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Die Google-Kultur oder: Disput ist möglich

Im Dokument Der islamische Faschismus (Seite 106-111)

Fünfhundert Jahre nach Gutenberg schenkte der Westen der Welt eine neue Erfindung, die die Welt genauso verändern sollte wie damals der

Buchdruck: das Internet. Eine Herausforderung für all jene Länder, die ihre Bevölkerung vom Weltwissen abschotten wollen. Wie nicht anders zu erwarten, wehrten sich die islamischen Gelehrten zunächst gegen das Internet und warnten vor den Gefahren, die in ihm lauerten. Doch diesmal zogen sie den Kürzeren. Viele junge Muslime surfen jeden Tag stundenlang im Netz, diskutieren über Religion und Politik, hören westliche Musik und schauen sich Pornofilme an. Das verändert sowohl ihren Moralkodex als auch ihre Haltung zum Wissen. Wenn ein junger Muslim heute eine

Information von einem Lehrer oder Gelehrten bekommt, muss er das nicht länger als absolute Wahrheit hinnehmen, sondern kann im Internet die Richtigkeit dieser Information überprüfen oder sich über Gegenpositionen informieren.

Es ist vor allem die Generation Facebook, die gegen Mubarak und Mursi in Ägypten, gegen Bin Ali in Tunesien, gegen Saleh im Jemen, gegen

Gaddafi in Libyen und gegen Baschar Al-Assad in Syrien auf die Straße gegangen ist und noch immer geht. Die Generation, die mit dem Internet sozialisiert wurde, ist neugierig und kritisch und akzeptiert die

»Wissensmauer« nicht mehr. Und auch nicht die Unantastbarkeit der religiösen Autoritäten.

Ich war 2012 bei einer Podiumsdiskussion in Kairo. Dort saß ein prominenter Wirtschaftsexperte der Muslimbrüder auf dem Podium und berichtete von den wirtschaftlichen Plänen der Muslimbruderschaft. Er

sagte: »Wenn Gott uns hilft, wollen wir in den kommenden fünf Jahren die Zahl der ausländischen Touristen in Ägypten verdoppeln.« Ein junger Mann aus dem Publikum stand sofort auf und entgegnete: »Ich bin selber ein

Muslim, der fünfmal am Tag betet, aber wir reden hier über Wirtschaft und Tourismus. Was hat all das mit Gottes Willen zu tun? Bitte sagen Sie uns, was Sie konkret vorhaben und wie Sie das realisieren wollen. Wie hoch ist Ihr Budget? Wo würden Sie neue Hotels bauen? Und bitte lassen Sie Gott lieber aus dem Spiel! Denn wenn Sie später mit Ihrem Plan scheitern, will ich von Ihnen nicht hören, dass Gott eben nicht anders gewollt habe.« Ich war völlig verblüfft über den Satz »Lassen Sie Gott aus dem Spiel« – zumal er von einem gläubigen Muslim kam.

Dank des Internets wird selbst die Idee des Säkularismus anders diskutiert in der arabischen Welt. Früher galt Säkularismus als

Gotteslästerung, doch die bittere Erfahrung, die die Menschen seit der Wahl 2012 in Ägypten mit den Muslimbrüdern gemacht haben, hat auch dazu geführt, dass Diskussionen über die Trennung von Staat und Religion nicht mehr tabu sind.

Nach meinem Vortrag in Kairo über den religiösen Faschismus kam ein junger Ägypter zu mir und sagte: »Im Grunde haben Sie recht. Doch ich finde Ihre Sprache viel zu provokativ, sie schreckt viele ab. Wenn Sie zum Beispiel sagen: ›Wir müssen die Religion von der Politik trennen‹, entsteht der Eindruck, dass die Religion ein Störfaktor ist, ein Tumor in der

Gesellschaft, der entfernt werden sollte. Wie wäre es, wenn Sie stattdessen sagen würden: ›Wir sollten die Religion von der Politik verschonen!‹? Dann würde die Politik als etwas Irdisches, Schmutziges dargestellt und die

Religion als etwas Reines, das sich von Angelegenheiten des Alltags nicht kontaminieren lassen sollte.«

Ich fand den Ansatz dieses jungen Mannes kreativ. Es ist zwar nicht meine Art, irgendetwas diplomatisch zu beschönigen, und ich nenne das Kind lieber beim Namen, aber die Tatsache, dass er sein Anliegen

überhaupt geäußert hat, ist ein Zeichen dafür, dass junge Muslime sich langsam Gedanken machen über die störende Rolle der Religion in der Politik. Es gibt jenseits der deprimierenden politischen Realitäten in der arabischen Welt eine lebhafte Diskussion über die Rolle der Religion in den postrevolutionären Gesellschaften. Doch an dieser Diskussion beteiligen sich nicht nur vernünftige junge Menschen, sondern auch Fanatiker, die um jeden Preis den Einfluss der Religion auf die Gesetzgebung und die Politik verteidigen wollen. Auch für sie bieten die modernen Medien, allen voran Facebook, eine Plattform, um ihre Gedanken und Propaganda zu verbreiten.

