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Die globale Vergesellschaftung: Kapitalismus und Krieg

Im Dokument Gewaltmonopol und Fremdherrschaft (Seite 33-39)

2. Der Hamburger Ansatz: Gewaltkonflikte im Kontext der globalen

2.1 Der strukturelle Hintergrund

2.1.1 Die globale Vergesellschaftung: Kapitalismus und Krieg

Der Hamburger Ansatz der Kriegsursachenforschung versteht die Kriege und be-waffneten Konflikte der Neuzeit auf dem Hintergrund des Gegensatzes von Tradition und Moderne. Die umwälzenden Akkumulations-, Zentralisierungs- und Rationali-sierungsbemühungen der Moderne und die sich hiergegen formierenden Widerstände bilden das Leitmotiv aller kriegerischen Gewalt der Neuzeit.17 Nachdem Vergesell-schaftungsprozesse in der westlichen Welt zur Ausdifferenzierung von Staat und

17 „Dabei handelt es sich nicht um die willkürliche Setzung eines Ausgangspunktes, nicht um eine Konstruktion a priori, sondern um den sowohl historisch als auch methodisch notwendigen und einzig möglichen Ausgangspunkt, um zu einer gesellschaftstheoretischen Begründung des welt-weiten Kriegsgeschehens zu kommen.“ (Siegelberg 1994: 38)

Industriekapitalismus führten, setzt sich die Entwicklung des Kapitalismus zur Welt-gesellschaft18 in einem alle traditional gewachsenen Sozialformationen umwälzenden Prozess global fort. Die globale Vergesellschaftung umfasst damit die weltweite Ausbreitung von Moderne, Industrialisierung, legal-rationaler Staatlichkeit, kapitalis-tischem Wirtschaftssystem und bürgerlicher Demokratie. Dabei entspringt die für diesen Prozess entscheidende, unwiderstehliche Dynamik aus der bürgerlichen Sozi-alformation und der industriellen Produktionstechnik des Kapitalismus, der die neu-zeitliche Vergesellschaftung von den Rationalisierungs- und Zentralisierungsphasen vergangener, räumlich und zeitlich begrenzter Zivilisationen abhebt (Siegelberg 1994: 38). Zur Analyse dieses Vorgangs greift der Hamburger Ansatz auf die Formel der gesellschaftlichen Elementarfunktionen zurück, die nach Norbert Elias in jeder Gesellschaft erfüllt sein müssen: materielle Reproduktion, Gewaltkontrolle und sym-bolische Ordnung (Elias 1983: 32f; Siegelberg 2003: 32).

Die materielle Reproduktion

Aus der Rationalisierung der materiellen Reproduktion entsprang die für die globale Vergesellschaftung entscheidende Dynamik. Die materielle Reproduktion wurde aus der sozial eingebetteten Ordnung traditioneller Wirtschaftsweisen, in Europa: aus der feudalen Agrarwirtschaft gerissen und ging auf die unpersönlichen Arbeitsverhältnis-se der freien Marktwirtschaft über. In der freien Marktwirtschaft werden Produkte, Boden, Arbeitskraft und Dienstleistungen käufliche Waren. Der Maßstab für die Produktion wurde der Profit, die Erzeugung kapitalen Mehrwerts (Marx 2004: 149-168). In dieser Form akkumulierte sich das Kapital in den Händen von Privatleuten mit dem Recht auf Eigentum. Die Ausweitung des freien Markts vom Handel als einem gesellschaftlichen Randphänomen auf das gesamte volkswirtschaftliche Sys-tem stellte dabei einen langwierigen und äußerst gewaltsamen Prozess dar. Die han-delskapitalistische, immer auch gewaltsame Erschließung neuer Märkte war damit ein wesentliches Motiv kriegerischer Gewalt in der Neuzeit. Das akkumulierte Kapi-tal der frühen Kolonial- (z.B. Spanien, Portugal, Frankreich) und Handelsmächte (z.B. Italien, Holland) floss im 17. und 18. Jahrhundert vor allem in England in den

18 „Weltgesellschaft steht dann für einen Prozeß, in dessen Verlauf die unterschiedlichen sozialen und kulturellen Welten auf der Basis eines einheitlichen Syntheseprinzips zu der einen Welt ver-bunden werden.“ (Jung 1995: 42)

Händen privater Unternehmer zusammen und wurde dort vom Handelskapital zum Industriekapital (Polanyi 1977: 113-124; Marx 2004: 659-706).

