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POLITISCHEN E BENE

3.2 Die kritische Reflexion des wissenschaftlichen Realismus

Im Anschluss an die Darlegung der idealtypischen Position des wissenschaftlichen Rea-lismus wird diese im Folgenden kritisch reflektiert. Dies wird so geschehen, dass zuerst auf die ´externen` Kritikpunkte am wissenschaftlichen Realismus eingegangen wird, die von Seiten konstruktivistischer und soziologischer Wissenschaftstheorien vorgebracht werden (3.2.1). Hierbei geht es um die theorieexternen Kritikpunkte am wissenschaft-lichen Realismus, die gegen diesen, als wissenschaftstheoretische Grundlage für die Betrachtung der Biodiversität, vorgebracht werden. Hierüber wird im Kern dargelegt, dass durch das realistische Wissenschaftsverständnis die Konstitutionsbedingungen von Wissenschaft als kultureller und sozialer Praxis der Wahrheitsfindung nicht konse-quent genug beachtet werden, die aber gerade für einen Forschungsgegenstand wie Biodiversität als Grenz- und Hybridkonzept im Besonderen relevant sind. Da diese ex-ternen Kritikpunkte indes nicht hinreichend sind, um den wissenschaftlichen Realismus als solchen substanziell zu hinterfragen, da alle Theorien seitens konkurrierender An-sätze Kritik ausgesetzt sind, wird im Anschluss daran auf die ´internen` Kritikpunkte, sprich die innertheoretische Kritik am wissenschaftlichen Realismus eingegangen (3.2.2). Über diese Ausführungen soll gezeigt werden, dass der Realismus als Wissen-schafts- und Erkenntnistheorie auf zu anspruchsvollen Annahmen hinsichtlich seiner Wahrheitskonzeption (epistemische Thesen) und letztlich auch seiner Zielb-stimmung wissenschaftlicher Praxis (axiologische These) basiert, so dass im Anschluss daran der Vorschlag unterbreitet wird, die Zielbestimmung wissenschaftlichen Handelns gemäß der »Methodologie wissenschaftlicher Forschungsprogramme« nach Imre Lakatos als

„progressive Problemverschiebung“, d.h. nicht als theoretische Korrespondenz mit der Wahrheit und der Wirklichkeit, sondern als theoretischen und empirischen Erkennt-nisüberschuss gegenüber vorangegangen Theorien zu bestimmen.

3.2.1 Die externe Kritik am wissenschaftlichen Realismus:

Die Ausblendung der kulturellen Konstitutionsbedingungen der Biodiversitätskonzeption

Ausgehend von dem, in der Problemselektion (siehe 2.4.1) festgestellten und darge-legten methodologischen Fehlschluss der Gleichsetzung von Forschungsobjekten (bioti-sche und abioti(bioti-sche Vielfalt) und Forschungskonzepten (biologi(bioti-sche Vielfalt), wird im Folgenden auf Basis des sogenannten Erlanger Konstruktivismus61 - der darauf

61 Der Erlanger Konstruktivismus ist ein methodenkritischer Ansatz in der Wissenschaftstheorie: „In ei-nem Satz zusammengefasst versucht der Erlanger Konstruktivismus einen begründeten und zirkel-freien Aufbau der Wissenschaftssprachen und damit der Wissenschaften selbst zu leisten.“ (Zitter-barth 1991:79) Alle Schulen des Erlanger Konstruktivismus fokussieren auf die rational nachvollzie-hbare Rekonstruktion von Begriffen (und Argumenten), mit dem Ziel begriffliche Unklarheiten in der

