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Die Prototypentheorie als theoretischer Hintergrund

6 Ist die semantische Demenz wirklich semantisch? Eine Fallvorstellung

6.2 Dokumentation des Lexikonabbaus bei H.T

6.2.2 Die Prototypentheorie als theoretischer Hintergrund

Die Prototypensemantik stellt einen Ansatz zur kognitiven und sprachlichen Kategorisierung dar und bildet eine Grundlage zur Konzeption und Organisation des semantischen Systems. Sie geht davon aus, dass das semantische System bzw. ihre Konzepte einer kategoriellen Struktur unterworfen ist, welche zum einen in der intrakategoriellen Ordnung auf den sogenannten Prototyp bezogen ist und in der interkategoriellen Ordnung in einer Begriffshierarchie unterteilt ist.

6.2.2.1 Die intrakategorielle Organisation

Die intrakategorielle Organisation des semantischen Systems basiert auf dem Gedanken, dass es innerhalb einer Kategorie Exemplare gibt, die typischer sind als andere. Dieser Prototyp wird als zentrales Element innerhalb einer Kategorie gesehen. Natürlich gelten die Prototypen nur innerhalb einer Sprachgruppe. Als prototypisch gilt ein Exemplar, wenn es „gemeinhin mit einer Kategorie assoziiert wird“ (Kleiber 1998:32). Experimente haben gezeigt, dass prototypische Exemplare einer Kategorie schneller kategorisiert werden als periphere, Kinder prägen sich Prototypen einer Kategorie zuerst ein, außerdem werden Prototypen zuerst genannt, wenn es gilt, Vertreter einer Kategorie aufzuzählen (Kleiber 1998:39). Der Prototyp weist ein Merkmalbündel auf, das die wichtigsten Aspekte einer Kategorie repräsentiert, ist also das Exemplar mit dem höchsten Repräsentativitätsgrad.

Schlechtere Vertreter weisen einen dementsprechend schlechteren Repräsentativitätsgrad auf und sind eher am Rand einer Kategorie angesiedelt. Der Prototyp definiert jedoch nicht nur typische Exemplare einer Kategorie, sondern ist auch als mentale Repräsentation zu verstehen, der als kognitiver Bezugspunkt für die Kategorisierung dient. Der Prototyp bzw.

prototypische Merkmale bzw. Attribute besitzen eine geringe Störungsanfälligkeit, daher wird im Fall einer Semantischen Demenz postuliert, dass semantische Leistungen, die sich nahe eines Prototyps bewegen, leichter zu bewältigen sind, als bei semantischen Aufgaben, die keine prototypischen Merkmale aufweisen. Das offensichtlichste Argument hierfür liegt im Aufgabenbereich der Farbzuordnung bei Objekten. Hat ein Objekt eine für die jeweilige Kategorie „untypische“ Farbe, z.B. lila für Aubergine (Kategorie Gemüse), wählen SD-Patienten nicht die Farbe lila, sondern es wird eine für die Kategorie prototypische Farbe zugeordnet, z.B. grün. Prototypische Farben der Kategorie

„Lebensmittel“, beispielsweise das Grün der Gurke, wird im Allgemeinen richtig zugeordnet (Knibb & Hodges 2005). In weiteren Studien zum Benennen (Hodges et al.

1995), zum semantischen Identifizieren und Zuordnen (Warrington 1975b), zum Wort-Bild-Zuordnen (Funnell 1996) und Zeichnen nach auditiver Vorgabe (Lambon Ralph &

Howard 2000) sind ähnliche Ergebnisse ermittelt worden: Erhalten sind vor allem semantische Attribute, die Vertreter einer Kategorie miteinander gemein haben (z.B. Tiere haben vier Beine und einen Schwanz), also prototypische Attribute. Demgegenüber wurden rapide Verschlechterungen bei der Verarbeitung von Attributen, die Co-Hyponyme voneinander unterscheiden (z.B. Schwein vs. Ziege). In Zeichnungen neigen SD-Patienten dazu, prototypische Merkmale auf einen untypischen Vertreter seiner Kategorie zu

projizieren bzw. untypische Merkmale zu negieren. Beispielweise wurde eine Ente mit vier Beinen versehen und ein Kamel ohne Höcker gezeichnet70 (Lambon Ralph & Howard 2000).

