• Keine Ergebnisse gefunden

Der Begriff „Aphasie“ bei PPA: Ansätze einer Definition

3. Sprachdiagnostische Möglichkeiten der PPA

3.5 Der Begriff „Aphasie“ bei PPA: Ansätze einer Definition

Auffallend bei den in Kapitel 3.3 dargestellten Ergebnissen ist die Tatsache, dass in einigen Fällen die aphasische Störung der PPA-Patienten nicht durch den AAT quantifizierbar war. Diese Tatsache lässt die Schlussfolgerung zu, dass die aphasische Störung bei PPA nicht mit den klassischen Aphasien zu vergleichen ist. Die Frage, die hier gestellt werden muss, lautet, ob die Aphasie bei PPA überhaupt als Aphasie im traditionellen definitorischen Sinn zu bezeichnen ist. Um diese Frage adäquat zu beantworten, sei an dieser Stelle beschrieben, wie Aphasie tyischerweise definiert wird.

Die im Folgenden aufgeführten definitorischen Merkmale der Aphasie sollen vor dem Hintergrund der diagnostischen Ergebnisse der PPA-Gruppe diskutiert werden.

Die genaue Definition der Aphasie ist nicht unumstritten. Laut Tesak (1997:1) herrscht lediglich über zwei definitorische Merkmale Einigkeit:

1. Aphasie hat die Ursache in einer Schädigung des Gehirns 2. Eine Aphasie resultiert in einer sprachlichen Beeinträchtigung Die weiteren Merkmale führt Tesak (ebd.) als umstritten an:

3. Aphasie ist das Resultat einer plötzlich auftretenden, umschriebenen kortikalen Läsion der linken Hemisphäre.

4. Aphasie betrifft sprachliche Leistungen bei relativer Intaktheit von Intelligenz und Gedächtnis.

5. Aphasie tritt nach vollzogenem Spracherwerb auf.

6. Aphasien sind relativ stabil und chronisch.

7. Aphasie ist eine Störung aller sprachlichen Modalitäten und Ebenen.

Laut der generellen Definition (Punkt 1 und 2) liegt bei PPA eine Aphasie vor, da sowohl eine Schädigung des Gehirns vorliegt, als auch eine Sprachstörung aus dieser Schädigung heraus resultiert. Diskussionswürdig bei PPA sind folgende Punkte:

• Zu Punkt 3: PPA tritt nicht plötzlich auf, sondern schleichend.

• Zu Punkt 4: PPA ist im fortgeschrittenen Stadium meist überlagert durch kognitive Einschränkungen.

• Zu Punkt 6: Die Aphasie bei PPA ist keineswegs stabil, sondern verschlimmert sich im Verlauf.

Punkt 7 ist es wert, näher beleuchtet zu werden. Die Tatsache, dass eine Aphasie nur auf multimodaler bzw. supramodaler Ebene stattfinden kann, d.h. dass die Aphasie auf allen Ebenen der Sprache ähnlich stattfindet, ist umstritten (Tesak 1997). Wurde füher noch behauptet, dass die linguistischen Symptome der Aphasien supramodal seien, also alle 4 Modalitäten44 betroffen sind (Poeck 1981:108), erfuhr diese Behauptung eine immer stärkere Abschwächung (Huber, Pock & Weniger 1989:89): „Aphasische Störungen können also stets multi- und/oder supramodal auftreten.“ Unimodale Störungen wie Agraphie oder Alexie sind daher schwierig einzuordnen. Goodglass & Kaplan (1983) nehmen an, dass eine selektive Störung einer Modalität, bzw. eine Störung einzelner sprachlicher Komponenten bei Aphasie möglich ist und prägten das Konzept der

44 Die 4 Modalitäten der Sprache sind Sprechen, Verstehen, Lesen, Schreiben.

unimodalen Aphasie bzw. der modalitätspezifischen Aphasie. In der PPA-Diagnostik ist es nun so, dass bei deutlicher sprachlicher Problematik einiger PPA-Patienten, die Aphasie nicht auf die anderen Bereiche übergegriffen hat. W.P. litt seit 5 Jahren an PPA, die Sprachexpression war durch die extreme Unflüssigkeit, die Sprachanstrengung und die Grammatikstörung deutlich auffällig, allerdings zeigten die AAT-Ergebnisse abgesehen von der Spontansprache lediglich geringe Auffälligkeiten. Diese Beobachtungen lassen die Vermutung zu, dass PPA, anders als in einigen Definitionen von Aphasie, doch auch eine unimodale Störung sein kann. Eine weitere Erklärung für die teilweise unauffälligen AAT-Ergebnisse, ist die Tasache, dass der AAT in diesem Fall kein valides Ergebnis liefert.

