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2 Blick zurück – Passung, lebenslanges Lernen und Life Design

Savickas (2012, 2015; s. auch Schreiber, 2020) unterscheidet in der BSLB zwischen den drei Paradigmen der Passung, des lebenslangen Lernens und des Life Designs. Die Paradigmen beziehen sich auf die Entwicklung der Arbeitswelt während der letzten 150 Jahre (Savickas, 2008; Savickas & Baker, 2005; Savickas & Savickas, 2019) und fo-kussieren in Abhängigkeit dieser Entwicklung auf unterschiedliche Aufgaben und Rollen, die sowohl den Beratungspersonen als auch den Klientinnen und Klienten in der BSLB zugeschrieben werden.

Tabelle 1 beinhaltet einen Überblick über die drei Paradigmen der BSLB mit Be-zug zu den relevanten Quellen. Der Überblick umfasst die zeitliche Entwicklung der Arbeitswelt (BMAS, 2015), die für die Praxis der BSLB zentralen Themen (Savickas, 2013; Wrzesniewski et al., 1997) sowie die drei Perspektiven Beratungsperson (Savi-ckas, 2015a), Klientin bzw. Klient (McAdams, 2013, 2015; Savi(Savi-ckas, 2015a, 2015b, 2019;

Schreiber, 2020) und Unternehmung (Baruch, 2004, 2006).

Im Grünbuch des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS, 2015) werden vier industrielle Revolutionen beschrieben, welche die Arbeitswelt geprägt ha-ben: Arbeiten 1.0 umfasst den Beginn der Industriegesellschaft unter Einbezug der Dampfkraft gegen Ende des 18. Jh., während Arbeiten 2.0 mit der Elektrizität sowie dem Beginn der Massenproduktion und des Wohlfahrtsstaates gegen Ende des 19. Jh.

einhergeht. Arbeiten 3.0 beinhaltet die Elektronik, die damit verbundene Digitalisie-rung und GlobalisieDigitalisie-rung sowie die soziale Marktwirtschaft, welche sich allesamt in der zweiten Hälfte des 20. Jh. etabliert haben. Arbeiten 4.0 schließlich wird stark ge-trieben durch die sich seit dem Beginn des 21. Jahrhunderts immer stärker verbrei-tende künstliche Intelligenz sowie die zunehmende Verschmelzung von Mensch und Maschine (Robotik). Gemäß oben erwähntem Grünbuch (BMAS, 2015) wird dadurch ein neuer sozialer Kompromiss nötig. Auf diesen Punkt werde ich im Kapitel „Blick nach vorne“ nochmals zurückkommen.

Institutionalisierte BSLB, die sich ab dem Beginn des 20. Jahrhunderts – also im Kontext von Arbeiten 2.0 – entwickelt hat, ist interdisziplinär ausgerichtet und orien-tiert sich sowohl am Individuum als auch an der Arbeitswelt.

Die drei Paradigmen der BSLB im Überblick (Quelle: Eigene Darstellung)

Obwohl die Paradigmen wirksamer Beratung verschiedenen industriellen Revolutio-nen zugeordnet sind, soll damit nicht zum Ausdruck gebracht werden, dass heute nur noch das Paradigma des Life Designs von Relevanz ist. Die Arbeitswelt gestaltet sich genauso wie die Fragestellungen der Klientinnen und Klienten je nach Branche und Region sehr unterschiedlich. Deshalb spielen im heutigen Beratungskontext alle drei Paradigmen eine wichtige Rolle (Savickas, 2019). Im Paradigma der Passung sieht sich die Beratungsperson vorwiegend als Passungsexpertin bzw. -experte, welche Klientin-nen und Klienten konkrete Berufe vorschlägt und dabei auf psychometrisch validierte Fragebogen zurückgreift, während sich Beratungspersonen im Paradigma des lebens-langen Lernens eher als Prozessexpertinnen und -experten sehen, welche ihre Klien-tinnen und Klienten coachen, damit diese ihre Ziele erreichen können. Dabei wird der Fokus auf eine „erfolgreiche“ Laufbahn sowie die Förderung der dafür nötigen Laufbahngestaltungskompetenzen (Neary et al., 2015; Neary & Hooley, 2016) sowie der Laufbahn-Adaptabilität (Savickas, 1997) gelegt. Im Paradigma des Life Designs sieht sich die Beratungsperson als Konstruktionsexpertin bzw. -experte in dem Sinne, dass sie Klientinnen und Klienten in der Beratung einen sozialen Raum für die Ausgestal-tung der beruflichen Identität zur Verfügung stellt. In diesem Prozess geht es für die Klientinnen und Klienten um die proaktive Gestaltung der (beruflichen) Zukunft mit dem Ziel, ein sinnstiftendes berufliches Narrativ sowie die damit verbundene

Beru-fung zu finden. Savickas (2019, 2020) spricht von der prospektiven Reflexivität, die für die Ausgestaltung der beruflichen Identität wichtig ist.