siert, dass es mit Hilfe der Sprach- und Wissenschaftsmethodik möglich ist, die rea-listische Auffassung von der Wirklichkeit und dem ´naiven Vorfinden und Beobachten der Welt` zu überwinden und durch eine methodische Erkenntnis- und Wissenschafts-konstruktion zu ersetzen (Pörksen 2011:21–25) - argumentiert, dass das realistische Wissenschaftsverständnis keine geeignete Basis für die Analyse des Forschungsgegen-standes Biodiversität darstellt, weil das Verständnis von Erfahrung und Beobachtung in den Biowissenschaften, genau wie in allen Naturwissenschaften, nach wie vor primär rezeptorisch verstanden wird. Das bedeutet, dass Naturgegenstände als ´Ausdruck` der Wirklichkeit verstanden werden, auch wenn ein solcher ´Ausdruck` technisch im Labor oder im Experiment provoziert und erzeugt worden ist. Ein solches Verständnis von Er-fahrung und Beobachtung führt aber dazu, dass die Konstitutionsbedingungen von Wis-senschaft als kultureller und sozialer Praxis nicht konsequent genug beachtet werden, die aber gerade für den Forschungsgegenstand der Biodiversität als Grenz- und Hy-bridkonzept im Besonderen relevant sind. Maßgeblich ist dabei die Orientierung an den BeobachterInnen als TeilnehmerInnen, d.h. als die, die Wirklichkeit konstituie-renden und Realitäten konstruiekonstituie-renden Instanzen, womit gleichzeitig die realistische Vorstellung einer nicht-epistemischen Wahrheitskonzeption und einer empirischen Objektivität verabschiedet werden, weil der Beobachter nicht als unabhängig von der Erkenntnis angesehen wird. Dementsprechend liegt der Fokus der Kritik nicht auf den ontologischen Thesen, d.h. dem ´Wesen der Dinge` (ontologische Was-Fragen), son-dern auf den epistemischen Thesen, sprich dem Prozess und der Entstehung von Er-kenntnissen (epistemologische Wie-Fragen). Kern der Kritik ist dabei die Plausibilisie-rung der Einsicht, dass jedes Unterscheidungskriterium von Erkennen und Nicht-Erken-nen notwendigerweise eiNicht-Erken-nen normativen Charakter hat, so dass jeder Versuch meta-sprachliche Wahrheitskriterien von Aussagen als Behauptungen und nicht als Normen zu interpretieren, auf einen infiniten Regress hinausläuft (Janich 1996:148–149). Ge-nau auf diesen Punkt läuft die externe Kritik am wissenschaftlichen Realismus hiGe-naus:

verständnisse im wissenschaftlichen Austausch zu verringern. In einem engem Zusammenhang mit dieser, auf Pragmatik als Grunddisziplin beruhenden, Sprachtheorie steht die Konsensustheorie der Wahrheit: „Ein Satz soll als wahr gelten, wenn ihm in einem unvoreingenommenen Diskurs, einer idealen Sprechsituation, jeder Sachkundige und Gutwillige zustimmen kann. Ein solcher unvoreinge-nommener Diskurs ist u.a. dadurch gekennzeichnet, dass er von allen Teilnehmern undogmatisch, zwanglos und nicht persuasiv geführt wird: Zwischen allen Teilnehmern soll absolute Symmetrie herrschen. Wenn eine wissenschaftliche Theorie in diesem Sinne als begründet gelten soll, so müs-sen die ersten Sätze dieser Theorie, die ja ihrerseits nicht wieder aus anderen Sätzen abgeleitet wer-den können, in einem solchen Diskurs Zustimmung finwer-den können. In schrittweisem Aufbau sollen dann aus diesen ersten Sätzen begründete Theorien entstehen, wobei bei jedem Schritt nur auf sol-che Hilfsmittel zurückgegriffen werden darf, die entweder bei diesem Aufbau bereits erarbeitet wur-den oder die uns aus der vorwissenschaftlichen Praxis bereits zur Verfügung stehen. In diesem Sinne bildet die vorwissenschaftliche Praxis ein lebensweltliches Apriori, auf welches nicht nur jede wissen-schaftliche Bemühung aufbauen muss, sondern dass auch von keiner Wissenschaft hintergangen werden kann.“ (ebd., 81)

Obwohl auch RealistInnen nicht bestreiten würden, dass naturwissenschaftliche Pra-xen durch das Handeln von WissenschaftlerInnen zustande kommen, dass diese auch an anderen Zielen als der Wahrheitsfindung orientiert sein können, dass Wissenschaf-ten und wissenschaftliches Handeln bestimmte Ziele verfolgen (Wahrheitsfindung bzw.

