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2 Theoretische Analyse der Modalverben

2.1 Modalität und Modalverben im Sprachvergleich Deutsch/Russisch

2.1.2 Ausdrucksmittel der Modalität

Modalität kommt vermutlich in jeder Sprache vor und wird stets durch verbale bzw.

nonverbale Zeichen realisiert, die entweder isoliert oder in Kombination miteinander vorkommen können. Die traditionellen Forschungsgebiete der Sprachwissenschaft bilden die Phonetik, Morphologie, Syntax und Lexik. Dementsprechend werden die Ausdrucksmittel der Modalität unter phonetischen, morphologischen, syntaktischen und lexikalischen Aspekten betrachtet.

Zu den phonetischen gehören in erster Linie verschiedene Sprachmelodien, die ausdrucksvoll eine Aussage untermalen können. Eine besonders wichtige Rolle spielt eine Akzentuierung bzw. Betonung bestimmter Wörter oder Wortfügungen; auch die Vokalverlängerung innerhalb eines Wortes, eine Hebung oder Senkung der Stimme, deren Klangfarbe (Timbre) und Rhythmus (Pause, Tempo) sind für den

3 Deontisch ist aus dem Griechischen „das Nötige“ abgeleitet (vgl. Bußmann 1990).

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Modalitätsausdruck charakteristisch. Eine fragende, auffordernde oder neutrale Intonation wird durch verschiedene Interpunktionen orthografisch gekennzeichnet.

Syntaktisch drücken beispielsweise elliptische Konstruktionen, Anakoluthe (besonders in der gesprochenen Sprache), Negation oder Affirmation die Modalität aus. Modus und Tempus verleihen einer Aussage eine Modalitätsschattierung in morphologischer Hinsicht. Sehr zahlreich sind die lexikalischen Ausdrucksmöglichkeiten der Modalität wie etwa Modalverben, Modalpartikeln und Interjektionen, bestimmte Adverbien.

Kontextabhängige Sätze ermöglichen es, den Reichtum an Ausdrucksmitteln der Modalität genauer zu beobachten. Dies wird an folgenden Abschnitten eines Romans von Bulgakov (1989) illustriert, was zugleich eine Gelegenheit bietet, Entsprechungen und Unterschiede im Russischen und Deutschen auf diesem Feld zu erkunden:

[...] За мной, читатель! Кто сказал тебе, что нет на свете настоящей, верной, вечной любви? Да отрежут лгуну его гнусный язык!

За мной, мой читатель, и только за мной, и я покажу тебе такую любовь!

Нет! Мастер ошибался, когда с горечью говорил Иванушке в больнице в тот час, когда ночь переваливалась через полночь, что она позабыла его.

Этого быть не могло. Она его, конечно, не забыла.

Прежде всего откроем тайну, которой мастер не пожелал открыть Иванушке. Возлюбленную его звали Маргаритой [...]. Она била красива и умна. К этому надо добавить ещё одно – с уверенностью можно сказать, что многие женщины всё, что угодно, отдали бы за то, чтобы променять свою жизнь на жизнь Маргариты [...].

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М. Булгаков: Мастер и Маргарита (1989)

Der obige Originaltext von Bulgakov (1989) verliert seinen Sprachreichtum in der deutschen Übersetzung nicht, denn die modalen Ausdrucksmittel sind aus der Ausgangsprache auch in die Zielsprache übertragen worden, wenn auch mit feineren Unterschieden. Zum Vergleich:

[...] Mir nach, Leser! Wer hat dir gesagt, es gäbe auf Erden keine wahre, treue, ewige Liebe? Man schneide dem Lügner seine gemeine Zunge ab!

Mir nach, mein Leser, und nur mir nach, ich zeige dir eine solche Liebe!

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Nein! Der Meister irrte, als er in jener Stunde, da die Nacht ihren Höhepunkt überschritt, in der Klinik dem lieben Iwan so bitter sagte, sie habe ihn vergessen. Das konnte nicht sein. Sie hatte ihn selbstverständlich nicht vergessen.

Lüften wir nun vor allem das Geheimnis, das der Meister dem Iwan nicht hatte enthüllen wollen. Seine Geliebte hieß Margarita [...]. Sie war schön und klug. Dem sei noch eines hinzugefügt: Mit Sicherheit hätten viele Frauen alles, aber auch alles hergegeben, um ihr Leben gegen das von Margarita [...] zu tauschen [...].

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M. Bulgakow: Der Meister und Margarita (2003)

Um zu analysieren, wie die Ausdrucksmittel der Modalität im Deutschen und Russischen korrespondieren, wie sie vom Übersetzer auf lexikalischer, morphologischer und syntaktischer Ebene, aber auch was die stilistische Form des Kontextes angeht übertragen worden sind, wird im Folgenden ein detaillierter Vergleich des Originaltextes mit der deutschen Übersetzung durchgeführt.