Mit den drei Paradigmen steht der BSLB eine breite Palette an Ansätzen und konkreten Methoden für die Begleitung der unterschiedlichen Übergangssituationen ihrer Klientinnen und Klienten zur Verfügung (McMahon & Watson, 2015; Schreiber, 2020).

Im Gegensatz zum Grünbuch des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS, 2015) gehen Brynjolfsson & McAfee (2014) nicht von vier, sondern von zwei industriellen Revolutionen mit maßgeblichem Einfluss auf die Arbeitswelt aus. Für sie läutete die Nutzung der Dampfkraft gegen Ende des 18. Jahrhunderts die erste industrielle Revolution ein. Dabei wurde die menschliche Muskelkraft durch die Dampfkraft ersetzt und der Anfang der Industriegesellschaft eingeläutet. Sowohl die Massenproduktion als auch Eisenbahnen als Transport- und Fortbewegungsmittel ha-ben sich in der Folge entwickelt. Gemäß Precht (2020a) hat diese Entwicklung zur bürgerlichen Lohnarbeits- und Leistungsgesellschaft sowie zur parlamentarischen Demokratie mit Volksparteien anstelle einer Vorherrschaft von Kirche und Adel ge-führt. Neben der parlamentarischen Demokratie als gesellschaftliche Ordnung hat sich nach dem 2. Weltkrieg in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch die soziale Marktwirtschaft mit einem über weite Strecken global verlaufenden Handel von Gütern und Dienstleistungen als Wirtschaftsordnung und sozialer Kompromiss etabliert.

Aktuell befinden wir uns gemäß Brynjolfsson & McAfee (2014) mitten in der zweiten industriellen Revolution, in welcher die menschliche Geisteskraft aufgrund von künstlicher Intelligenz und Robotik zunehmend durch Computer und Roboter ersetzt wird. Analog zur Dampfkraft wird auch diese zweite industrielle Revolution – nach anfänglichen Anlaufschwierigkeiten, die auf den fehlenden unmittelbaren Pra-xistransfer zurückzuführen sind – die wirtschaftliche Ordnung als Ganzes disruptiv verändern (McAfee & Brynjolfsson, 2017).

Der Unterschied zwischen einer eher kontinuierlichen und einer disruptiven Entwicklung kann mithilfe der sich entwickelnden Berufsbilder veranschaulicht wer-den. Durch die Digitalisierung (Arbeit 3.0) hat sich beispielsweise eine eher kontinu-ierliche Entwicklung von dem/der Schriftsetzer*in zum/zur Mediengestalter*in Digi-tal und Print (in der Schweiz: Polygraf*in) vollzogen. Während Schriftsetzer*innen Texte noch mit Setzkasten und Bleisatzlettern von Hand gestaltet haben, bearbeiten Mediengestalter*innen Digital und Print sowohl Texte als auch Bilder primär am Computer. Der Beruf hat sich von einer handwerklichen Ausrichtung hin zu einem Computerberuf mit kreativer Ausrichtung entwickelt. Diese Entwicklung hat dazu ge-führt, dass das heutige Berufsbild im Vergleich zu früher Personen mit anderen be-ruflichen Interessen anspricht. Dennoch kann man von einer kontinuierlichen Ent-wicklung sprechen, weil das neue Berufsbild mit Blick auf die Anforderungen für viele Schriftsetzer*innen – sofern sie das wollten – durch Kompetenzentwicklung im Sinne des lebenslangen Lernens erreich- und bewältigbar war.

Aufgrund der zunehmenden Wichtigkeit von Algorithmen der künstlichen Intel-ligenz sowie Robotik (Arbeiten 4.0) verändern sich viele Berufsbilder in der heutigen Zeit disruptiv. Das zeigt sich zum einen darin, dass zahlreiche neu entstandene Be-rufe wie Big Data Scientist*in oder Robotik-Ingenieur*in für viele Arbeitnehmer*in-nen aufgrund der Anforderungen, welche fast ausschließlich eiArbeitnehmer*in-nen Hochschulab-schluss beinhalten, durch Kompetenzentwicklung nur sehr schwer oder überhaupt nicht mehr erreichbar sind. Zum anderen geht die disruptive Entwicklung damit ein-her, dass verschiedene Berufe durch Computer oder Roboter ganz ersetzt werden. Die Automatisierung bestimmter Tätigkeiten stellt aufgrund der drohenden Arbeitslosig-keit zwar eine Gefahr dar, kann bei TätigArbeitslosig-keiten, die mit physischen Gefahren einher-gehen (z. B. auf Baustellen) oder die für viele Menschen weniger attraktiv sind (z. B.

Reinigung), aber auch als große Entlastung und deshalb als Chance betrachtet werden.

3 Blick nach vorne – Grundeinkommen und Beratung für