Adäquanz), dass WissenschaftlerInnen in ihren Lehrmeinungen und Forschungsmetho-den historisch wandelbar sind und dass von wissenschaftlicher Naturerkenntnis nur dort die Rede sein kann, wo sich diese sprachlich artikuliert, d.h., wo sie in Form von Techniken, Theorien und Methoden angewandt werden kann (Janich 1992b:14),62 wird unter einer realistischen Perspektive zu stark vernachlässigt, dass sich die Konstitution und Konstruktion wissenschaftlicher Gegenstände lebensweltlich-sozialen Praxen ver-dankt (ebd., 181), weil zu stark ausgeblendet wird, dass Wissenschaften nicht nur regu-lative Ziele, sondern auch applikative Zwecke besitzen (Ott 1997:442):

Bezogen auf den Aspekt der lebensweltlichen Konstitution und Konstruktion wissen-schaftlicher Gegenstände, wird vor allem von Seiten konstruktivistischer und soziolo-gischer WissenschaftstheoretikerInnen angeführt, dass selbst wenn RealistInnen die Theoriebeladenheit der Beobachtungssprache, sprich den Umstand, dass Beobachtun-gen immer einer Theorie folBeobachtun-gen, als Faktum anerkennen, ihnen nach wie vor die Kon-sequenz aus der Einsicht schwerfällt, dass WissenschaftlerInnen selbst eine entschei-dende Rolle bei der Konstitution und Konstruktion ihrer eigenen Forschungsgegen-stände spielen: Wenn WissenschaftlerInnen nicht als passive und rezeptive Beobach-terInnen verstanden werden können, „denen sich die Naturphänomene (vermeintlich) qua Naturgesetzen aufdrängen“ (Janich 1992b:17), dann bedeutet dies auf einer ab-strakteren Ebene, dass die realistischen Annahmen über die Wirklichkeit, die mit ei-nem deskriptivistisch-naturalistischen Verständnis von Beobachtungs- und Erfahrungs-wissen einhergehen, relativiert bzw. aufgegeben werden müssen, weil dabei nicht be-achtet wird, dass auch Beobachtungssätze methodisch-pragmatische Geltungskriterien haben.63

62 Hier sei vor allem auf die wissenschaftstheoretische Betrachtungsweise des »Konstruktiven Realis-mus« (KR) Friedrich Wallners verwiesen, der in weiten Teilen die Kritik des Erlanger Konstruktivismus teilt. Das zentrale Anliegen des KR ist die Einsicht in die Konstruiertheit wissenschaftlicher Erkennt-nisse und damit verbunden die Abkehr von der klassischen realistischen Auffassung, dass Wissen-schaft zu verbindlichen Aussagen über die Wirklichkeit kommen könne (Klünger 2011:118–125).

Stattdessen konstruiert Wissenschaft Realitäten, indem sie von ungeprüften und kulturell bedingten Vorannahmen ausgeht (ebd., 87–88).

63 Selbst der KR, der ja eine ´realistische Grenzposition` hin zum Konstruktivismus darstellt, lehnt die in-strumentalistischen und pragmatischen Annahmen ab, da hier die Gefahr gesehen wird, dass Phä-nomene ´verschleiert, ausgeschaltet oder verändert` werden, wo es den Wissenschaften doch um die ´interessenfreie Erklärung` der Phänomene gehen sollte. Dabei wird indes übersehen, dass jede Erklärung als solche mit dem Geltungsanspruch einhergeht, dass sie als Erklärung akzeptiert werden will, so dass im Bereich der Wissenschaft wiederum Kriterien dafür zu nennen sind, warum dies der Fall sein sollte (Janich 1996:131).

