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3. Theorie und Therapie der Alkoholabhängigkeit

3.2. Behandlung der Alkoholabhängigkeit

Grundsätzlich ist eine Behandlung im Verbundsystem der Suchtkrankenhilfe sinn-voll. Die Vielschichtigkeit der Alkoholabhängigkeit und der ausgeprägte Verlaufs-charakter mit abgrenzbaren Phasen legen dies nahe. Die Auffächerung der Ange-bote im Verbund des Suchtkrankenhilfesystems erhöht auch die Wahrscheinlich-keit einer Kontaktaufnahme. So wird der erste Kontakt oftmals über Hausärzte hergestellt. Hier ist es günstig, wenn über eine Qualifikation im Gebiet der sucht-medizinischen Versorgung besondere Kompetenz in Diagnostik und Beratung zur Verfügung stehen. Die Suchtberatungsstellen leisten hier ebenfalls einen ent-scheidenen Beitrag. Insgesamt ist aber zu bedenken, dass gerade bei der Alko-holabhängigkeit unter Berücksichtigung von Phase und führendem klinischen Syndrom ganz unterschiedliche Interventionen notwendig sind.

Im Erstkontakt mit dem Alkoholabhängigen ist Information und Unterstützung bei der Standortklärung wichtig. In dem vegetativen Alkoholentzugssyndrom (VAES) ist eine spezifische somatische und medikamentöse Strategie unbedingt ange-zeigt. Nach Abklingen des VAES schließt sich eine multimodale Behandlung an, die eine Festigung der Motivation zur Abstinenz und Inanspruchnahme weiterer Maßnahmen und Hilfen zum Ziel hat. Dieses Bündel von Interventionen ist unter dem Namen der qualifizierten Entgiftung schon 1997 von Stetter ausführlich be-schrieben worden (Stetter and Mann 1997). Die qualifizierte Entgiftung hat sich in

der Praxis bewährt und wird durch entsprechende Ergebnisse der Forschung ge-stützt. Zur Abgrenzung gegenüber der rein körperlichen Entgiftung wurde der Terminus ‚qualifizierte Entzugsbehandlung’ vorgeschlagen, den ich im folgenden benutzen werde (Fleischmann 2001; Mann and Stetter 2002). Das Behandlungs-angebot der qualifizierten Entzugsbehandlung enthält neben der somatischen Be-handlung des VAES und somatischen BeBe-handlung von Alkoholfolgeschäden Psy-choedukation, Einzel- und Gruppenpsychotherapie und ergänzende Angebote wie z.B. Entspannungstraining. In der Technik der Gesprächsführung hat sich das Mo-tivational Interviewing (Miller and Rollnick 1999) durchgesetzt. In der qualifizierten Entzugsbehandlung spielen die Kontaktanbahnung und die Vermittlung in Struktu-ren des Suchthilfesystems eine bedeutsame Rolle. Neben der Vermittlung in eine notwendige weiterführende Behandlung ist der Kontakt zu einer Selbsthilfegruppe von großer Bedeutung. Die qualifizierte Entzugsbehandlung ist in ihrer Dauer be-grenzt. Dies ist im Wesentlichen durch Entscheidungen der Kostenträger, hier der Krankenversicherung, bedingt. Die qualifizierte Entzugsbehandlung stellt den ge-genwärtigen Stand der Heilkunst für diesen Bereich der Behandlung der Alkohol-abhängigkeit dar und ist in der Regel ein Angebot der spezialisierten Einheiten der Versorgungspsychiatrie. Diese Behandlung ist sowohl ambulant, teilstationär wie auch vollstationär zu führen. Allerdings setzt hier die Schwere des VAES – mit seinen Komplikationen hinsichtlich der ambulanten oder teilstationären Behand-lung – eine Grenze. Trotz des erheblichen Aufwandes werden nach einer qualifi-zierten Entzugsbehandlung über 80% der Patienten im ersten Jahr rückfällig.