Der Ausschnitt stellt eine mitreißende, an den Leser gerichtete Rede dar. Die direkte Ansprache des Lesers macht es diesem möglich, unmittelbar im Zentrum des Geschehens zu sein und an der Geschichte teilnehmen zu dürfen. Der Erzähler fordert den Leser auf, ihm weiter zu folgen. Dies wird durch den Imperativ realisiert:

(1) За мной, читатель! (Za mnoj, čitatel'.)

Mir nach, Leser!

Ein Abschnitt später wird die Aufforderung durch das Possessivpronomen мой / mein und die Kombination der Partikeln и только / und nur verstärkt:

(2) За мной, мой читатель, и только за мной [...]. (Za mnoj, moj čitatel', i tol'ko za mnoj.)

Mir nach, mein Leser, und nur mir nach [...].

Der Autor setzt den direkten Bezug zum Leser fort und lockt ihn damit, am Roman beteiligt zu werden. Dies zeigt sich deutlich durch das Personalpronomen тебе / dir:

(3) Кто сказал тебе, что нет на свете настоящей, верной, вечной любви? [...] я покажу тебе такую любовь! (Kto skazal tebe, čto net na svete nastojaščej, vernoj, večnoj ljubvi? [...] ja pokažu tebe takuju ljubov'.)

Wer hat dir gesagt, es gäbe auf Erden keine wahre, treue ewige Liebe?

[...] ich zeige dir eine solche Liebe!

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Bezogen auf die emotionale Ausdrucksweise lassen sich feinere Unterschiede im Russischen und Deutschen erkennen, die keinerlei inhaltlichen Einfluss auf die Aussage haben. So finden die expressiv gefärbten Partikeln да und и kein Äquivalent in der deutschen Interpretation in folgenden Beispielen:

(4) Да отрежут лгуну его гнусный язык! (Da otrežut lgunu ego gnusnyj jazyk!)

Man schneide dem Lügner seine gemeine Zunge ab!

(5) За мной, мой читатель, и только за мной, и я покажу тебе такую любовь! (Za mnoj moj čitatel' i tol'ko za mnoj, i ja pokažu tebe takuju ljubov'.)

Mir nach, mein Leser, und nur mir nach, ich zeige dir eine solche Liebe!

Die emotionale Steigerung im Kontext wird jedoch im nächsten Abschnitt der deutschen Übersetzung durch eine geglückte Wortwahl erreicht. Die Adverbienkombination im Deutschen so bitter macht die neutrale Aussage des russischen Substantivs mit der Präposition с горечью expressiver:

(6) Мастер ошибался, когда с горечью говорил Иванушке [...]. (Master ne ošibalsja, kogda s goreč'ju govoril Ivanuške [...].)

Der Meister irrte, als er [...] dem lieben Iwan so bitter sagte [...].

Interessanterweise findet das Diminutiv Иванушка im Russischen eine Entsprechung im Deutschen durch das Adjektiv der liebe Iwan.

Auf die Spannung in der Erzählung weist darüber hinaus der Satzbau im Deutschen hin. Das finite Verb bekommt im Satz die erste Stellung und verstärkt damit eine emotional gefärbte Aussage:

(7) Прежде всего откроем тайну [...]. (Prežde vsego otkroem tajnu [...].)

Lüften wir nun vor allem das Geheimnis [...].

Die Partikel nun dient hier einer plastischen Anbindung der Aufforderung.

Im syntaktischen Bereich der Modalität sind elliptische Konstruktionen (8-9) und der Interrogativsatz in Form einer rhetorischen Frage (10) nennenswert. Sie sind im Russischen und Deutschen gleichwertig übertragen:

(8) За мной, читатель! (Za mnoj, čitatel'!)

Mir nach, Leser!

(9) Нет! (Net!)

Nein!

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(10) Кто сказал тебе, что нет на свете настоящей, верной, вечной любви? (Kto skazal tebe, što net na svete nastojaščej, vernoj, večnoj ljubvi?)

Wer hat dir gesagt, es gäbe auf Erden keine wahre, treue, ewige Liebe?

Die Satzkonstruktion in Beispiel (10) erscheint im Russischen und Deutschen in unterschiedlicher Form, zeichnet jedoch den gleichen Grad der Abhängigkeit. Die fremde Behauptung im Russischen wird mittels eines durch что / dass eingeleiteten Konjunktionalsatzes gebildet. Im Deutschen wird sie durch indirekte Rede in einem Nebensatz ohne Konjunktion wiedergegeben.

Bezogen auf den lexikalischen Bereich bemerkt man folgende Unterschiede: Die modalen Prädikative надо und можно in Verbindung mit den Infinitiven добавить und сказать im Russischen werden im Deutschen durch Konjunktiv I sei hinzugefügt wiedergegeben:

(11) К этому надо добавить ещё одно – с уверенностью можно сказать, что многие женщины всё, что угодно, отдали бы за то, чтобы променять свою жизнь на жизнь Маргариты [...]. (K ėtomu nado dobavit' eščë odno – s uverennost'ju možno skazat', čto mnogie ženščiny vsë, čto ugodno, otdali by za to, čtoby promenjat' svoju žizn' na žizn' Margarity [...].)