Ebenfalls ein strittiger Punkt ist, wie bereits oben angeführt die Tatsache, dass die Aphasie sprachliche Leistungen bei relativer Intaktheit weiterer kognitiver Fähigkeiten betrifft. Hier stellt sich zunächst die Frage inwieweit sprachliche Fähigkeiten überhaupt von weiteren kognitiven Fähigkeiten abgegrenzt werden kann. Der Grund dieses diagnostischen Merkmals ist dennoch einleuchtend. Caplan (1991:12) trennt beispielsweise primäre und sekundäre Aphasien. Bei primären Aphasien sind die Sprachprozesse direkt betroffen, wohingegen bei sekundären Aphasien Wahrnehmungs-, Gedächtnis- und/oder Aufmerksamkeitsstörungen zu aphasischen Symptomen führen können. Aphasische Symptome aufgrund einer Demenz wie beispielsweise Morbus Alzheimer können zu den sekundären Aphasien hinzugezählt werden, da hierbei nonverbale kognitive Defizite (Störungen in Gedächtnis, Aufmerksamkeit/Konzentration und Wahrnehmung) im Vordergrund stehen und die Alzheimer-typischen Sprachprobleme in der Pragmatik und der Semantik bzw. des Lexikons bis zu einem gewissen Grad bedingen. Aus diesem Gedankengang heraus stellt sich die Frage nach der Einordnung der PPA. Der Frage, ob die PPA zu den primären oder den sekundären Aphasien hinzugezählt wird, ist bis jetzt noch nicht nachgegangen worden. Obwohl neurodegenerative Erkrankungen mit sprachlichen Beeinträchtigungen tendenziell den sekundären Aphasien zugeordnet werden, tritt bei PPA die Aphasie relativ isoliert auf, die Sprachstörung ist also nicht durch allgemein-kognitive Störungen zu erklären. Aus diesem Grund könnte PPA als primäre Aphasie gelten.

4. Störung grammatischer Kompetenzen

Die Störung der Grammatikproduktion, also der Syntax und der Morphologie, ist im Bereich der klassischen Aphasiologie sehr gut untersucht, jedoch ist eine linguistische Auswertung von Spontansprache bei PPA im Hinblick auf die Einordnung der grammatischen Störungen bisher nicht erfolgt. In diesem Kapitel soll nun versucht werden, den Abbau grammatischer Fähigkeiten zu beschreiben und theoretisch zu verankern. Für die Beschreibung des Abbaus sprachlicher Fähigkeiten bietet sich die Markiertheitstheorie an. Dieser Ansatz basiert auf dem linguistischen Strukturalismus der Prager Schule.

Trubetzkoy (1958) und Jakobson (1932/1971, 1944/1982) gehen davon aus, dass (zunächst phonologische) Elemente einer Sprache in binären Oppositionen organisiert sind, welche unterschiedliche Markiertheitswerte aufweisen und somit hierarchisch organisiert sind. Der Markiertheitsgedanke Jakobsons basiert darauf, dass das jeweilige markierte Element einer Opposition ein zusätzliches charakteristisches Merkmal aufweist und der merkmalsneutrale Pol als unmarkiertes Mitglied gilt. Jakobson konnte beispielsweise bei Aphasie einen Markiertheitsabbau innerhalb des phonologischen Systems nachweisen, in dem markierte Elemente störungsanfälliger waren als unmarkierte. In der Natürlichkeitstheorie wird der Markiertheitsgedanke aufgegriffen und auf das Gebiet der Morphologie bzw. auf grammatische Kategorien übertragen (Dressler 1977a, 1977b, Mayerthaler 1977, 1981, Wurzel 1977). Der Grundgedanke der Natürlichkeitstheorie besagt, dass unmarkierte Strukturen „natürlicher“ sind als markierte, die als „komplexer“ gelten. „Natürliche“

sprachliche Einheiten sind daher kognitiv leichter zu verarbeiten und daher auch bei Abbauprozessen weniger anfällig für Störungen. Natürlichkeit und Markiertheit stehen hierbei in einem umgekehrt proportionalen Verhältnis: je natürlicher ein Element, desto unmarkierter ist es. Leiss (1992) zeigt auf, dass neben den kategorieinternen Strukturen auch die Verbindungen zwischen den Verbalkategorien hierarchischen Prinzipien aufgrund ihrer unterschiedlichen Markiertheit unterworfen sind, wobei einfache Kategorien die Bausteine für komplexere Kategorien bilden. Leiss (1992) postuliert eine Komplexitätshierarchie der deutschen Verbalkategorien, wobei der Aspekt die unmarkierteste der untersuchten Verbalkategorien darstellt. Die nächst komplexere Kategorie stellt der Genus Verbi dar, gefolgt vom Tempus. Der Modus stellt laut Leiss die höchste Komplexität bzw. die markierteste Kategorie dar.