Aufgrund der nur begrenzt sinnvollen Aufgaben- und Kostenteilung wird die weite-re Behandlung Alkoholabhängiger zu Lasten der Rentenversicherung im Rahmen der Rehabilitation, auch Entwöhnung genannt, durchgeführt. Auch hier sind ambu-lante, ganztags-ambulante und vollstationäre Angebote zu finden. In der Entwöh-nung zielt die Behandlung auf eine gefestigte innere Haltung zur Abstinenz und ein adaptives Coping mit der Abhängigkeit. Auch hier wird auf den Phasenablauf der Erkrankung geachtet. Je nach therapeutischer Schule wird der Behandlung einer vorausgesetzten Grundstörung oder einer Arbeit am süchtigen Verhalten der Vorrang gegeben (Sporn 2002). Sicher kann heute keine Behandlung auf sucht-spezifische Interventionen verzichten. Ein wichtiger Inhalt der

Entwöhnungsbe-handlung ist neben der Vermittlung einer verbesserten Verhaltenskontrolle auch die Begleitung des Patienten auf der Suche nach einem Ersatz für das süchtige Verhalten. Hier sind erlebnisorientierte Angebote, ausdruckszentrierte Therapie, Sport, aber auch Arbeitstherapie bzw. Arbeitsrehabilitation zu nennen. Der Ko-morbidität oder besonderen Problematik, z.B. geschlechtsspezifischer Art, wird in besonderen Indikativgruppen Rechnung getragen. Ausgeprägte Komorbidität – wie z.B. die von PTBS und Abhängigkeit oder die von Abhängigkeit und schizo-phrener Psychose – bedarf durchaus der Einrichtung eines hochspezialisierten, dualen Behandlungssettings. Diese Angebote sind allerdings selten zu finden. Die angemessene Behandlung der Komorbidität stellt demnach teilweise noch ein Problem dar. Gelegentlich wird die notwendige Pharmakotherapie der komorbiden Störung unter dem Verweis auf eine Freiheit von jeglichen Drogen unterlassen, was an der Behandlungsrealität zumeist vorbei geht.

Die Entwöhnungsbehandlung wird mit großer zeitlicher Flexibilität abhängig vom Setting stationär, ganztags-ambulant oder ambulant angeboten. Die mittlere Dauer einer stationären Entwöhnungsbehandlung beträgt etwa 90 Tage (Sonntag and Künzel 2000) und die Tendenz zu einer Verkürzung der Behandlungszeiten ist nicht zu übersehen. Ein Jahr nach einer stationären Entwöhnungsbehandlung sind noch etwas weniger als 50% der Patienten abstinent. Die ambulante Entwöh-nungsbehandlung dauert in der Regel mehrere Monate an (Arend 1994). Die Pa-tienten können in ihren sozialen Bezügen verbleiben. Hier werden Abstinenzraten von bis zu 73% im Mittel 28 Monate nach der Behandlung berichtet (Wiesheu 2002). Ob dies auf die relativ lange Zeit im therapeutischem Rahmen oder einen Selektionseffekt – die weniger schwer Erkrankten befinden sich in ambulanter Entwöhnung – zurück geführt werden kann, ist noch nicht geklärt (Körkel and Schindler 2003).

Einrichtungen und Angebote zur Vorbereitung auf eine Entwöhnungsbehandlung und zur Reintegration nach dieser Behandlung runden das Angebot ab. Die Tat-sache, dass noch ein erheblicher Teil der Patienten nach einer Langzeitbehand-lung rückfällig wird, führte zu der Einrichtung einer FestigungsbehandLangzeitbehand-lung im rela-tiv fixen zeitlichen Anschluss an eine Entwöhnung. Zu erwähnen sind auch

Über-gangs- und Dauerwohnheime für chronisch mehrfach geschädigte Abhängige, die im konventionellen Behandlungs- und Entwöhnungsangebot ausbehandelt sind.

