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3. Formen des innerstaatlichen Gewaltkonflikts

3.2 Die drei Formen des innerstaatlichen bewaffneten Konflikts in den Begriffen des

3.2.2 Aufruhr

Der Aufruhr ist natürlich zunächst die spontane unorganisierte gewaltsame Erhebung einer Gruppe im Staat, etwa die gewaltsame Ausschreitung bei einer Demonstration.

Aber auch die zwar organisierte, doch kurzlebige Meuterei eines Teils der Armee fällt unter diesen Begriff. Dabei ist es auch unerheblich, ob eine solche kurzfristige Gewaltaktion als erfolgreicher Staatsstreich oder Putsch zum Regierungsumsturz führt. Denn ein kurzer, erfolgreicher Staatsstreich, Putsch oder auch revolutionärer Umsturz (wie im Sinne Hannah Arendts, siehe Abschnitt 1.2) stürzt eine Regierung, hebt aber nicht die Integrität des Staates auf. Er formiert keinen politischen Verband in Konkurrenz zum Staat, sondern übernimmt den Staat und stellt somit keine Form des Staatszerfalls dar.31

Terrorismus in reiner Form

Generell ist Terrorismus als Mittel seit jeher bei allen Formen des irregulären Kamp-fes verbreitet (Hensell 2003: 12). Der unmittelbare Zweck dieses Mittels ist nicht die Eroberung eines Gebiets, sondern die diffuse Verbreitung von Angst und Unsicher-heit beim Gegner, das Signal der eigenen Existenz, der Beweis der Handlungsfähig-keit und hierdurch die Mobilisierung von Sympathisanten und Mitstreitern (Schroers 1961: 193ff; Münkler 2003: 177f, 180f). Gewöhnlich ist dieses extreme Mittel a-symmetrischer Kriegführung aber Teil einer Strategie Aufständischer, die langfristig durchaus auf die Übernahme von Herrschaftsgewalt in einem bestimmten Gebiet zielt; Beispiele hierfür sind die PLO in den 1970er Jahren (Daase 1999: 170-176) und die IRA in Nordirland (Bittner/Knoll 2000). Einzig der Terrorismus in reiner Form, der Terrorismus als Konzept, bleibt völlig klandestin und nimmt die Über-nahme von Herrschaft in keiner Weise mehr in Angriff (Hensell 2003: 16). Beispiele hierfür sind die RAF in Deutschland und die Al Quaida-Zellen in Europa und den

31 Vgl. etwa den Systemwechsel in Rumänien 1989 (Geiss 2002: 257).

USA,32 deren bisweilen „unberechenbaren“ und „entgrenzten“ Gewaltakte trotz ihrer enormen Wirkung auf die Psyche westlicher Gesellschaften (Enzensberger 1993: 51;

Münkler 2004b: 199ff) eben nicht repräsentativ für die zeitgenössischen bewaffneten Konflikte sind und in ihrer quantitativen Relation auch eher marginal (Siegel-berg/Hensell 2006: 13). Diese Fälle können hier ebenfalls unter dem Begriff des Auf-ruhrs subsumiert werden.

Bewaffnete Kriminalität

Eine weitere Form gewaltsam ausgetragener Konflikte, die man nicht sofort mit dem Begriff des Aufruhrs verbinden würde, die aber unbedingt vom Aufstand abzugren-zen ist, stellen die gewaltsamen Kämpfe krimineller Ordnungen dar. Was ihnen ge-genüber einem politischen Verband noch fehlt ist wieder das Moment territorialer Herrschaft. Die Mafia in Sizilien, die Cosa Nostra in New York, oder Straßengangs wie die Crips und Bloods in Los Angeles mögen Anspruch auf „Reviere“ erheben und diese bewaffnet gegen konkurrierende Banden verteidigen. Aber sie üben noch keine auf Gewaltmitteln basierende Herrschaft über all die Nichtmitglieder ihrer Bande aus, die sich in ihrem Gebiet aufhalten. Entsprechend bleiben auch diese Or-ganisationen klandestin, sie okkupieren keinen öffentlichen Raum in herrschaftlicher Weise. Und „Kriege“ in diesem Milieu bezeichnen gemeinhin unregelmäßige, kurz-zeitige, durch bewaffnete Einzelaktionen bestimmte Kämpfe um den Zugang zu be-stimmten Geschäften oder Pfründen oder zur Bestrafung von Verstößen gegen die Regeln der Organisation. Die Zahl der Gewalttäter wie -opfer erreicht hier regelmä-ßig nicht die Höhe wie in bewaffneten Konflikten. Kriminelle Gewalt fordert das Gewaltmonopol des Staates heraus, schafft es aber nicht ab, solange der Staat die Gewaltkontrolle über sein Territorium mit der Verfolgung solcher Gewaltakte regel-mäßig wahrnimmt.

32 Die Basis ihrer heutigen internationalen Reichweite konnte Al Quaida allerdings auch erst da-durch erlangen, dass sie sich im sowjetischen Afghanistankrieg 1979-88 von einer Gruppe saudi-arabischer Exilanten zur aufständischen Guerillaorganisation gegen die UdSSR gewandelt hatte (Hensell 2003: 19). Dabei ist zu beobachten, dass das globale Terrornetzwerk Al Quaida sich immer wieder mit lokalen Aufständen verbündet. Diesen Bündnissen mangelt es jedoch an Stabi-lität, wo nicht der im Sinne Webers politischen Handlungslogik der Aufständischen gefolgt wird.