Erst mit der industriellen Revolution kam dann die freie Marktwirtschaft zu der für sie entscheidenden Technik. Nach der – wiederum häufig gewaltsamen – ursprüngli-chen Akkumulation von Kapital in privaten Händen brachte die Industrie die Auflö-sung des verbindlichen Herrschaftsverhältnisses in der Arbeitsteilung mit sich: Un-ternehmer suchten ungebundene Arbeiter, die ihre Arbeitskraft auf dem freien Markt feilboten. Seinerseits brauchte der Unternehmer nun nicht mehr Boden, Gefolgschaft und Titel, sondern als bourgeois nur noch Kapital und Ideen. Mit dem Ende der Ge-folgschaft als vorherrschendem Vergemeinschaftungs- und Vergesellschaftungsprin-zip verloren sich die persönlichen Treuebeziehungen zwischen patriarchalen und patrimonialen Herren und ihrer Klientel, wodurch nun der abstrakt-bürokratische Staat diese Bindungen nicht nur ersetzen konnte, sondern auch musste.

Gewaltkontrolle

Mit der Transformation der materiellen Reproduktion einher ging die Transformation der Gewaltkontrolle, d.h. der Herrschaft im politischen Verband. In Europa stand vor der Entstehung des freien Marktes und des massiven Drucks seiner Mechanismen auf alle anderen Gesellschaftsbereiche die Durchsetzung der absoluten Fürstenmacht gegenüber der ständischen Macht adeliger Familien (Polanyi 1997: 87). Dies geschah immer auch gewaltsam: Der Staatsbildungsprozess, die Errichtung eines Gewaltmo-nopols stellt ein weiteres Hauptmotiv kriegerischer Gewalt in der Neuzeit dar. Auf diese Weise wurden aus den Königreichen souveräner Territorialherrscher schließ-lich moderne Staaten, die „das Volk“ unter ihre Herrschaft zwangen und unabhängig von Verwandtschaftsbeziehungen einheitlich zu Untertanen machten. Im absolutisti-schen Staat des 17. und 18. Jahrhunderts, den seine Trennung vom Volk zur höheren pouvoir neutre machte, wurde das öffentliche Leben durch vom Herrscher besoldete Beamte verwaltet. Der Kampf der nun im Staat isolierten Privatpersonen wurde zur Konkurrenz in Form von Regeln für den freien Wettbewerb um Chancen am Markt verrechtlicht. Das hierzu nötige stehende Heer und der bürokratische Apparat wurden über Steuern finanziert, was die Steuerhoheit zur Kernkompetenz des Staates machte

und die – rationalisiert – eine wesentliche Triebfeder für den Kampf um demokrati-sche Mitbestimmung werden sollte.

Symbolische Ordnung

Die Legitimationsgrundlage des Staates ging dann im 19. und 20. Jahrhundert von der Person des Fürsten auf den „Willen des Volkes“ über, welches der Regierung das Gewaltmonopol „übertrug“. Diese Abstraktion von der Person der Herrschenden geschah jeweils in gewaltsamen Emanzipationsakten gegenüber der fürstlichen Kon-fessions- und Steuerhoheit. Aus dynastischen Herrschaftsgebieten erstanden so die Nationalstaaten. Die Nation stellte nun die primäre symbolische Ordnung für ihre Bürger dar. Während im Interim der totalitären ( d.h. sozialistischen oder faschisti-schen) Moderne des 20. Jahrhunderts nach dem Charisma des jeweiligen Führers das revolutionäre Dogma die Legitimation der Herrschaft des Einparteienstaates war, ist es in den bürgerlichen Demokratien der verfasste Gesellschaftsvertrag freier und gleicher Bürger, durch den die Nation sich unter dem Gewaltmonopol des Staates konstituiert. Hier trat an die Stelle des Untertans der Staatsbürger. Der Staatsbürger-status wurde vom bourgeois schrittweise auf die gesamte Bevölkerung eines Staates ausgeweitet. Im Zentrum des Staates stand dann der mit Freiheits-, Mitbestimmungs- und sozialen Teilhaberechten ausgestattete citoyen. Der aus Staatsbürgerschaft und Marktwirtschaft erwachsende Individualismus brachte schließlich die Verdrängung absoluter, mythischer wie religiöser Wahrheitsansprüche zur Stützung der gesell-schaftlichen Ordnung durch „abstrakte, interessengeleitete und von Rationalität und formalen Regeln bestimmte Formen der Wirklichkeitsbewältigung“ (Siegelberg 2003: 35) mit sich.