Dies wiederum resultiert darin, einen Unterschied zwischen Wirklichkeit als dem vor aller menschlichen Auseinandersetzung mit ihr Vorhandenen und Gegebenen und Rea-litäten als den von Menschen durch Handeln und Erkennen geschaffenen Konstruktio-nen der Wirklichkeit als Unterschied zwischen der „Welt mit der wir leben“ (Wirklich-keit) und der „Welt in der wir leben“ (Realität) zu machen (Wallner 1990:68). Wird dies getan, dann wird schnell klar, dass die Naturforschung keine bloße Beobachtung der Wirklichkeit ist, sondern eine teilnehmende Praxis der Konstruktion von Realitäten, in-dem sich NaturforscherInnen für ihre Handlungen selbst Zwecke setzen, an deren Er-reichen oder Verfehlen sich ihre Erfahrung und Erkenntnis festmacht. Der Unterschied zwischen Beobachtung und Teilnahme ist daher zentral:

„Wollte man unter den gängigen methodologischen Begriffen denjenigen auswäh-len, der am wenigsten verzichtbar ist für die Erklärung der Möglichkeiten von Erfah-rungswissen, so müsste die Wahl wohl auf den Begriff der Beobachtung fallen. Für die Naturwissenschaften dürfte sich nur schwer eine Beschreibung, eine Analyse, eine Rekonstruktion oder sonst ein wissenschaftlicher Annäherungsversuch finden, in denen es nicht an hervorgehobener Stelle um Beobachtungen ginge. Dabei schei-nen Beobachtungen nicht nur die erkenntnistheoretische Nahtstelle zwischen der Außenwelt und dem erkennenden Subjekt zu markieren, sie bilden auch den Auf-hängepunkt pathetisch-empiristischer Bekenntnisse zu Aufgeschlossenheit und Un-voreingenommenheit der modernen Erfahrungswissenschaften, ja zu selbstgewissen Bekenntnissen, sich als moderner Erfahrungswissenschaftler jederzeit durch neue Beobachtungen belehren zu lassen, d.h. die Welt so zu sehen, wie sie nun einmal wirklich ist, anstatt sie so zu beschreiben, wie man sie gerne hätte.“ (Janich 1992b:

162)

Im Verständnis objektiver Beobachtung als Mittel der Erkenntnisgewinnung manifes-tiert sich folglich das (naive) Beobachtungsverständnis in den Naturwissenschaften:

Objektive Beobachtung soll die Wissenschaft gegen dogmatische, ideologische, apriori-sche, metaphysische und andere, mit anderen Worten der Wissenschaftlichkeit abträg-liche oder auch entgegenstehende Vorurteile immunisieren. Allerdings ist ein solches Verständnis von objektiver Beobachtung illusionär:

„Das Bild von der Beobachtung als Fenster zur Welt, durch das ehrfürchtig stau-nend, der ahnungslos entdeckende, der allein auf Wahrheit und Kontrollierbar-keit ausgerichtete Forscher hindurch blickt, jeder praktischen AnwendbarKontrollierbar-keit sei-ner Resultate skeptisch gegenüberstehend - dieses Bild ist ein Ammenmärchen mit allen Widersprüchen, die sich nur Märchen erlauben können.“ (ebd., 181)

Demgegenüber soll hier der Umstand betont werden, dass das Beobachten Teil eines rational organisierten Handelns ist, sprich Beobachten ist kein außerhalb der Erkennt-nis- und Forschungsgegenstände befindlicher Prozess, sondern ein sie bereits

konsti-tuierender und konstruierender, womit dem Umstand Rechnung getragen wird, dass unser Wissen von der Welt immer schon sozial konstituiert und konstruiert ist. Ent-scheidend ist an dieser Stelle, dass sich auf der Basis einer konstruktivistischen Episte-mologie die Auffassung über den Status naturwissenschaftlichen Wissens verändert:

Biologie und Ökologie können demnach gar nicht die Aufgabe haben, die Welt des Le-bendigen, wie sie naturgegeben ist oder sich uns natürlicherweise darstellt, möglichst wirklichkeitsgetreu zu beobachten, zu erfassen und zu analysieren, weil Wissenschaft eben keine wirklichkeitsgetreue und wahre Annäherung an einen (natürlichen) Gegen-stand oder dessen Abbildung in der Sprache sein kann. Vielmehr sind die Biowissen-schaften - und mit ihnen der Forschungsgegenstand der Biodiversität - ganz spezifische Herangehensweisen an spezifisch erfasste Problemzusammenhänge sowie spezifische Repertoires an Problemlösungsansätzen und Verfügungswissen, wobei die dabei for-mulierten Probleme, Ansätze und Ziele selbst kulturellen Zwecksetzungen unterliegen (Gutmann & Janich 2001a:347).

