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2 Theoretische Analyse der Modalverben

2.2 Modalverben als lexikalisches Ausdrucksmittel der Modalität

2.2.2 Äußerungen der Modalverben

2.2.2.2 Die deutschen Modalverben bei epistemischer Verwendung und ihre

2.2.2.2 Die deutschen Modalverben bei epistemischer Verwendung und ihre Wiedergabe im Russischen

Mittels der epistemischen Verwendung der Modalverben legt sich der Sprecher nicht auf die Wahrheit bzw. Falschheit der Proposition fest. Die Modalverben stellen hierbei einen Bezug zwischen der Proposition und dem Sprecher her, nämlich inwieweit der Sprecher die Aussage für zutreffend hält. Dabei wird je nach verwendetem Modalverb eine Vermutung des Sprechers oder eine fremde Rede wiedergegeben.

Können, müssen, mögen und dürfen im epistemischen Gebrauch bringen eine Vermutung zur Äußerung. Diese Äußerung kann jedoch eine von Modalverb zu Modalverb verschiedene modale Nuance aufweisen. Beispielsweise kann durch müssen eine Vermutung geäußert werden, die eine Schlussfolgerung aufgrund von Beobachtungen oder Fakten darstellt:

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(1) Du liest den ganzen Tag. Das Buch muss spannend sein.

Eine Vermutung durch können kann sich auf die Kenntnis der Umstände stützen:

(2) Sie kann auch früher nach Hause kommen.

Dürfen drückt eine Vermutung aus der Perspektive eigener Erfahrungen aus:

(3) Du dürftest das Visum bekommen.

Mögen äußert eine Vermutung, die sich auf eine Überlegung stützt:

(4) Das Mädchen mag 4 Jahre alt sein.

Werden beispielsweise semantische Inhalte bei epistemischer Verwendung von dürfen und können im Sinne der Vermutung gegenüber gestellt, so kann man durch den Kontext die unterschiedlichen modalen Nuancen herausfinden. Während können einen Sachverhalt nur als hypothetisch wahr hinstellt, bezeichnet dürfen einen Sachverhalt als mit hoher Wahrscheinlichkeit wahr:

(5) Man behauptet, sie habe das Geld veruntreut, aber sie kann es auch verloren haben.

(6) Er dürfte den Termin vergessen haben, weil er immer vergesslich ist.

Auch beim Vergleich von mögen und müssen ist der Wahrscheinlichkeitsgrad der Vermutung unterschiedlich. Dieser ist bei müssen viel höher als bei mögen:

(7) Es mag sein, dass Max krank ist.

(8) Max muss krank sein.

Analog zu (1) weist müssen in Beispiel (8) auch eine inferenzielle Nuance auf.

Eine Zusammenfassung der modalen Vermutungsnuancen und der jeweils unterschiedlichen Wahrscheinlichkeitsgrade bietet folgende Tabelle:

Tabelle 4: Varianten der Vermutungsäußerung von deutschen Modalverben bei epistemischer Verwendung

Vermutung basiert auf Modalverben Wahrscheinlichkeitsgrad der Vermutung

Überlegung mögen sehr niedrig

Kenntnis der Umstände können niedrig

eigener Erfahrung dürfen hoch

Beobachtung / Fakten müssen sehr hoch

Quelle: eigene Darstellung, 2005; in Anlehnung an Eisenberg et al. (1998), Gladrow (1998), Griesbach (1986, 2003), Öhlschläger (1989) und Weinrich (2005).

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Wie es im Kapitel 2.2.2 erwähnt worden ist, gibt es im Russischen keine entsprechende Modalverbgruppe beim epistemischen Gebrauch. Das russische Modalverb мочь kann zwar für die Wiedergabe von können, müssen, dürfen und mögen epistemisch verwendet werden, ist jedoch nicht in der Lage, alle die in Tabelle 4 dargestellten Bedeutungsvarianten wiederzugeben. Dafür sind im Russischen andere lexikalische Entsprechungen sowie syntaktische Konstruktionen zuständig, etwa возможно / möglicherweise, наверно / vielleicht, должно быть / wahrscheinlich, скорее всего / höchstwahrscheinlich. Aber auch sie können einander sinngemäß ersetzen. Eine genaue Zuordnung kann nur im konkreten Kontext erfolgen und ist in hohem Maße von der Einstellung und Meinung des Sprechers abhängig. Einige Beispiele für modale Äquivalente zu können, müssen, dürfen und mögen wurden im einleitenden Teil zu Kapitel 2.2.2 angeführt; einen Überblick gibt Tabelle 5 am Ende dieses Kapitels.