Ein innergesellschaftlicher Pluralismus ersetzte die Geschlossenheit persönlicher Bindungen und gemeinschaftlicher Symbolwelten. Schließlich war dann auch die Nation in immer geringerem Maße etwas, für das es sich zu sterben lohnte, weil die bürgerliche Vergesellschaftung die nationalen Gegensätze aufhob. Innergesellschaft-lich traten an die Stelle festgefügter Standesunterschiede individuell überwindbare Klassengegensätze: zwischen jenen, die sich am freien Markt behaupten, und jenen, die dies aus eigener Kraft einstweilen nicht können. Zunächst bedeutete das, dass der Marktfrieden, die Transformation des sozialen Kampfes zur marktwirtschaftlichen

Konkurrenz, schließlich die Pazifizierung gesellschaftlicher Konflikte ermöglichte, und zwar sowohl innergesellschaftlicher Konflikte als auch zwischenstaatlicher Kriege. Der Industriekapitalismus machte es für die etablierten Nationalstaaten loh-nender, sich als Wirtschaftspartner, statt als imperiale Gegner zu behandeln (Münkler 2003: 207ff), so dass sie nach 1945 in der Völkerrechtsordnung der Vereinten Natio-nen als deren zentrale Rechtssubjekte in friedlichen Verkehr miteinander treten konnten. Und schließlich führte die nationale Friedensdividende dazu, dass bürgerli-che Gesellschaften sich über die Grenzen ihrer Nationen hinweg in regionale, globale und supranationale Friedensregime einfügen können. „Die Entwicklungsgeschichte des Kapitalismus ist nicht nur Schlüssel zum Verständnis der Kriege der Gegenwart, sie zeigt auch die der kapitalistischen Gesellschaftsformation immanenten Möglich-keiten zur Pazifizierung gesellschaftlicher Konflikte.“ (Siegelberg 1994: 44)

Pazifizierung in der bürgerlichen Demokratie

Aufgrund der immanenten Klassengegensätze im Kapitalismus kann die Einhegung des Kampfes rivalisierender Gruppen zur Konkurrenz gleichberechtigter Bürger ihr volles pazifizierendes Potential jedoch auch erst dann entfalten, wenn nun der Staat die Umverteilungsaufgaben übernimmt, die vorher die traditionellen Sozialformatio-nen bewältigten. Dann ist der Kapitalismus nicht mehr nur Konfliktursache, sondern Pazifizierungspotential. Deswegen darf der Wohlfahrtsstaat auch nicht als Gegensatz zu dem hier verwendeten Begriff des Kapitalismus verstanden werden.19 Stattdessen muss die staatlich organisierte Umverteilung als systemimmanentes Merkmal der kapitalistischen bürgerlichen Demokratie begriffen werden.

Und zwar in jeder ihrer Ausformungen: klassisch liberal wie in den angelsächsischen Ländern, wo sich Wohlfahrt auf bloße Armenhilfe beschränkt; konservativ-korporatistisch wie in Mitteleuropa, wo die staatliche Wohlfahrt – wie etwa unter Bismarck – als Privilegierung einzelner sozialer Standes- und Berufsgruppen ent-standen ist und die Dekommodifizierung durch gruppenspezifische Abgaben und Zuwendungen erreicht wird; oder genuin sozialdemokratisch wie in Skandinavien, wo die sozialen Rechte des einzelnen Staatsbürgers als Maßstab für die über

19 „Es führt also zu grundlegenden Fehleinschätzungen, wenn die kriegerische Spur des Kapitalis-mus als Eigenschaft des KapitalisKapitalis-mus und nicht als Bedingung seiner Entstehung und Durchset-zung gesehen wird.“ (Siegelberg 2003: 37)

meine Steuern organisierte Umverteilung dienen (Esping-Andersen 1997). Im letzte-ren Fall ist das idealtypische Staatsmodell einer befriedeten bürgerlichen Demokratie recht weit gediehen: Der Staat besitzt das Gewaltmonopol und stellt, geleitet durch die Prinzipien seiner Verfassung und durch demokratische Mehrheitsentscheidungen, Regeln für das Zusammenleben seiner mit gleichen Freiheits-, Mitbestimmungs- und Teilhaberechten ausgestatteten Staatsbürger auf; insbesondere für die friedliche Konkurrenz um Chancen am Markt und Macht in der Demokratie (Marshall 1992).