Dem sei noch eines hinzugefügt: Mit Sicherheit hätten viele Frauen alles, aber auch alles hergegeben, um ihr Leben gegen das von Margarita [...]

zu tauschen [...].

Im Kontext bleibt der semantische Inhalt des Originaltextes erhalten. Nicht weniger interessant ist Beispiel (11) in orthographischer Hinsicht: Beide Texte sind durch Interpunktionen gekennzeichnet, im Russischen durch einen Gedankenstrich und im Deutschen durch einen Doppelpunkt. Auf die intonatorische Wichtigkeit wird damit einleitend hingewiesen.

Die hier dargestellte Vergleichsanalyse zeigt sowohl ähnliche als auch unterschiedliche Transformation des russischen Textes ins Deutsche, was aber keinen negativen Einfluss auf den Inhalt ausgeübt hat. Dies untermauert, dass es sich um keine automatische, sondern um eine enkodierte Übersetzung durch interlinguale Transformation des Russischen ins Deutsche handelt.

Mindestens genauso häufig wie in literarischen Werken trifft man auf Modalität in gesprochener Sprache. Gerade bei einer konkreten interpersonalen Kommunikation 20

entstehen Situationen, in denen der Sprecher nicht nur das äußert, was wirklich geschehen kann oder muss, sondern in denen er seine eigene Einstellung einfließen lässt. Dies soll am Beispiel eines Dialoges gezeigt werden:

A: Hör zu, du musst das dringend erledigen.

B: Und wenn nicht?

A: Dann kriegst du Ärger.

Aus dem Kontext heraus zeigt sich deutlich eine deontische Bedeutung von müssen, epistemisch verstärkt durch das Adverb dringend: Der Sprecher betont dadurch, dass ihm die Sache wichtig ist. Zumindest ist ihm die Notwendigkeit der Erledigung bewusst;

in diesem Fall liegt ihm an der Weitervermittlung dieser Erkenntnis.

An diesem Beispiel kann man sehr gut die Tatsache illustrieren, dass sich verschiedene Ausdrucksmittel der Modalität gegenseitig gleichwertig ersetzen können. So lässt sich das Modalverb müssen im Dialog durch andere lexikalische Ausdrucksmittel ersetzen, etwa durch Modalwörter (Sicher/Bestimmt erledigst du das), durch Vollverben (Ich verlange von dir, die Sache zu erledigen oder Du bist verpflichtet, das schnell zu erledigen), durch Adjektive mit passivisch-modaler Implikation (Die Sache ist dringend) oder durch Substantivierung (Diese Sache verlangt Erledigung). Die Konstruktionen haben/sein + zu + Infinitiv sind imstande, die Bedeutung des Zwanges bei müssen wiederzugeben (Du hast das dringend zu erledigen oder Das ist zu erledigen).

Syntaktisch kann müssen durch einen Aufforderungssatz (Erledige das, aber sofort!) oder eine elliptische Konstruktion (Dringend erledigen.) ersetzt werden.

Passivkonstruktionen konkurrieren mit dem Modalverb müssen im gleichen Sinne (Die Sache wird erledigt. Es gibt etwas Dringendes zu erledigen). Die Negation, eventuell in Verbindung mit einer Frage, kann ebenso Modalität zum Ausdruck bringen (Die Sache ist immer noch nicht erledigt. – Ist die Sache immer noch nicht erledigt?). Die so genannten Modalsuffixe wie etwa -bar oder -pflichtig erweitern die Ausdrucksmittel der Modalität in anderen Kontexten (Man muss dafür Gebühren zahlen. – Das ist gebührenpflichtig.).

Ebenso zahlreich findet das Modalverb müssen gleichwertige Äquivalente im Russischen beispielsweise durch ein Modaladjektiv ([...] ты должен срочно это дело уладить / [...]

du musst diese Sache dringend erledigen), durch ein Vollverb (Я требую от тебя срочно это дело уладить / Ich verlange von dir, diese Sache zu erledigen), durch eine Aufforderungsform (Уладь это дело срочно! / Erledige diese Sache dringend!) oder durch eine elliptische Konstruktion (Уладь! – Erledige das!).

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Die Fähigkeit der modalen Ausdrucksmittel, sich gegenseitig zu ersetzen, trägt dazu bei, paraphrasierte Konkurrenzformen zu entwickeln. Diese Konkurrenzformen gelten als bedeutungsähnlich, verleihen einer Aussage jedoch unterschiedliche Modalitätsschattierungen, die für einen Nicht-Muttersprachler ohne genaue Entsprechungen in der Muttersprache schwer zu unterscheiden sind. Darauf wird in späteren Kapiteln (2.2.2-2.2.3) aufmerksam gemacht.

Für ein klares Bild zur Modalitätsbehandlung im Russischen und Deutschen sollen zunächst die älteren und neueren linguistischen Forschungsergebnisse aus kontrastiver Sicht dargestellt werden.

2.1.3 Schwerpunkte der Modalitätsforschung: eine