Übergänge zwischen den Idealtypen Aufruhr und Aufstand

In Rio de Janeiro etwa nehmen diese Kämpfe krimineller Ordnungen jedoch Ausma-ße an, die die Grenze zum Aufstand bisweilen überschreiten. Hier zeigt sich, dass kriminelle Ordnungen unmittelbar in einen Aufstand übergehen können. In den dor-tigen illegal bebauten Favelas und zu Slums degenerierten Armenvierteln kämpfen vorwiegend jugendliche Drogenbanden gewaltsam um die Herrschaft über Straßen-züge. Dabei sind sie jedoch einen Schritt weiter als Straßengangs in den USA: ihre ursprünglich ökonomisch orientierten Gewalthandlungen wurden in dem Sinne poli-tisch, als die Behauptung einzelner Drogenverkaufsstellen in den Favelas die Herr-schaft über die gesamte Favela ermöglichte und auch nötig machte. So sind es heute die Bosse der Drogenbanden in den Favelas, die etwa entscheiden, ob in den Favelas Wege asphaltiert, Häuser gebaut oder Wasserleitungen verlegt werden dürfen. Ge-fährden solche Vorhaben die strategischen Positionen der Bande in der Favela, wer-den sie gewöhnlich durch die Anwendung oder Androhung von Gewalt unterbunwer-den.

Auch kann keine der vielen Bürgervereinigungen in den Favelas existieren, wenn sie nicht von den Drogenbanden toleriert wird. Und die Gewalthandlungen aller Bewoh-ner der Favela unterstehen der Gewaltkontrolle der Bandenchefs: diese verbieten, sanktionieren oder genehmigen Morde, Vergewaltigungen und andere Überfälle in den Favelas (Souza 2004). Der Staat übt hier Gewaltkontrolle nur noch insofern aus, als er mit paramilitärischen Polizeieinheiten zuweilen die Favelas stürmt, jedoch oh-ne hierdurch Ordnung schaffen zu könoh-nen (Lanz 2004). Damit stellt sich bei den Zuständen in Rio de Janeiro die Frage, inwiefern der Staat noch mit seinem Verwal-tungsstab die Gebietshoheit innehat. Insofern der Staat seine zwar korrupte, aber ein-heitliche Herrschaft über die etwa 200-700 Favelas der Stadt behält, ist noch nicht von einem Aufstand zu sprechen. Dies wäre dann vielleicht der Sinn der Worte des Unterstaatssekretärs für innere Sicherheit in Rio de Janeiro, Marcelo Itagiba: „Wir reagieren nicht nur, wir geben hier den Takt an.“33

Insofern aber die brasilianische Regierung den Verlust ihrer de facto-Herrschaft über die Favelas eingestehen muss und die Polizei dort tatsächlich nur noch bloßer Kom-battant ist, ist der Fall eines Aufstandes eingetreten. Dann wäre die relativ dauerhafte territoriale Verdrängung des staatlichen Verwaltungsstabes durch einen

33 Aus: Rio de Janeiro. Die mörderische Schönheit, in der Zeitschrift Geo vom 6. Juni 2004, S. 142-170.

schen Verwaltungsstab aufgrund regelmäßiger bewaffneter Kämpfe festzustellen.

Nach Meinung von Anton Landgraf ist dieser Fall seit den 1990er Jahren eingetreten, als sich der Staat aufgrund der kriminellen Gewalt de facto aus den Favelas Rio de Janeiros zurückgezogen hatte (Landgraf 1996). Heute spricht vieles dafür, dass ver-schiedene Favelas und Slums in Rio de Janeiro, São Paulo, Caracas, Mexico City und Medellín de facto kämpfende politische Verbände darstellen.34

Die Übergänge zwischen krimineller Ordnung und Aufstand sind in der Realität jedenfalls fließend, und sowohl können kriminelle Ordnungen durch ihre andauernde Eskalation zu Aufständen werden, wie auch Aufstände durch die andauernd deeska-lierende Koexistenz mit der staatlichen Ordnung in einem Gebiet zu bloßen kriminel-len Ordnungen werden können. Beide Fälle sind etwa in Tadschikistan zu beobach-ten, wo in Folge der Rebellion aufständischer Clans zeitweilig die einzelnen Staats-organe in den städtischen Zentren zu einander bekämpfenden Gewaltfraktionen wur-den und der Staat in wur-den Peripherien des Landes seine Herrschaft ganz an verschie-dene Warlords verloren hatte. Später konnte – durch Verhandlungen, aber auch mit wesentlicher Hilfe der russischen Armee – die staatliche Herrschaft und Einheit ge-genüber einer weiterhin vitalen kriminellen Ordnung dann weitgehend zurückge-wonnen werden (Seifert 2002: 127f, 130). Anhand dieses Beispiels zeigt sich, dass die territoriale Herrschaft einer bewaffneten Ordnung entscheidend dafür ist, ob durch die Kämpfe der Staatszerfall eingeleitet wird oder nicht. Insofern wird gerade in der Beschäftigung mit diesen Übergangsformen deutlich, wie die idealtypische Unterscheidung zwischen Aufruhr und Aufstand hilft, das Phänomen des Staatszer-falls zu verstehen.

Im Dokument Gewaltmonopol und Fremdherrschaft (Seite 64-67)