Wollen und sollen können zur Redewiedergabe dienen und dabei die Meinung des Sprechers zum Wahrheitsgehalt des ausgesagten Sachverhalts zum Ausdruck bringen.

Diese Fähigkeit grenzt wollen und sollen von den anderen klassischen Modalverben in der epistemischen Lesart eindeutig ab. Verständlicherweise ergeben sich daraus mindestens zwei Fragen: Handelt es sich dabei um grundsätzlich unterschiedliche Lesarten? Und wenn dies der Fall sein sollte, wie kann der Sprecherbezug bei einer durch wollen bzw. sollen vermittelten Rede variieren? Um diese Fragen zu beantworten, sollte man sich auf konkrete Beispiele beziehen. Zum Vergleich:

(9) Anna will ihn nicht gesehen haben.

(10) Anna soll ihn nicht gesehen haben.

In Satz (9) geht die Behauptung von der Person selbst aus, Anna sagt, sie habe ihn nicht gesehen. (10) erfordert eine andere Interpretation, und zwar, dass eine andere Person bzw. andere Personen behaupten, Anna habe ihn nicht gesehen. Das heißt, dass sich der Sprecher durch wollen auf die Äußerung der Person im Subjekt und durch sollen auf die Äußerung eines Dritten bezieht.

Welche Rolle spielt der Sprecherbezug beim referierenden wollen bzw. sollen? In der Literatur herrscht hier Uneinigkeit. Einige Autoren sprechen über eine Distanzierung seitens des Sprechers (vgl. Plank 1981: 57 ff, Weinrich 1993: 312 ff, Gladrow 1998: 110), andere stimmen dem nicht zu (vgl. Wunderlich 1981: 28, Ölschläger 1989: 235, Letnes 2002: 102).

An den Beispielen (9-10) ist ersichtlich, dass die beiden Modalverben wollen und sollen eine mittelbare Information übertragen. Der Sprecher distanziert sich dabei von dieser Information und stellt gleichzeitig die Wahrheit bzw. Falschheit dieser Information in 53

Frage. Ob sich der Sprecher bei sollen stärker als bei wollen distanziert, kann ausschließlich anhand der konkreten Kommunikationssituation geklärt werden. Auf diese Problematik wird im empirischen Teil der Arbeit genauer eingegangen (vgl. dazu Kap. 3.2.2).

Im Russischen werden die Bedeutungen von sollen und wollen durch die Verben des Sagens bzw. der Behauptung wiedergegeben, siehe dazu die einleitenden Beispiele unter 2.2.2.

Die folgende Tabelle gibt, einen Gesamtüberblick über russische Entsprechungen aller deutschen Modalverben in epistemischer Verwendung.

Tabelle 5: Die Wiedergabe der deutschen Modalverben bei epistemischer Verwendung im Russischen*

*„ + “ Wiedergabe möglich; „ – “ Wiedergabe nicht möglich

Kategorien Ausdrucksmittel können müssen dürfen wollen sollen mögen

Modalverben мочь + + + – – + Kategorien Ausdrucksmittel können müssen dürfen wollen sollen mögen Quelle: eigene Darstellung, 2005; Erweiterung der Übersicht von Weidner (1986).

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Auch im Deutschen existiert eine ganze Reihe von Ausdrucksmitteln, die in der Lage sind, die Modalverben zu paraphrasieren. Darauf geht der folgende Abschnitt 2.2.2.3 näher ein.

2.2.2.3 Paraphrasen als Konkurrenzformen der Modalverben