An dieser Stelle wird der zweite Aspekt - die unzureichende Berücksichtigung der Zweckdimension wissenschaftlicher Praxis - relevant. Diesbezüglich kann mit Konrad Ott angeführt werden, dass Wissenschaften sowohl regulative Ziele (Wahrheitsfin-dung, Adäquanz, »know-that« als Faktenwissen) als auch applikative Zwecke (Anwen-dung, Technologie, Nutzen, »know-how« als Prozesswissen) besitzen, die weder in ihrer Identifikation (Nützlichkeit zeigt sich an der Wahrheit bzw. Wahrheit zeigt sich an der Nützlichkeit) noch als Gegensätzlichkeit (Zwecksetzung auf Kosten der Zielsetzung bzw. Zielsetzung auf Kosten der Zwecksetzung) adäquat begriffen werden können (Ott 1997:444). Das Verhältnis beider Aspekte müsse vielmehr als „historisch wie systema-tisch komplementär“ (ebd., 442)64 verstanden werden, so dass die Berücksichtigung und Betonung der Zielkomponente (siehe axiologische These in 3.1) bei gleichzeitiger Ausblendung der Zweckkomponente „eine szientistische Abstraktion“ (ebd., 442) sei, die dazu führe, dass „eine Wissenschaftstheorie, die von der Zweckdimension absehen möchte, zunehmend anachronistisch werde.“ (ebd.) Denn damit würde zwar berück-sichtigt, dass die Wissenschaft hinsichtlich ihrer Zieldimension einzig ihren eigenen Standards der Prüfung und Rechtfertigung unterworfen ist, es würde aber zugleich ausgeblendet, dass Wissenschaften hinsichtlich ihrer Zweckdimension zu etwas dien-lich sind und - hier wird der erste Aspekt wieder aufgenommen - dass es kulturelle und soziale Zwecksetzungen sind, die mit (vor-)wissenschaftlichen Interessen und Werten verbunden sind.

64 Die sich daran anschließende Frage, ob die Zweckdimension ein Pendant zum internen Wahrheits-ethos der Zieldimension enthält bzw. enthalten muss (Ott 1997: 443), wird von Ott selbst bejaht und begründet (ebd., Kap. VI), da er annimmt, dass „[j]e fortgeschrittener eine Wissenschaft in ihrer Ziel-dimension ist, (…) umso vielfältiger erweisen sich die technologischen und professionellen Möglich-keiten. Je ´reifer` die Wissenschaft wird, desto ´nützlicher` wird sie.“ (ebd., 444)

Werden diese kulturellen und sozialen Zwecksetzungsprozesse in der Auseinanderset-zung mit biowissenschaftlichen Theorien und Begriffen nicht explizit beachtet und wird zugleich davon ausgegangen, dass sich ohne Beobachtungsfehler die Natur an sich zei-ge, wie sie nun einmal sei65 - übersehend, dass diese sie sich nur relativ zu technisch gelingenden Beobachtungs- und Experimentalmethoden, also relativ zu künstlichen Maßnahmen zeigt (Gutmann & Janich 2001a:333), „so läuft man Gefahr, die schlichte Tatsache zu übersehen, dass Wissenschaftler selbst [qua wissenschaftlicher Praxis] in ein ´kultürliches Unternehmen` verwickelt [sind], das aus ihren eigenen Handlungen, ihren eigenen Zwecksetzungen, ihren eigenen Methoden(aus)wahlen und ihren eige-nen Wissenschaftsverständnissen mit bestimmten Meinungen über Wissenschaftlich-keit, Kausalität, Erklärung, Natur usw. besteht.“ (ebd., 332). Eben dies ist auf der kon-kreten Ebene der Fall, wenn Biodiversitätzugleich für (a)biotische und biologische Viel-falt stehen kann und wenn nicht explizit zwischen den Referenzobjekten (abiotische und biotische Vielfalt) und Forschungskonzepten (biologische Vielfalt) unterschieden wird, sondern ganz im Gegenteil über die meisten Definitionen von Biodiversität nur wiedergegeben wird, was die Referenzobjekte sind, die unter Biodiversität subsumiert werden, nicht aber, was dann biologische Vielfalt als Forschungskonzept bedeutet. Die immer wieder vorgenommene Gleichsetzung der Begriffe Biodiversität und biologische Vielfalt verschleiert damit die wissenschafts- und erkenntnistheoretisch relevante Ein-sicht, dass die biologische Vielfalt eben nicht die [a]biotische Vielfalt und damit kein

