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3 Die Theorie-Praxis-Debatte aus zwei Perspektiven

3.1 Professionelles Handeln als evidenzbasiertes Handeln

Die Auffassung von evidenzbasiertem pädagogischen Handeln ist am kritischen Ra-tionalismus orientiert und setzt das Vorliegen wissenschaftlichen Wissens aus der quantitativ-empirisch orientierten Bildungswissenschaft und der Pädagogischen Psy-chologie voraus (Stark, 2017). Professionelles Handeln habe auf verlässlichem Wissen zu fußen. Als empirisch gesichert gelten replizierte Ergebnisse, die auf öffentlich zu-gänglichen, sorgfältig definierten und objektiv gemessenen und systematischen Me-thoden beruhen, am besten auf metaanalytisch kondensierten Befunden aus expe-rimentellen Studien (Slavin, 2002). Die zugrunde liegende handlungstheoretische Position versteht professionelles Handeln als ein Ergebnis rationaler Entscheidungen.

Evidenz erhält „überall dort eine Schlüsselstellung, wo Entscheidungen oder Hand-lungen unter Rationalitätsgesichtspunkten getroffen werden sollen“ (Bromme et al.

2014, S. 9). Kontrolliert erzeugtes Wissen sei zwar nie abgeschlossen, insofern nicht endgültig sicher und eindeutig, aber es sei belastbarer als das „pädagogische Erfah-rungswissen, worunter (mehr oder weniger reflektiertes) Wissen über pädagogische Situationen sowie darauf bezogene Überzeugungen verstanden werden, die primär ausgehend von eigenen und überlieferten Erfahrungen in der Schulzeit sowie von eigenen Lehrerfahrungen generiert werden“ (Stark 2017, S. 100).

Zu Handlungsempfehlungen kommt man entweder durch mehr oder weniger direkte Anwendungen von Zusammenhangsaussagen, die in der Wenn-Komponente eine Handlung und in der Dann-Komponente das angestrebte Ziel enthalten (opera-tive Theorien). Oder man transformiert eine nomologische Theorie in eine Hand-lungsregel (vgl. Herrmann, 1979; Hofer, 2015).

Mit Blick auf die beiden obigen Beispiele können Erkenntnisse der pädagogi-schen Psychologie wie folgt in den Beratungsprozess einfließen: Das Modell von Su-per geht davon aus, dass Menschen Berufe wählen, die zu ihrem Selbstkonzept pas-sen. Und nach Holland ist für eine erfolgreiche Berufswahl die Passung zwischen Beruf und Interessentyp (handwerklich, forschend-intellektuell, künstlerisch, sozial, unternehmerisch, konventionell) entscheidend (Ertelt & Schulz, 2019).

Diese nomologischen Aussagen, oder Varianten davon, enthalten – unter der An-nahme ihrer empirischen Fundierung – in ihrem Dann-Teil den pädagogisch

er-wünschten Zustand und in ihrem Wenn-Teil beeinflussbare Ursachen. Daraus kann folgende Handlungsregel generiert werden: „Um Jugendlichen einen erfolgreichen Aus-bildungsverlauf zu erleichtern, lege ihnen nahe, den Beruf zu erwägen, der ihrem Selbstbild und ihrer beruflichen Orientierung am ehesten entspricht.“ Im Beratungsprozess ist diese Regel situativ umzusetzen.

3.2 Professionelles Handeln als Relationierung von Wissenschaft und Praxis In diesem Abschnitt diskutierten wir die Bedeutung wissenschaftlicher Erkenntnisse für pädagogisch-professionelles Handeln aus der Perspektive einer erziehungswis-senschaftlich-strukturtheoretischen Professionsforschung (Helsper, 2016; Seifert, 2020b). Ziel dieser Forschung ist es, anhand qualitativ-rekonstruktiver Methoden die Strukturlogik professionellen Handelns in verschiedenen Handlungsfeldern heraus-zuarbeiten. Für die Bestimmung des Verhältnisses von Praxis und Wissenschaft sind aus dieser Perspektive insbesondere zwei Aspekte wichtig: die Differenzthese und der Zusammenhang von Ungewissheit und pädagogischer Professionalität (Seifert, 2020a).

Die Differenzthese: Wissenschaftliches und praktisches Wissen als unterschiedliche Wissensformen

Das Verhältnis von Wissenschaft und Praxis wird im erziehungswissenschaftlichen Professionsdiskurs i. d. R. mit der sogenannten Differenzthese begründet (Radtke, 2004). Wissenschaftliches Wissen und praktisches Handlungswissen werden als zwei strukturell verschiedene Wissensformen aufgefasst. Die Vorstellung einer „Anwen-dung“ von wissenschaftlichem Wissen in der Praxis wird deshalb verworfen. Wissen-schaftliches Wissen wird für pädagogisch-professionelles Handeln jedoch dennoch als bedeutsam angesehen. Seine Funktion kann ex ante in einer Sensibilisierung für bestimmte Zusammenhänge liegen, oder ex post in die Begründung von Entschei-dungen bzw. die Beurteilung von Situationen einfließen. Sie wird also im Sinne einer Handlungsreflexion und nicht als Handlungsanleitung gedacht (Radtke, 2004).