Dabei ist eine so weitgehende Übereinstimmung von gleichem Staatsbürgerstatus und gleicher Teilhabe am Umverteilungssystem wie im skandinavischen Modell al-lerdings recht selten.20 Denn in allen OECD-Staaten lassen sich abweichend vom idealtypischen Demokratiemodell auch immer noch strukturelle Reste vormoderner und vordemokratischer Sozialformationen finden, jeweils mehr oder weniger stark ausgeprägt. Denn bei jeder Staatsbildung werden bestimmte überlieferte Ungleich-heiten zwischen sozialen Gruppen nicht abgeschafft, sondern mit verstaatlicht. Dies sind vor allem solche Ungleichheiten, die jene sozialen Gruppen begünstigen, die bei der Konstituierung des Staates die entscheidenden Kräfte darstellten. So ist dann späterhin auch noch in der etablierten Demokratie „hinsichtlich des Entscheidungs-prozesses der Zugang und die Einwirkungsmöglichkeit der verschiedenen Gesell-schaftsmitglieder oder der durch sie gebildeten Gruppen und Verbände unterschied-lich“, und „hinsichtlich des Entscheidungsergebnisses materieller wie immaterieller Art das Herrschaftsverhältnis in seiner regelmäßigen Begünstigung bzw. Benachtei-ligung bestimmter Individuen und Gruppen selbst eine Ursache von Ungleichheit.“

(Greven 1991b: 217f) Aber die bürgerliche Demokratie kann diese Widersprüche aushalten, wenn sie von einer emanzipierten bürgerlichen Gesellschaft getragen wird, die den ihr durch die Verfassung garantierten wirtschaftlichen und politischen Chan-cen trotz aller Ungleichheiten nachgehen kann. Dann können vormoderne und vor-demokratische Sozialformationen in die Staatsbildung integriert werden, ohne die Konsolidierung des Staates zu gefährden. Allerdings bescherte die globale

20 Dabei ist ein starkes Indiz für die Systemverträglichkeit von Sozialdemokratie und Kapitalismus die historische Tatsache, dass der genuin sozialdemokratische Wohlfahrtsstaat nur im bis dahin ausgesprochen klassisch-liberalen Skandinavien geschaffen wurde, wo eine starke, geschlossene Allianz aus Arbeiterschaft und selbständigen Kleinbauern in ihrem Kampf um soziale Rechte auf den universalen Rechtsprinzipien der bürgerlichen Demokratie aufbauen konnte (Esping Ander-sen 1997: 44ff).

schaftung auch den Nationalstaaten des neuzeitlichen Europa seit 1789 zwei Jahr-hunderte gewaltsamer Konflikte, bevor sich nach 1945 auch in Westdeutschland und nach 1989 auch in Ostmitteleuropa die bürgerliche Vergesellschaftung politisch und wirtschaftlich so weit durchgesetzt hatte, dass die Ausläufer vordemokratischer Sozi-alformationen integriert werden konnten. In Deutschland etwa sind die Reste der vordemokratischen Sozialformationen heute noch im so schwer zu reformierenden konservativ-korporatistischen Wohlfahrtsstaat lebendig (Esping-Andersen 1997:

38ff).

Eine solche friedliche Integration vormoderner Sozialformationen ist in den Staats-bildungsprozessen der Gesellschaften der Dritten Welt nun bislang meist gescheitert.

In den bis heute von kriegerischer Gewalt betroffenen Ländern war die Entwicklung einer bürgerlichen Gesellschaft nicht umfassend genug, um Konflikte in Form von friedlicher Konkurrenz auszutragen. Im Folgenden soll daher in einer gesonderten Betrachtung der für die Dritte Welt spezifischen Ausbildung von Kapitalismus und Staatlichkeit beschrieben werden, welche grundsätzlichen Schwierigkeiten sich erge-ben, wenn ein Staat bei Abwesenheit einer bürgerlichen Gesellschaft „gemacht“

werden muss.

Im Dokument Gewaltmonopol und Fremdherrschaft (Seite 33-39)