Zum Schluss der kurzen Darstellung ist das Angebot der Selbsthilfegruppen zu erwähnen. Diese bieten mittlerweile in ausdifferenzierter Weise unterschiedliche Arten der Unterstützung an. Die Integration in eine Selbsthilfegruppe ist für den Alkoholabhängigen von großem Gewinn. Die Abstinenzrate kann durch Anbindung an eine Selbsthilfegruppe erhöht werden (Küfner, Feuerlein et al. 1988).

Die medikamentöse Unterstützung der erreichten Abstinenz erlangt zunehmende Bedeutung. Die Aversionstherapie mit Disulfiram ist allerdings, vorwiegend wegen ihrer potentiell schweren Nebenwirkungen, umstritten (Blanc and Daeppen 2005).

Zudem ist der in Frage kommende Personenkreis sehr klein, da unbedingte Absti-nenzmotivation und eine hohe Compliance notwendig sind. Auch ist der therapeu-tische Nutzen umstritten (Soyka 1997). Auf weitere Optionen der medikamentösen Beeinflussung des Cravings wird später eingegangen (3.4.).

3.3. Psychotherapeutische Ansätze zur Behandlung der Alkoholabhängigkeit

In der bundesdeutschen Versorgungslandschaft findet sich eine bemerkenswerte Vielfalt von Angeboten. Im Wesentlichen lassen sich die bestehenden Therapie-angebote von der psychodynamischen und humanistischen Vorgehensweise ab-leiten. Behaviorale Programme gewinnen langsam an Boden. Systemische Ansät-ze werden in der Literatur beschrieben, dürften jedoch in der Versorgungspraxis eine geringe Rolle spielen (Rist 2000). Dabei hat jede der großen Therapieschulen ein eigenes theoretisches Verständnis, natürlich auf dem Boden der eigenen Schule, und damit verbunden einen eigenen Sprachduktus entwickelt. Auf jenem Boden werden die Eigenarten der jeweiligen Angebote verständlich.

Vor dem Hintergrund der historischen Entwicklung erscheint es verständlich, dass die Psychoanalyse der Abhängigkeit weiterhin Theorie und Praxis der Behandlung maßgeblich bestimmt. Im Theoriegebäude der Psychoanalyse wird eine seelische Störung als eine Folge von psychostrukturell bedingten Defiziten und der

Dysregu-lation von Affekten als Ergebnis einer individuellen psychosozialen Entwicklung gesehen. In diesem Verständnis kann die Abhängigkeit nur Ausdruck der dahinter-liegenden Störung, auch Grundstörung genannt (Sporn 2002), sein. Zentrale An-nahmen der Psychoanalyse sind die Regulation von Trieb und Affekt mittels der Abwehrmechanismen, durch die eine Anpassung des Individuums an seine Um-welt ermöglicht wird. Allerdings sind mit den verschiedenen Strömungen oder Schulen innerhalb der Psychoanalyse teils sehr divergierende Vorstellungen über die Genese der Abhängigkeit verbunden. Während in der Triebpsychologie Suchtmittelkonsum vorwiegend als Ersatz für sexuelles Handeln verstanden wur-de, wird im Rahmen der Konfliktpsychologie der Schutz vor Kastrationsängsten und eine Abwehr aggressiver und sadistischer Impulse in den Vordergrund ge-stellt. Auch Ich-Psychologie, Selbstpsychologie und Beziehungspsychologie nach Winnicott betonen jeweils sehr unterschiedliche Aspekte. In der relativ modernen interaktionell-analytischen Sichtweise gehen Heigl und Heigl-Evers von einem Konzept der Regulationsdefizite von Affekten und Trieben aus (Heigl-Evers 1985).

Hieraus wurde ein Konzept der therapeutischen Arbeit entwickelt. Insgesamt wird jedoch die Heterogenität der Vorstellungen deutlich, die durchaus auch heute noch schulengebunden, nebeneinander existieren. Eine Heterogenität der thera-peutischen Angebote mag hier auch ihre Erklärung finden.