Auf der Basis dieser Annahmen untersuchte Seewald (1998) zwei Agrammatiker, und wies eine hohe Störungsresistenz des Partizip II nach. Das Partizip II bringt die Abgeschlossenheit der Verbalsituation und damit den perfektiven Aspekt zum Ausdruck.

Es steht in Opposition zum Partizip I, dass das Andauern der Verbalsituation und damit den perfektiven Aspekt zum Ausdruck bringt. Agrammatiker mit erhaltenem Partizip II können somit, trotz Störungen im Bereich des Tempus, perfektive Aspektualität versprachlichen. Vor dem Hintergrund der Markiertheitstheorie ging Seewald in Übereinstimmung mit Leiss (1992) von der Arbeitshypothese aus, dass die Verbalkategorie Aspekt demnach als besonders störungsunanfällig bzw. unmarkiert sein muss, Seewalds Untersuchung bestätigt diese These.

In der Erforschung der PPA würde sich ein Nachweis eines Markiertheitsabbaus innerhalb der pathologischen Sprachproduktion anbieten, da aufgrund der fortschreitenden Degeneration der sprachlichen Fähigkeiten bei PPA das Fortschreiten des Sprachabbaus bzw. des Markiertheitsabbaus in einer Langzeitstudie schon bei einem Patienten dargelegt werden könnte und somit die Reihenfolge des Markiertheitsabbaus unmittelbar erfahrbar wäre. In der vorliegenden Arbeit ist die Datenlage für einen Nachweis einer Markiertheitshierarchie nicht geeignet, da lediglich eine Patientin der untersuchten PPA-Gruppe agrammatische Symptome zeigt, jedoch immer noch zumeist vollständige Strukturen produziert und auch noch hochmarkierte grammatische Kategorien wie z.B. den Modus in der Expression beherrscht. Da nun der theoretische Ansatz des Markiertheitsabbaus aufgrund der Datenlage nicht angewendet werden kann, wird versucht, neue Erkenntnisse im Hinblick auf die Modellierung der Grammatikstörung auf Basis der PPA-Forschung zu gewinnen, d.h. die in einem semistandardisierten Interview erhobenen Daten werden qualitativ analysiert und anhand verschiedener syntaxfähiger Sprachproduktionsmodelle diskutiert.

Nach den Neary-Kriterien zur klinischen Diagnose von PPA wird bei PNFA der Agrammatismus als ein mögliches sprachliches Symptom der aphasischen Störung postuliert. Bei SD werden die grammatischen Fähigkeiten als intakt beschrieben (siehe Neary et al. 1998). Allerdings bleiben bezüglich der Grammatikstörung einige Fragen offen. In der englischsprachigen Literatur wird der Terminus „agrammatism“ generell synonym für Grammatikstörung verwendet, so dass eine qualitative Unterscheidung in

Agrammatismus und Paragrammatismus in der Literatur, soweit dort nicht anders angegeben, nicht präsupponiert werden sollte. Grossman & Ash (2004) definieren die Grammatikstörung bei PNFA als „omission or incorrect use of grammatical terms including articles, prepositions, auxiliary verbs etc.” (2004:18) und deuten so eine allgemein gehaltene Grammatikstörung ohne Typeneinteilung an. Kertesz (2000, siehe auch Kertesz & Munoz 1998:70) beschreibt die Grammatikstörung bei PNFA als ähnlich der Broca-Aphasie, wobei der broca-ähnliche Agrammatismus als vorübergehendes Stadium zu betrachten sei, der im Mutismus ende. Inwieweit ein Agrammatismus als solcher bei PNFA vorliegt oder eine Typeneinteilung möglich ist, soll im folgenden Kapitel anhand der Spontansprachedaten ebenfalls diskutiert werden. Des Weiteren sollen die Neary-Kriterien, die eine intakte Grammatik bei SD postulieren, überprüft werden, daher wird die Spontansprache-Analyse bei der gesamten PPA-Gruppe durchgeführt und im Folgenden exemplarisch dargestellt.

4.1 Agrammatismus und Paragrammatismus in der Sprachforschung