Das Internet steht allen offen. Unter den arabischen Usern tobt derzeit ein heftiger Kampf der Kulturen – zwischen jenen, die den Schritt ins

21. Jahrhundert endlich vollziehen wollen, und jenen, die im 7. Jahrhundert verharren wollen.

Sie mögen sich nun die Frage stellen, was die Erfindung des Buchdrucks und sein verspäteter Einzug in die arabische Welt mit islamischem

Faschismus zu tun hat. Sie mögen einwerfen, dass in Deutschland die Gedanken der Aufklärung bestens verbreitet und verankert waren und der Nationalsozialismus dennoch seine menschenverachtende Ideologie

implementieren konnte. Und Sie mögen darauf verweisen, dass Hitler die großartige Erfindung Gutenbergs genutzt hat, um seine Hasstiraden in Buchform, mit Artikeln oder Flugblättern unter das Volk zu bringen. Alles richtig. Der deutsche Faschismus bediente sich geschickt sämtlicher

Errungenschaften der Moderne, um seine Ziele voranzutreiben. Nicht nur in ideologischer Hinsicht, auch in technologischer war man immer auf der

Höhe der Zeit. Was die Massenvernichtung der Juden anging ebenso wie beim Versuch, neuartige Waffen zu entwickeln.

Aber die Tatsache, dass es in Deutschland vor den Nazis eine andere Sicht auf die Welt und den Menschen gegeben hatte, erleichterte den Neuanfang nach dem Krieg. Sie förderte eine Genesung, war wie eine Art Reset-Knopf bei einem PC. Ich will damit keineswegs beschönigen, wie schwer die Aufarbeitung dieser Zeit war, die teils bis heute andauert. Ich weiß auch, dass Kinder, die nur die Indoktrination der NS-Demagogen durch Schulbücher kannten, Probleme hatten, sich davon zu lösen. Ich will damit nur sagen, dass es bereits ein anderes Modell gegeben hatte, dessen Werte man nun wieder aufgreifen konnte.

In der islamischen Welt dagegen hat die lange Ablehnung des

Buchdrucks und die damit verbundenen Errungenschaften dazu geführt, dass die Asymmetrie in den Gesellschaften zementiert wurde.

Herrschaftstreue und Personenkult, Unantastbarkeit des Koran und

Gelehrte, die dessen absolute Wahrheiten vermitteln. Ein vertikales System, das die Welt außenherum in Freund und Feind unterteilt. Genau dieses Weltbild und diese hierarchische Struktur will der islamische Faschismus aufrechterhalten. Dagegen begehrt die Google-Generation auf. Sie

akzeptiert nicht länger, dass alles Wissen im Koran enthalten ist, sie

diskutiert mit Lehrern und sogar mit Imamen in der Moschee. Die Skepsis gegenüber der vertikalen Wissenskultur kommt mit mehreren Jahrhunderten Verspätung in die islamische Welt, aber sie kommt.

Doch Skepsis ist eine Sache, der Prozess, in die Breite gehendes Wissen zu erlangen, ist eine andere. Proteste, Demonstrationen und das Stürzen von Diktatoren sind eine Sache, der Aufbau einer gesunden politischen

demokratischen Kultur und einer fähigen Wirtschaft ist eine andere.

Zwischen Gutenberg und Zuckerberg liegen 500 Jahre an Wissen und Erfahrung, von denen sich die islamische Welt bewusst oder unbewusst abgeschottet hat. Diese verlorene Zeit fehlt den muslimischen

Gesellschaften auf ihrem Weg in die Moderne und kann nicht durch ein paar Mausklicks im Netz wiedergutgemacht werden. Wenngleich ein Mausklick oft viel mehr bewirken kann, als man vermuten könnte!

Kapitel 6

Heil Osama! – Gescheiterte Staaten, erfolgreiche

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