Die in der therapeutischen Praxis häufig vertretenen Ansätze der humanistischen Psychologie und auch die eklektischen Ansätze divergieren stark. Es zeigt sich jedoch, dass tiefenpsychologisch-psychoanalytische, humanistische und eklekti-sche Behandlungsprogramme sich hinsichtlich der wesentlichen Behandlungsziele (Einsicht in das Trinkverhalten, Lösung von Familienkonflikten, Selbstbehauptung etc.) wenig unterscheiden. Wie sich in der MEAT-Studie zeigt, sind die Unter-schiede in Ergebnissen stationärer Behandlungsprogramme, den Abstinenzraten, vorwiegend durch Variablen wie regelmäßige Einzeltherapie, Trennung von Frau-en und Männern, wFrau-eniger durch die Therapieschule zu erklärFrau-en (Küfner and Feu-erlein 1989). Systemische Ansätze finden verstärkt Eingang in die Psychotherapie (Tretter 2000).

In der behavioralen Schule wird die Abhängigkeit im Wesentlichen als Folge des

Lernens am Erfolg erklärt. Ein sich entwickelndes System von positiven quenzen des Konsums von Alkohol – z.B. Entspannung – und negativen Konse-quenzen der Abstinenz führt zur Verfestigung des abhängigen Verhaltens. In der behavioralen Schule werden sowohl einfache Modelle, wie das des operanten Konditionierens, aber auch komplexe Modelle der Regulation heran gezogen.

Kognitive Ansätze widmen sich den Prozessen der Erwartung, der Wahrnehmung, des Denkens, des Gedächtnisses und der Verhaltensplanung. Aus den verschie-denen Absätzen des Behaviorismus haben sich unterschiedliche Therapieansätze entwickelt, die meist strukturiert und operationalisiert sind. Ziele der Interventionen sind maladaptive Lernmuster, die durch therapeutische Lernvorgänge verändert werden sollen. Auch das therapeutische Hinterfragen der kognitiven Verzerrungen dient der Verhaltensänderung. Oftmals ist eine verbesserte kognitive Kontrolle des süchtigen Verhaltens Ziel der Arbeit. Die kognitiv-behaviorale Therapie hat auch in der Unterstützung von Verhaltensänderung im Modell nach Prochaska und DiC-lemente (Prochaska, DiCDiC-lemente et al. 1992) und der Formulierung eines Rück-fallmodells (Marlatt 1985) ihren Beitrag geleistet. Dies hat zu der Entwicklung und Evaluierung effektiver Strategien zur Rückfallprophylaxe geführt (Marlatt and Gor-don 1995; Körkel and Schindler 2003). Modelle des operanten Konditionierens und damit auch des Löschens der Verkettung von Stimulus und Reaktion finden sich im Ansatz des Cue-Exposure wieder.

Inwiefern die schulenspezifischen Vorgehensweisen und Interventionen tatsäch-lich in der konkreten Behandlung wirken, kann noch nicht abschließend geklärt wirken. Im Project MATCH, der weltweit größten Therapiestudie, wurde versucht auf genau diese Frage eine Antwort zu finden (Project MATCH 1997). Die bisher vorliegenden Daten sind allerdings ernüchternd. Im Project MATCH wurde die Wirkung von drei unterschiedlichen Behandlungsformen bei Alkohol missbrau-chenden oder abhängigen Patienten, die sich entweder einer ambulanten Ent-wöhnungsmaßnahme oder einer Nachsorgemaßnahme unterzogen, überprüft. 12 Einzelsitzungen nach dem Konzept der Anonymen Alkoholiker führten zu einer äquivalenten Trinkmengenreduktion wie 12 Einzelsitzungen kognitiver Verhaltens-therapie oder vier Einzelsitzungen motivationsfördernder Therapie. Entscheidende Bedeutung kommt offensichtlich der Person des Therapeuten zu, weniger der

Therapieform (Project MATCH 1998). Die Ergebnisse des Project MATCH werden durch die Erkenntnisse der oben erwähnten MEAT-Studie in der stationären Be-handlung unterstützt. Dies bedeutet, dass es bisher keine überlegene Therapie-form gibt. Insofern liegt es nahe wirksame Interventionen schulenübergreifend nach den Bedürfnissen des Patienten zu kombinieren. Dies soll im Project COM-BINE wissenschaftlich qualifiziert überprüft werden (Anton and Randall 2005).