Abbildung 57.Darstellung einer Ente (links) und eines Kamels (rechts) gezeichnet von einem SD-Patienten (Beispiele entnommen aus Lambon Ralph & Howard 2000: 460)

In einer Studie von Rogers et al. (2003) wurde der Object Identification Test des BORB (reale Objekte sollten von chimärischen Objekten unterschieden werden) dahingehend verändert, das in einem Untertest das jeweils reale Objekt prototypische Merkmale aufwies, im anderen Untertest jedoch das chimärische Objekt „prototypischer“ war.

Beispiele für prototypischere Chimären sind beispielsweise die Zeichnung eines Gorillas mit einem Schwanz oder ein Kamel ohne Höcker. Diese wurden von den SD-Patienten statt der realen Objekte (Gorilla ohne Schwanz, Kamel mit Höcker) als richtig empfunden.

Wenn ein reales Objekt prototypischere Merkmale aufwies als das chimärische, entschieden die SD Patienten wieder für die prototypischen Merkmale, also in diesem Fall richtig. Dieses Phänomen stellt ein weiteres Argument für den semantischen Abbau dar, wobei das Konzept des jeweiligen Prototyps bzw. prototypischer Attribute weitgehend verblieben ist.

70 In dieser Studie wurde in der Aufgabenstellung die lexikalische Verständnisleistung ausgeklammert, indem ein Bild des Zielobjektes zuvor vom Patienten (fehlerfrei) kopiert wurde, er also alle semantischen Attribute selbst aufzeichnete. Die semantische Aufgabe bestand darin, nach einer Minute das zuvor abgezeichnete Bild nochmals zu zeichnen.

6.2.2.2 Die interkategorielle Organisation

Die interkategorielle Organisation postuliert drei Ebenen der semantischen Begriffe: die Basisebene, die Ebene der übergeordneten Begriffe (Hyperonyme) und die Ebene der untergeordneten Begriffe (Hyponyme) (vgl. Rosch et al. 1976). Die zentrale Ebene stellt dabei die Basisebene dar. Die Begriffe in der Basisbene werden auch „Primärbegriffe“

(Hoffmann 1986) genannt, die als die allgemeinsten konkreten Begriffe einen besonderen Stellenwert im Begriffssystem der natürlichen Sprachen einnehmen. Diese Primärbegriffe, zu denen auch der Prototyp gehört, definiert Lakoff als „[…] shortest, most commonly used and contextually neutral words first learned by children and first to enter the lexicon“

(Lakoff 1987: 47). Die übergeordnete Ebene stellt die Ebene der Oberbegriffe dar, die vor allem kategorial bestimmt ist und kein konkretes Objekt bezeichnet, etwa Pflanze als Hyperonym zu Baum. Die untergeordnete Ebene der Basisebene spezifizieren die Primärbegriffe weiter indem zusätzliche semantische Attribute integriert werden, z.B.

Eiche als Hyponym zu Baum.

Abbildung 58. Auszüge der interkategoriellen Organisation des Konzeptes Hund als Prototyp der Kategorie Tier (entnommen aus Neubert et al 1995)

Rosch et al. (1976) haben aufgrund von Befragungen festgestellt, dass die Primärbegriffe in einer signifikanten Anzahl bestimmter Merkmale übereinstimmen, welche im Übergang zur übergeordneten Ebene abnehmen, im Übergang zur untergeordneten Ebene jedoch

Basisebene bzw.

