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Die Kommunikation mit dem Vater und mit Martin

4. Analyse und Diskussion

4.2 Die Kommunikation mit den männlichen Figuren

4.2.1 Die Kommunikation mit dem Vater und mit Martin

In diesem Kapitel werden die wichtigsten männlichen Hauptfiguren geschildert und wie sie mit Gilgi kommunizieren. Diese Männer sind der Vater, Martin und Pit.

Wie bereits oben erwähnt, scheint die Familie Gilgis viel zu schweigen. Das gilt auch für den Vater. Das fast einzige Beispiel dafür, dass Gilgi mit ihrem Vater spricht, ist an ihrem Geburtstag. „ ,Danke, Vater.‘ Gilgi gibt Herrn Kron die Hand. Er sieht von der Zeitung auf.

,Laß’ dir jut jehn, im neuen Jahr, Jilgi, bleib jesund und - denk’ jaanich mehr an das, was dir Mutter eben jesaacht hat.‘ ”.70 Die Rede des Vaters ist in kölscher Mundart geschrieben, aber

69 Keun 2002, S.200.

70 Keun 2002, S.31-32.

im Gegensatz zu Fräulein Täschler symbolisiert das Kölsch bei dem Vater keinen Standesunterschied. Er kommentiert hier das frühere Gespräch über die Adoption Gilgis. Er gibt, genau wie die Mutter, keine Erklärung dafür und die beiden sprechen nicht mehr darüber.

Es kann als eine Art von Schweigen angesehen werden. Gilgi erfährt nichts Näheres über ihre Herkunft.

Die wichtigste Person für Gilgi im Roman ist Martin. Als Gilgi zum ersten Mal in Martins Wohnung ist, haben die beiden ein Gespräch:

,Sie können sich das sparen, Sie brauchen mir nicht zu erzählen, daß Sie mich hergebracht haben, um mir ein interessantes Buch zu zeigen oder um mir einen besonders alten schottischen Whisky vorzuführen…‘ [...] ,Dummes, kleines Ding‘, sagt Martin leise, tritt hinter sie, streicht sanft und zärtlich über ihre Schulter – ,kleines Mädchen, gib dir doch keine Mühe, deine Unsicherheit hinter Ruppigkeit zu verstecken, ich hab's so gern, wenn Frauen unsicher sind.‘71

Hier wird das Gespräch durch direkte Rede geschildert. Gilgi ist sachlich und erklärt, dass sie weiß, weshalb sie da ist. Martin denkt doch, dass Gilgi unsicher ist und dass sie es zu verbergen versucht. Gilgi sagt ihre Meinung und die kann als Verwendung des Container-Modells interpretiert werden. Sie sagt nicht direkt, dass sie weiß, dass sie da ist, um vielleicht Sex zu haben, sondern hat sie diese Nachricht verschlüsselt. Martin versteht was sie sagt, aber deutet es als Unsicherheit. Er nennt sie ein „dummes, kleines Ding” und ein „kleines Mädchen”. Dass Martin 22 Jahre älter als Gilgi ist, wird hier deutlich. Er sieht sie als ein kleines Mädchen. Der Altersunterschied zwischen Gilgi und Martin ist auch ein Machtunterschied. Er ist älter und erfahrener, also weiß er auch, wie er Gilgi beeinflussen kann. Er sagt auch, dass er Frauen mag, die unsicher sind. Es kann sein, dass er sich gerne um unsichere Frauen kümmert, sodass er sich gebraucht fühlt. In diesem Beispiel wird sowohl ein Genderaspekt als auch eine Kontrastrelation deutlich. Martin sieht gerne auf Frauen herab und er möchte nicht, dass Gilgi selbständig, sondern unsicher ist. Dann kann er sie dominieren und abhängig von ihm machen.

Dies ist ein Beispiel für die These von Nünning und Nünning, wie sich die Figuren mit gender-Normen verhalten.

Gilgi zweifelt daran, ob sie das richtige Mädchen für Martin ist. Sie hat Angst, dass er ein anderes finden wird. Wegen dieser Gedanken kann sie sich nicht auf ihre Arbeit konzentrieren. Sie denkt an ihn den ganzen Tag und kann nicht darauf warten, ihn um neun Uhr abends zu treffen.72Dass er immer in ihrem Kopf ist, beeinflusst ihr Leben. Er nimmt immer

71 Keun 2002, S.94-95.

72 Keun 2002, S.121.

mehr Platz in ihrem Leben ein. Im nächsten Gespräch geht es um das Zimmer Gilgis, welches sie hat, um arbeiten zu können.