3.4. Bedeutung des Cravings für den Rückfall

Craving, das süchtige Verlangen (Wetterling, Veltrup et al. 1996), prägt heute als Begriff das Verständnis der Dynamik süchtigen Verhaltens (Tretter 2000). Die vermehrte wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Craving setzte mit der Ver-fügbarkeit potentiell wirksamer Anti-Craving Substanzen ein. Stellvertretend ist hier das Acamprosat zu nennen. In Anbetracht der teilweise hohen Rückfallraten nach einer Behandlung der Alkoholabhängigkeit ist die intensive Suche nach einer Verbesserung der Behandlungsbedingungen auch unbedingt notwendig. Dabei wird der Beitrag des Cravings zum Rückfall durchaus kontrovers diskutiert.

Nicht nur der Begriff des Cravings steht noch im Bemühen um seine Definition.

Auch der Begriff des Rückfalls erfährt definitorische Veränderung. Die enge, di-chotome Rückfalldefinition fragt schlicht danach, ob nach einer Phase der Absti-nenz Alkohol konsumiert wurde. Damit wäre die Phase der AbstiAbsti-nenz beendet und der Rückfall eingetreten. Diese Definition ist durch ihre Klarheit gekennzeichnet und führt zu eindeutigen Verhaltensanweisungen: nämlich nicht zu trinken. Der Nachteil liegt in der Einengung klinischer Verläufe auf nur zwei Möglichkeiten, nämlich die Abstinenz oder den Rückfall, Erfolg oder Versagen. Insofern ist es verständlich, dass weitere Definitionen des Rückfalls versucht wurden, die weiche-re Beschweiche-reibungen darstellen.

Eine Möglichkeit ist die differenziertere Beschreibung von Trinkmengen und/oder Trinkmustern. Der Begriff des ‚mäßigen Alkoholkonsums’ oder die Verlaufsbe-schreibung ‚abstinent nach Rückfall’ sind hier zu nennen. Auch der Begriff

‚kontrol-liertes Trinken’ wird als differenzierte Rückfallbeschreibung genutzt. Der Begriff des kontrollierten Trinkens wird allerdings kontrovers diskutiert und kann als Ziel einer Entwöhnungsbehandlung nicht uneingeschränkt angenommen werden, bzw.

wird im Sinne des Ziels der Fähigkeit zur Punktabstinenz ausdifferenziert (Reymann 2000; Lindenmeyer 2002). Eine wichtige – allerdings m.E. auch etwas unscharfe – Differenzierung wurde von Marlatt eingeführt (Marlatt 1985). Hier wird zwischen „Ausrutscher“ und „Rückfall“ unterschieden. Während mit dem Begriff

„Ausrutscher“ der kurzfristige, umschriebene Konsum nach Abstinenz gemeint ist, beschreibt Marlatt mit dem Begriff „Rückfall“ den Alkoholkonsum wie in früheren Zeiten. Die in der Literatur eingeführten Begriffe ‚subjektiver Rückfall’, ‚trockener Rückfall’, ‚systemischer Rückfall’ und ‚iatrogener Rückfall’ zeigen die Schwierigkei-ten in der Abbildung der vielfältigen FacetSchwierigkei-ten des menschlichen Lebens und der Alkoholabhängigkeit ab. Zur Übersicht sei hier auf Körkel verwiesen (Körkel 2003).