Primärbegriffe Hyperonym

Hyponym

nicht signifikant zunehmen. Die Basiskategorie gilt demnach als informativste und zugleich ökonomischste Ebene. Die Begriffe der Basisebene bzw. die Primärbegriffe gelten in der Aphasiologie außerdem als relativ unanfällig für Störungen, wie zahlreiche Studien belegen (Brownell 1986, Kudos 1987, Akhutina & Glozman 1995, Tyler & Moss 1997). Die geringe Störanfälligkeit der Primärbegriffe lassen sich durch die Markiertheitstheorie nach Jakobson erklären. Das implikative Gesetz der Markiertheit in Bezug auf Abbauprozesse lautet, dass markierte Strukturen früher verloren gehen als unmarkierte. Nach dem Markiertheitsprinzip würden markierte Strukturen also anfälliger für aphasische Störungen sein als unmarkierte. Die Markiertheitstheorie wurde ursprünglich auf phonologische bzw. morphologische Strukturen angewendet, allerdings finden sich auch Markiertheitsrelationen im Lexikon bzw. in paradigmatischen Bedeutungsrelationen wie in antonymen Wortpaaren z.B. lang/kurz, groß/klein71. Die Markiertheitstheorie könnte auch auf die drei Ebenen der semantischen Begriffskategorien nach Rosch et al. (1976) angewendet werden. Die Basisebene bzw. die Ebene der Primärbegriffe gilt dabei als die unmarkierte Ebene, da diese kognitiv am leichtesten zu verarbeiten ist. Die Primärbegriffe sind vorwiegend sensorisch determiniert und besitzen gerade genug semantische Merkmale um auf ein konkretes Objekt zu verweisen. Die Ebene der Oberbegriffe ist kategorial bestimmt, besitzen also einen hohen Grad semantischer Abstraktheit. Die Zuordnung eines Primärbegriffs zu einem dieser Oberbegriffe kann nur durch den Vergleich kategorialer Merkmale erfolgen. Dies ist ein komplexer semantischer Prozess und dementsprechend wird erwartet, dass diese seman-tischen Operationen für SD-Patienten im fortgeschrittenen Stadium kaum durchzuführen sind. Die Unterbegriffe der Primärbegriffe sind ebenfalls vorwiegend sensorischer Art, jedoch sind sie spezifischer, d.h. semantisch „reicher“ und somit komplexer in der Struktur und Verarbeitung. Eine Zuordnung eines solchen Begriffs wäre somit semantisch ebenfalls aufwendiger. Fazit dieser Diskussion ist, dass die Ebene der Primärbegriffe als die unmarkierteste der drei Ebenen gilt. Dafür spricht die Tatsache, dass die Primärbegriffe bzw. die Kategorien dieser Ebene, am unanfälligsten für aphasische Störungen sind, wie oben bereits ausgeführt. Die Ebene der Oberbegriffe ist komplexer bzw. markierter, da zu wenig semantische Merkmale vorhanden sind um auf ein konkretes Denotat zu verweisen und daher semantisch abstrahiert werden muss um die Kategorien dieser Ebene zu

71 Das unmarkierte lexikalische Element kann identifiziert werden, da es auch relativ neutral gebraucht wird und z.B. mit Maßangaben kombinierbar ist oder abstrahiert werden kann, z.B. „Die Pause war 10 Minuten lang/*kurz“ oder „ich bin 1,70m groß/*klein“, alt/Alter - jung/*Jungheit.

verarbeiten. Die Ebene der Unterbegriffe ist dahingehend markiert, dass zu viele semantische Merkmale vorhanden sind, die eine Verarbeitung komplex gestaltet.

In Bezug auf die semantische Demenz würde man entsprechend annehmen, dass die Basiskategorie am längsten dem Abbauprozess bei semantischer Demenz widersteht. Dies spiegelt sich in der Literatur jedoch nicht eindeutig wider. Studien zum Benennen bei SD-Patienten zeigen, dass oftmals bei Benennschwierigkeiten der jeweilige Oberbegriff produziert wird (Knibb & Hodges 2005). Aber auch Primärbegriffe wurden als seman-tische Paraphasien produziert. Diese waren zumeist hochfrequent und nahe am Prototyp gelegen. Knibb & Hodges gingen davon aus, dass Art der Benennfehler bei semantischer Demenz von einer Vielzahl an Faktoren abhängig ist. Aufgrund nichtpublizierter Beobachtungen schätzen die Autoren, dass die Gebrauchshäufigkeit im prämorbiden Wortschatz des Patienten eine wichtige Rolle im verbliebenen Wortschatz spielt.