,Eine Stunde kann ich bei dir bleiben, Martin – ich geh´ heute nicht mehr auf mein Zimmer, ich…‘

,Willst du mit eigentlich nicht sagen, wo du dieses geheimnisvolle Zimmer hast?‘ ,Nein, Martin, Ich muß – es ist – wegen meiner Selbständigkeit. Ich muß einen Ort zum Arbeiten haben, hier bei dir in der Nähe kann ich´s nicht, und in meinem Zimmer hätt’ ich auch keine Sekunde Ruhe, wenn ich denken müßt´, du könnt´st plötzlich erscheinen.‘ ,Fixe Idee.‘ ,Na, dann laß sie mir.‘73

Dieses Gespräch zwischen Gilgi und Martin wird durch die direkte Rede geschildert. Gilgi braucht ein eigenes Zimmer wegen ihrer Selbständigkeit. Gilgi fühlt sich unkonzentriert, wenn Martin in der Nähe ist. Aber Martin kann es nicht verstehen. Er nennt es eine „fixe Idee”. Gilgi ist doch beschlossen und gibt nicht nach. Dieses Gespräch ist wichtig, weil es zeigt, dass Gilgi gegen Martin sprechen kann. Hier ist es ein gleichberechtigtes Gespräch. Dass Martin kein Verständnis für ihre Arbeit hat, präsentiert sich auch im nächsten Zitat:

,Gilgi‘, sagt Martin am Sonntagmorgen, ,du solltest nicht mehr ins Büro gehen, es wird mir jedesmal so unbehaglich kalt im Bett, wenn du so früh aufstehst.‘ […] ,Sieh mal, Gilgichen, was ich an Geld hab´, ist für einen zu wenig, da kann´s doch auch für zwei zu wenig sein, was meinst du – sollen wir nicht zusammen von meinem Geld leben?‘ ,Was du dir denkst, Martin!‘ Gilgi lächelt mit mütterlicher Verachtung. ,Na, aber wenigstens zu dem alten Petrefakt brauchtest du doch nicht mehr!‘ ,Bei dem bin ich ja sowieso in drei Tagen fertig. Im Ernst, Martin – ich muß doch Geld verdienen.‘74

Der erste Satz kann als ein Scherz gesehen werden. Martin mag es nicht, dass es im Bett kalt wird, aber das ist kein Grund für Gilgi, ihre Arbeit zu kündigen. Es kann auch manipulierend gesehen werden. Er versucht, Gilgi ein schlechtes Gewissen zu machen, weil sie früh aufsteht und arbeitet. Martin meint aber, dass die beiden von seinem Geld leben können, obwohl es wenig ist. Gilgi kann diese Aussage nicht verstehen und betont, dass sie Geld verdienen möchte.

Es gibt auch eine Beschreibung von ihrer Körpersprache in diesem Gespräch. Diese Beschreibung verstärkt die Reaktion Gilgis von Martins Aussage. Sie findet seinen Vorschlag lächerlich. Hier wird gezeigt, dass Martin nicht die Selbständigkeit Gilgis mag. Er hätte sie lieber zu Hause und dass sie von seinem Geld leben können. Die beiden haben verschiedene Einstellungen vom Leben und das wird im nächsten Zitat gezeigt: „So kläglich sind alle Versuche gescheitert, ihn ihrem Leben angleichen zu wollen. Man müßte es umgekehrt versuchen – sich ihm anpassen.”.75 Dies ist ein Gedankenbericht von Gilgi, der erklärt, dass sie

73 Keun 2002, S.124-125.

74 Keun 2002, S.125.

75 Keun 2002, S.130.

fühlt, dass ihre Versuche ihn zu verändern, gescheitert sind. Jetzt sieht sie keine andere Lösung, als sich ihm anzupassen. Dieses Zitat ist wichtig, weil es zeigt, dass Gilgi bereit ist, ihre Unabhängigkeit aufzugeben. In dem nächsten Zitat wird ein Gedankenbericht von Gilgi geschildert, der auch mit Anpassung zu tun hat: „Und Gilgi würde lieber alle erbärmlichen, elenden Eigenschaften der Welt an sich selber feststellen, als an Martin den geringsten Fehler entdecken.”.76 Diese Aussage kann so interpretiert werden, dass sie sich lieber für etwas verantwortlich macht, als Martin die Schuld zu geben. Wenn sie sich als unabhängige Frau sehen will, passt das schlecht zu dieser Aussage. Die Liebe zu Martin bewirkt also eine Veränderung.