´natürlicher Gegenstand` ist, der mit den Mitteln der Biowissenschaften ´wirklichkeits-getreu` beschrieben und erfasst werden kann. In diesem Sinne sind die Gegenstands-bereiche der Biowissenschaften nur angemessen verstehbar, wenn sie nicht einfach als

´natürlich` gegeben hingenommen und als generalisierte Abbilder der Natur verstan-den werverstan-den, die aus empirischen Einzelbeobachtungen entstanverstan-den sind und daraufhin mittels Theorien als Wirklichkeit formuliert werden. Vielmehr werden die Gegenstände der Wissenschaft in Abhängigkeit von den sozialen Rahmenbedingungen ausgewählt und interpretiert. Daher sind sowohl die Referenzobjekte (abiotische und biotische Phänome), als auch die biowissenschaftlichen Begriffe, Modelle, Konzepte und Theorien (der biologischen Vielfalt) Produkte der menschlichen Wahrnehmung und des mensch-lichen Handelns:

„Pflanzen und Tiere, ja ganze Landschaften werden zu Kulturgegenständen, unge-achtet der Tatsache, dass menschliche Eingriffe nicht Beliebiges an ihnen hervor-bringen können, sondern empirisch die Grenzen des Machbaren auszuloten haben.

(…) Es sind die speziellen Erkenntnisziele des Paläontologen, des Taxonomen, des Physiologen, des Evolutionsbiologen, des Ethologen, des Genetikern und des

65 Insbesondere die in den Naturwissenschaften übliche Sprechweise, dass nicht akzeptierte Beobach-tungsresultate bzw. Beobachtungsfehler als ´Artefakte`, d.h. als menschlich erzeugte Gegenstände benannt werden, zeigt die Tiefe der hier aufgezeigten Problematik.

kularbiologen, der sich handelnd und redend einer vorfindlichen Natur bemächtigt und sie nach seinen Zwecken ordnet und gestaltet.“ (ebd., 337)

In diesem Sinne kommt es auf die je spezifische Konstruktion der Begriffe, Modelle, Konzepte und Theorien an, die für den Forschungsgegenstand der Biodiversität von Re-levanz sind, da die für die Biodiversität so zentralen biologischen Begriffe wie Lebewe-sen, Organismus, Art, Gen und Ökosystem eben keine „materiellen Gegenstände (sind), auf die sinnbildlich mit dem Finger gezeigt werden kann und so ein begreifbarer und handhabbarer Unterschied zu anderen Gegenständen eingeführt, festgelegt, bestimmt und daraufhin wiedererkannt werden könnte.“ (ebd., 339) Vielmehr muss bereits die Gegenstandskonstitution als menschliche Kulturleistung begriffen werden, was wieder-um heißt, dass die biowissenschaftlichen Verfahren der Begriffs-, Modell- und Theo-riebildung ebenso wie die Verfahren des Beobachtens, Messens und Experimentierens in eine differenzierte Theorie über das Verhältnis der Naturwissenschaften zur übrigen Kultur gestellt werden müssen, so dass sich hierüber thematisieren lässt, wie kulturell bedingte Ideen sowie lebensweltlich erworbene Zwecksetzungen in die Naturwissen-schaften hinein wirken und dort in Gestalt naturwissenschaftlicher Theorien reformu-liert und ausdifferenziert werden (Kirchhoff 2009:54).