Mit Blick auf das Fallbeispiel kann die Berufsberaterin beispielsweise Erkennt-nisse der Migrationsforschung reflektieren. Sie hat festgestellt, dass bestimmte Struk-turen der Ausbildungsorganisation nicht zu den Voraussetzungen und Möglichkeiten vieler geflüchteter Jugendlicher passen. Diehm & Radtke (2019) haben in ihrer For-schung das Phänomen der „Pädagogisierung gesellschaftlicher Probleme“ herausge-arbeitet: Es beschreibt den (häufig immanenten) Anspruch, dass strukturelle gesell-schaftliche Widersprüche pädagogisch gelöst werden sollten. Die wissenschaftlich begründete Erkenntnis, dass strukturelle Widersprüche auf pädagogischer Ebene nur begrenzt bearbeitet werden können, kann von der Berufsberaterin unterschiedlich reflektiert werden: Sie kann zum Beispiel zu einem Gefühl der Entlastung führen, das ggf. Kräfte für andere Fokussierungen freisetzt. Oder sie kann die Entscheidung nach sich ziehen, die wahrgenommenen Missstände in einem lokalpolitischen Ausbil-dungsbündnis zu thematisieren, anstatt zu versuchen, sie auf pädagogischem Wege aufzulösen.

Dewe & Radtke (1993) sehen die Rolle von Wissenschaft vor allem darin, Prakti-kerinnen und Praktikern zusätzliche Perspektiven auf ihre eigene Berufspraxis zu er-möglichen (Dewe, 2009). Die Bedeutung dieser Perspektiven für das konkrete pädago-gische Handeln können jedoch kontext- und fallbezogen nur von den Praktikerinnen und Praktikern selbst (und nicht von der Wissenschaft) bestimmt werden.

Pädagogisch professionelles Handeln als Umgang mit Unsicherheit

Die strukturtheoretische Perspektive unterscheidet sich von einer am kritischen Ra-tionalismus orientierten Sichtweise auch darin, dass sie pädagogischen Handlungs-situationen ein hohes Maß an Nicht-Vorhersagbarkeit konstatiert (Helsper, 2008). Die Aufgabe von Professionellen wird als Bewältigung grundsätzlich paradoxer Anforde-rungen in sozialen Situationen bestimmt. Ein Beispiel für eine solch paradoxe Anfor-derung ist das Verhältnis von Subsumtion und Rekonstruktion. Die Strukturlogik professionellen Handelns definiert sich demnach einerseits an der Ausrichtung an den individuellen Bedürfnissen der Klientinnen und Klienten (Rekonstruktion). Anderer-seits müssen die Einzelfälle unter der Maßgabe allgemeingültiger rechtlicher oder or-ganisationaler Regeln und Rahmenbedingungen behandelt werden (Subsumtion).

Beides steht häufig miteinander in Widerspruch und schafft damit Unsicherheit, wie unsere beiden Beispiele zeigen:

In der Reflexion der Berufsberaterin wird der Anspruch deutlich, die Beratung subjektorientiert und somit angelehnt an individuelle Neigungen und Kompetenzen des Klienten auszurichten (der junge Mann aus Gambia mit Abitur, Kenntnisse im Management und rascher Lernfähigkeit im ersten Beispiel). Anderseits gilt es, ein-schlägige rechtliche Rahmenbedingungen zu berücksichtigen (z. B. Verlängerung der Aufenthaltsgenehmigung über eine Ausbildungsduldung). Die Entscheidung fiel in diesem Fall auf einen schnellen Ausbildungsbeginn (Ausbildung als Gebäudereini-ger) anstatt einer Weiterqualifizierung und Ausrichtung an den Neigungen. Die Bera-terin stellt sich jedoch die Frage, ob sie angesichts der Potenziale des jungen Mannes gut beraten hat. Im zweiten Beispiel wird deutlich, dass die strukturelle Verortung von anderen Beratungspersonen (Schule, Jugendagentur, Landratsamt) in gegensätz-lichen Empfehlungen gegenüber den Jugendgegensätz-lichen münden kann. Eine eindeutige Lösung im Sinne einer „einzig besten Beratung“ scheint es also in solchen Fällen nicht zu geben. Die Beratungssituation gestaltet sich mit Blick auf Prozess und Ergeb-nis als unsicher.

Da es für solche Fälle keine allgemeingültige bzw. eindeutig richtige Regel geben kann, muss immer wieder neu abgewägt und situativ entschieden werden. Die wider-sprüchlichen Anforderungen an Professionelle können, so eine strukturtheoretische Kernaussage, auch durch wissenschaftliches Wissen nicht aufgelöst werden. Pädago-gische Professionalität wird dadurch bestimmt, dass mit Widersprüchlichkeiten und Unsicherheiten reflexiv umgegangen wird (Helsper, 2008).