Neben der Definition ist noch die Frage der Erhebung zu berücksichtigen. Rück-fallhäufigkeiten werden in der Regel für bestimmte Zeiträume – Katamnese-zeiträume oder BehandlungsKatamnese-zeiträume – erhoben. Hier sind methodische Proble-me zu berücksichtigen. Die Deutsche Gesellschaft für Suchtforschung versucht durch die Formulierung von Katamnesestandards Abhilfe zu schaffen (DGS 2001).

Der Katamnesestandard 3 rechnet die nicht mehr zu erreichenden Teilnehmer an einer Untersuchung heraus. Der Katamnesestandard 4 rechnet alle Teilnehmer, die zu einem Katamnesezeitpunkt keine Daten einbringen, als rückfällig. Dieser Standard dürfte die Wirklichkeit des Rückfallgeschehens schärfer abbilden.

Die hohen Rückfallraten sind nicht nur wegen des Rückfalls an sich – also einem Versagen der Therapie – kritisch zu sehen, sondern weil es mit zunehmender An-zahl der Rückfälle zu einer Intensivierung des Rückfallgeschehens, also einem Fortschreiten der Erkrankung kommt (Mann and Stetter 2002). Mittlerweile ist der wissenschaftliche Nachweis einer Schädigung durch die dann immer wieder not-wendigen Entzugsbehandlungen, genauer durch exzitatorische Schädigung von Nervenzellen, erbracht (Gonzalez, Veatch et al. 2001). In Anbetracht der darge-stellten Problematik ist es konsequent, dass verschiedene Interventionen zur Ver-ringerung der Rückfallhäufigkeit untersucht wurden. Eine Intensivierung der Be-handlung im Sinne der qualifizierten EntzugsbeBe-handlung oder eine Intensivierung

der Entwöhnungsbehandlung ist effektiv. Dies zeigt sich in begleitenden Untersu-chungen (Stetter and Mann 1997) und im Vergleich mit Daten aus den USA. Die in den USA zu findenden höheren Rückfallraten (Polich 1981) werden zum Teil mit der im Vergleich deutlich kürzeren Behandlungsdauer erklärt. Weitere Interventio-nen bestanden in der Entwicklung von Theorien des Rückfallgeschehens (Marlatt 1985) und daraus abgeleiteten Präventionsprogrammen (Marlatt and Gordon 1995; Körkel and Schindler 2003). Die Analyse von Rückfallgründen ist hier von Bedeutung. Als Rückfallgründe, so genannte Hochrisikobereiche, werden intraper-sonale und interperintraper-sonale Einflussfaktoren genannt (Marlatt, Stout et al. 1996). Zu den intrapersonalen Einflussfaktoren rechnet Marlatt unangenehme Gefühle, un-angenehme körperliche Zustände, unwiderstehliches Alkoholverlangen (Craving) sowie angenehme Gefühle und Versuche des kontrollierten Trinkens. Als interper-sonale Rückfallfaktoren werden Konflikte mit anderen Menschen, das sein mit Alkoholkonsumenten und unangenehme Gefühlszustände im Zusammen-sein mit anderen bezeichnet. Andere Forscher versuchten prospektiv eintretende Lebensereignisse oder die Belastung durch komorbide seelische Störung mit dem dann auftretenden Rückfall zu korrelieren (Hodgins, el-Guebaly et al. 1995; Green-field, Weiss et al. 1998). Es ist festzustellen, dass einige Autoren dem Craving nur eine untergeordnete Rolle zuweisen (Maffli, Wacker et al. 1995; Miller, Westerberg et al. 1996; Drummond 2000). Auf der anderen Seite wird die Rolle des Cravings in der Entstehung des Rückfalls immer wieder betont (Böning 2001; Hartling 2001;

Duka, Townshend et al. 2002; Bottlender and Soyka 2004; Dawes, Johnson et al.