Gerade ein solches wechselseitiges Verhältnis von Naturwissenschaft und Kultur er-möglicht die kritische Einsicht in eine nicht-reduktionistische und nicht-dualistische Theorie der gesellschaftlichen Naturverhältnisse. Denn auf Basis dieser wird überhaupt erst einsichtig, dass es nach wie vor (problematische) Versuche gibt, die menschliche Kultur naturalistisch als bloßen Teilbereich der Natur zu erklären, so dass ein geltungs-theoretisch problematisches reduktionistisch-naturalistisches Bild der gesellschaftlichen Naturverhältnisse gezeichnet wird, mit dem versucht wird, über die Beschaffenheit der Natur gesellschaftliche Normen zu begründen. Da genau dies über die moralisch-epis-temische Hybridisierung geschieht und darüber eine Vielzahl der im Problemaufriss dargelegten Problematiken hervor gerufen wird (vgl. 2.4), bieten die konstruktivis-tischen und soziologischen wissenschaftstheorekonstruktivis-tischen Perspektiven auf Biodiversität eine Alternative zur realistischen Sichtweise, da die Erforschung der Biodiversität hin-sichtlich der Zweckdimension wissenschaftlicher Praxis hier von vornherein als eine konstruktive Praxis verstanden wird. Gemäß diesen alternativen, konstruktivistischen und wissenssoziologischen Perspektiven auf Biodiversität wird es im übernächsten Ab-schnitt (3.3) darum gehen, die kulturellen Konstitutionsbedingungen des Forschungs-gegenstandes Biodiversität zu rekonstruieren. Dies kann allerdings erst dann plausibel geschehen, wenn auch auf die innertheoretische Kritik am wissenschaftlichen Realis-mus eingegangen wird, die noch einen weiteren, gewichtigeren Aspekt beleuchtet, warum die an Wahrheit und Wirklichkeit orientierte Zielbestimmung wissenschaft-licher Praxis, wie sie der wissenschaftliche Realismus anbietet, zu kurz greift.

3.2.2 Die innertheoretische Kritik am wissenschaftlichen Realismus:

Die defizitäre Verteidigung der Korrespondenztheorie der Wahrheit und der Zielbestimmung wissenschaftlicher Praxis

Im Folgenden wird - unabhängig davon, dass der wissenschaftliche Realismus von einem externen Standpunkt aus betrachtet bereits zahlreichen Kritikpunkten ausgesetzt ist - aus einer innertheoretischen Perspektive dafür argumentiert, dass sich die Begründung des wissenschaftlichen Realismus an theorieentschei-denden Stellen in Zirkelschlüsse verfängt, womit genau das bereits vorausgesetzt wird, was zu beweisen versucht wird. Daran wiederum wird ersichtlich, dass die, mit dem wissenschaftlichen Realismus implizit verbundene, axiologische Zielstell-ung, die als motivationales Element die realistischen Intuitionen vieler Wissen-schaftlerInnen abstützt, zu hoch gegriffen ist, weil das theoretische Fundament, auf dem dieser Anspruch basiert, nicht tragfähig genug ist,um diesen Anspruch auch plausibel begründen zu können. Kerngegenstand der innertheoretischen Kritik ist daher die Korrespondenztheorie der Wahrheit mitsamt dem objektiven, nicht-epistemischen Wahrheitsbegriff, der unabhängig von Konventionen der Er-kenntnisleistungen gedacht ist und allein auf der Übereinstimmung mit der Wirk-lichkeit beruhen soll:

„Der realistische Ansatz der Wissenschaftstheorie hat zu anspruchsvolle Prämis-sen, die nicht ausreichend explizier- und rechtfertigbar sind. (…) Insbesondere die dem wissenschaftstheoretischen Realismus zugrunde liegende korrespondenz-theoretische Wahrheitskonzeption ist mit erheblichen Schwierigkeiten versehen:

Wenn Wissenschaft danach strebt, die Wahrheit über die Realität zu finden, muss

Wenn Wissenschaft danach strebt, die Wahrheit über die Realität zu finden, muss