Gilgi verliert ihre Arbeit und dann sind die beiden ohne ein richtiges Einkommen. In einem Gedankenbericht überlegt Gilgi, wie sie es Martin sagen soll, dass sie um Unterstützung vom Staat erbitten möchte. „Wenn Martin kommt, wird man ihm sagen, wird man ihm sagen […]. [...] und darum werde ich morgen zur Badstraße gehn (sic), zum Arbeitsnachweis – wegen der Unterstützung [...].”.77 Sie wiederholt sich und sie denkt auch, dass sie es ruhig und vernünftig sagen soll. Gilgi ist zu nervös, um zu erzählen, dass sie um Unterstützung bitten will.

Die Wiederholung zeigt auch, wie verwirrt Gilgi ist. Die Tatsache, dass keiner von ihnen ein Gehalt hat, beeinflusst ihr Leben. Martin macht immer mehr Schulden und das wird im nächsten Beispiel deutlich:

,Gilgi, ich hab’ mir von einem Freund zweitausend Mark schicken lassen, sollen wir fortfahren?‘

Gilgi erschrickt. ,Nein.‘ ,Warum denn nicht?‘ ,Kann das nicht, Martin – versteh’ mich doch – gibt doch für jeden was, das er nicht kann. Ich kann nicht auf’s Geratewohl mit geliehenem Geld ins Blaue hineinfahren. [...] Schick’ deinem Freund das Geld zurück – oder laß uns Schulden damit bezahlen – mir zuliebe, Martin…‘ Tausend Einwände von Martin, tausend Einwände von Gilgi – und es gibt noch einen tausendundersten Einwand – gibt ihn vielleicht – man kann noch nicht drüber sprechen.78

In diesem Zitat wird es deutlich, dass sich Gilgi nicht verschulden will. Ihre Körpersprache wird folgenderweise beschrieben: „Gilgi erschrickt.”. Martin andererseits hat kein Problem das zu machen. Man kann eine Uneinigkeit zwischen den beiden sehen. Der letzte Satz des Zitates zeigt, dass Gilgi keinen Sinn sieht, darüber zu sprechen. Ihre Diskussion über Geld ist nicht ohne Schwierigkeiten. Ein weiteres Beispiel über Gilgis Einstellung zu Schulden wird geschildert:

76 Keun 2002, S.133.

77 Keun 2002, S.153.

78 Keun 2002, S.160.

Ohne Martin käm’ ich weiter, und Martin würd’ ohne mich nicht soviel Schulden machen. [...]

und immer die summende Sehnsucht in den Gliedern, die süße widerliche Sehnsucht – ich halte das nicht mehr aus, ich will tot sein – ich will das nicht mehr – ich will nicht – es ekelt mich an, daß ich so machtlos gegen meinen Körper bin. Und wenn ich mit Martin darüber sprechen könnte!

Aber das kann ich nicht [...].79

Gilgi beginnt in diesem Gedankenbericht zu verstehen, dass sie ohne Martin jemand anderes sein kann und dass er wenigere Schulden machen würde. Die beiden wären also besser getrennt.

In diesem Beispiel gibt sie ihre innersten Gedanken preis: sie ist unsterblich verliebt in ihn.

Gilgi möchte über alles mit Martin sprechen, aber sie kann es nicht. Sie entscheidet sich, schweigend zu bleiben. Es kann sein, dass sie keinen Sinn sieht, darüber mit ihm zu sprechen.

Sie haben sich gestritten und Gilgi hat es satt.

Gilgi findet heraus, dass sie schwanger mit Martin ist. In einem Gedankenbericht überlegt sie, was passieren könnte:

Ich mit einem Kind! Und Martin! Es wird uns so gehn, wie es dem Hans und der Hertha geht [...]

