Vorgaben, denen die En-kelin unterliegt und die sie dazu zwingen, sich in Bewegung zu setzen. Struk-turelle migrationsspezifische Barrieren wie die lingualen Machtstrukturen, die Fremdheit im Umgang mit deutschen Behörden und die Unkenntnis ihrer Rechte führen dazu, dass sie trotz aller Bemühung dennoch vom guten Willen Anderer, bspw. ihres (früheren) Ehemannes, abhängig ist.

Es zeigt sich, dass es viel mehr die Kategorie »Migration« mit den oben genannten Ausprägungen ist, die das Leben erschwert, denn die der Behin-derung. Die Kategorie Behinderung ist es allerdings, durch die sie sich ge-zwungen sieht, nicht in den gegebenen Strukturen zu verharren, sondern zu handeln. Auf ihren Wegen und unterschiedlichen Etappen innerhalb der Strukturen kann die Großmutter allerdings migrationsspezifische Ressourcen nutzen. Der transnationale soziale Raum zeichnet sich – auch wenn es sich im Nachhinein als wenig zielführend und als Belastung für Puran erweist – als eine weitere Dimension ab, die der Großmutter als Auffangbecken dient bzw. als vorläufiger Ausweg und Möglichkeit, sich trotz der schwierigen recht-lichen Bestimmungen um ihre Enkelin kümmern zu können. Das Projekt der Nutzung von Ressourcen in Iran muss sie schließlich aufgeben, weil sich ihre Erwartungen von einer sich gegenseitig unterstützenden Familie nicht erfüllt haben.

Weitaus verlässlicher hingegen ist eine andere Dimension, die der Groß-mutter Kraft und Unterstützung gibt: Ihre Religiosität und der Glaube an die Prädestination, die ihr das Gefühl vermittelt, das Richtige für Puran zu tun.

5.4.7 Die Özdemirs – Zwischen institutioneller Diskriminierung und Selbstbezichtigung

Hintergrundinformationen

Die Eltern von Berkin Özdemir, Alper und Meral Özdemir, sind Ende der 1960er Jahre im Rahmen des Anwerbeabkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei nach Deutschland gekommen. Alper und Meral Özdemir sind zu diesem Zeitpunkt beide etwa Anfang 20. In den 70er Jahren beginnt der Vater als Arbeiter in einer großen Fabrik in B-Stadt zu arbeiten. Alper Özdemir ist im Schichtdienst tätig, Meral Özdemir kümmert sich um die Haus- und Familienarbeit. Sie haben zwei Kinder: Ihre Tochter ist heute Anfang 30, sie ist mittlerweile verheiratet und hat zwei Kinder. Ihr Sohn Berkin Özdemir ist zum Interviewzeitpunkt 18 Jahre alt. Er hat das Down-Syndrom. Das Interview fand einen Tag nach seiner Schulentlassfeier statt: Er wurde von seinem sechsten bis zu seinem 18. Lebensjahr auf einer Förderschule mit dem Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung beschult. Nach den Sommerferien wird Berkin Özdemir in einer Werkstatt für Behinderte (WfB) eine Ausbildung beginnen.

Heute leben Alper, Meral und Berkin Özdemir sowie seine Großmutter in einem der wenigen Einfamilienhäuser eines sozial benachteiligten Stadtteils.

Dieses Interview enthält im Vergleich zum Großteil der anderen Interviews des Samples wenig narrative Teile, so dass ich gezwungen war, die Erzählung auch durch meinen vorbereiteten Leitfaden immer wieder anzuschieben. Me-ral und Alper Özdemir haben im Wechsel gesprochen und dabei zwischen den Sprachen Deutsch und Türkisch gewechselt.

Nachdem in den vergangenen vier Interviews insbesondere Familien mit geringen Deutschkenntnissen zu Wort kamen, wurde hier im Rahmen des Theoretical Samplings eine Familie ausgewählt, in der ausgeprägte Ressour-cen im Deutschen vorhanden sind, um Barrieren, die sich auf explizit »Spra-che« beziehen, herausarbeiten zu können. Während die Mutter weniger ausge-feilte Sprachkenntnisse im Deutschen besitzt, sich aber dennoch verständigen kann, verfügt der Vater über recht gute Deutschkenntnisse (etwa B2) aller-dings durch den späteren Zeitpunkt der Migration nicht auf dem Niveau einer Muttersprache. Der Zeitpunkt der Migration ist dem des zweiten Interviews (Fariba Mostafawy) ähnlich, Unterschiede zwischen den Familien bestehen aber im Hinblick auf den sozialen Status und den Bildungshintergrund.

Kernthema:

Im Dokument Kultur und soziale Praxis (Seite 187-190)