Und wenn ich noch lange bei ihm bleibe, dann ist auf einmal kein Geld mehr da – und dann gehen ihm alle seine Freuden entzwei – und dann wird alles so schrecklich… Gibt es denn keinen Ausweg? Was soll ich denn tun?80

Eine Erklärung muss gegeben werden, dass Hans und Hertha bankrott waren und Selbstmord begangen haben. Gilgi hat Angst, dass sie und Martin den gleichen Weg gehen werden. Sie kann sich es nicht vorstellen, dass sie und Martin ein Kind zusammen bekommen. Sie fragt sich, ob es nicht einen anderen Ausweg gibt. Sie versteht, dass sie etwas tun muss, um eine Veränderung zu schaffen. Aber die Kommunikation darüber zwischen Gilgi und Martin existiert nicht. Diesen entscheidenden Einschnitt in ihrem Leben erzählt sie Martin nicht. Die wichtige Kommunikation über das ungeborene Kind bleibt aus. Gilgi findet es schwierig, mit Martin über verschiedene Themen zu sprechen und dieses Beispiel gilt als eines davon. Im nächsten Zitat hat sich Gilgi entschieden und weiß, was sie machen muss:

Und ich weiß, was ich tun muß – das Schwerste. Aber ich lebe, und Martin lebt, und das Kind lebt… ich will leben – und ich bin froh, daß ich lebe. Gilgis harte kleine Schritte verhallen auf der Treppe. Vorbei an den schwatzenden Weibern – durch die Straße… Neun Uhr ist’s, und Martin wird fort sein. Gut so.81

Es ist nicht ganz deutlich in diesem Zitat, aber sie wird Martin verlassen. Sie nennt es als „das Schwerste”, so kann es interpretiert werden, dass sie diesen Beschluss sehr schwierig findet.

79 Keun 2002, S.195.

80 Keun 2002, S.211.

81 Keun 2002, S.250.

Sie weiß, dass Martin nicht zu Hause ist und findet es besser so. Wäre er zu Hause gewesen, hätte Gilgi nicht so stark sein und an ihrer Entscheidung festhalten können. Sie vermeidet ein Gespräch mit ihm, schreibt aber trotzdem und hinterlässt eine Notiz:

... nur weil ich Dich liebe. Hab’ keine Angst – um mich nicht. Muß alles so sein, hab’ Vertrauen zu mir - Du – etwas ist geschehen, ich kann nicht mehr lachen, lange nicht mehr. So, wie ich jetzt bin, würd’ ich nur Last für Dich sein und Dich mit traurig machen…. vielleicht hättest Du mich dann nicht mehr lieb… vor nichts hab’ ich mehr Angst. Vergiß mich nicht – bitte.82

Hier wird vom Erzähler wiedergegeben, was Gilgi geschrieben hat. Sie sagt nur, dass sie eine Last für ihn würde, aber nicht, dass er auch eine Last für sie ist. Sie würde die Schuld lieber sich selbst geben als sie auf Martin zu schieben. Aber bis zum Ende will sie es nicht sagen.

Dass sie ihm immer noch liebt, ist hier deutlich. Ihre größte Angst ist, dass er aufhören wird sie zu lieben. Auch wenn sie ihn verlässt, möchte sie sich immer noch geliebt fühlen. Das kann sie aber nur schriftlich mitteilen. Die Kommunikation wird so abgeschlossen. Es gibt keine Aussprache zwischen ihnen.

Die Gespräche zwischen Martin und Gilgi sind meistens Dialoge. Obwohl es Dialoge sind, sagt Gilgi nicht immer, was sie fühlt, weil es einen Machtunterschiede zwischen den beiden gibt und weil Martin manipulierend ist. Die Gedankenberichte über Martin von Gilgi kommen deshalb häufig vor. In einem von dieser Gedankenberichten erfährt man, dass Gilgi nicht mit Martin sprechen kann. Die Kommunikation zwischen den beiden ist gestört. Am Ende des Romans verlässt sie ihn, wenn er nicht zu Hause ist. Sie sagt ihm auch nicht, dass sie schwanger ist. Sie will nicht mit ihm sprechen und das kann als eine Störung der Kommunikation gesehen werden. Die Gespräche zwischen den beiden sind Dialoge, aber sie können nicht als gleichberechtigte Gespräche gesehen werden. Gilgi fühlt nicht, dass sie alles sagen kann und dann geht ein Teil der Kommunikation verloren.