2005). Auch aus der bildgebenden Forschung wird die Aktivierung subkortikaler Strukturen durch alkohol-assoziierte Reize überzeugend dargestellt (Grüsser, Heinz et al. 2000; Braus, Wrase et al. 2001; Wrase, Grusser et al. 2002; Olbrich, Valerius et al. 2006). Im Tiermodell der Abhängigkeit lässt sich das Phänomen des Cravings ebenso abbilden (Wolffgramm and Heyne 1995; Heyne, Thimm et al.

2000; Spanagel 2000; Wolffgramm, Galli et al. 2000). Zudem weist die intensive Forschung an potentiellen Medikamenten zur Reduktion des Cravings auf die kli-nische Bedeutung hin (Delmeire 1980; Borg 1983; Kabel and Petty 1996; Anton, Moak et al. 1999; Ait-Daoud, Johnson et al. 2001; Romach, Sellers et al. 2002;

Croissant, Scherle et al. 2004 (b); Deas, May et al. 2005).

Die unterschiedliche Bewertung des Cravings scheint also nicht zuletzt abhängig von der Anwendung geeigneter Messinstrumente zu sein (Moak, Anton et al.

1998; Anton 2000). Konstatiert man, dass Craving grundsätzlich von Bedeutung für das Rückfallgeschehen ist, (Wetterling, Veltrup et al. 1996), ergibt sich daraus die Notwendigkeit einer genaueren Beschreibung, einer Analyse möglicher Kom-ponenten (Drummond 2000; Heinz, Lober et al. 2003) und der neurobiologischen Grundlagen (Robinson and Berridge 1993). In diesem Zusammenhang scheint es sinnvoll sich mit dem Konzept des Suchtgedächtnisses auseinanderzusetzen.

3.5. Zusammenfassung

Die Alkoholabhängigkeit ist eine häufige Erkrankung, die mit einer hohen Chronifi-zierungsgefahr einhergeht. Chronifiziert bedeutet Alkoholabhängigkeit ein intensi-ves Leiden für die Betroffenen und ihre Angehörigen, sowie hohe gesamtgesell-schaftliche Belastung durch die mit der Erkrankung verbundenen Kosten. Neuro-biologische Forschung und Grundlagenforschung tragen zunehmend zum Ver-ständnis der Alkoholabhängigkeit bei. Es wird deutlich, wie tief sich die Spuren der Alkoholabhängigkeit in das zentrale Nervensystem des Menschen eingraben.

Obwohl differenzierte Behandlungsprogramme in der Behandlung der Alkoholab-hängigkeit entwickelt und validiert wurden, ist doch eine hohe Rückfallquote auch nach intensiver Behandlung festzustellen. Dabei scheint die Spezifität unterschied-licher Behandlungsprogramme gering zu sein, da sich ein Behandlungserfolg eher durch unspezifische Faktoren voraussagen lässt. Die bisherigen psychotherapeu-tischen Behandlungsprogramme sind durchaus hilfreich, scheinen aber den Kern der Abhängigkeit nicht zu erreichen. Dem absoluten Verlangen nach Konsum der Droge Alkohol, dem so genannten Craving, kommt vermutlich eine zentrale Rolle im Rückfallgeschehen zu. Obwohl hier vorwiegend medikamentöse Behandlungs-strategien mit Gewinn in die Behandlung eingeführt wurden, ist die Situation noch nicht befriedigend.

4. Das Suchtgedächtnis

Der nicht unumstrittene Begriff des Suchtgedächtnisses wurde in Umrissen schon in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts eingeführt (Mello 1972). Die klinische Erfahrung, die zur Formulierung des Konzepts führte, erfährt seit etwa 10 Jahren Ergänzung durch Befunde aus der Grundlagenforschung und den bildgebenden Verfahren.

4.1. Tiermodelle der Substanzabhängigkeit

Dass Nagetiere unter Laborbedingungen freiwillig Alkohol zu sich nehmen ist seit den vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts wohlbekannt und hat das Interesse der Forschung auf sich gezogen. Es ist anzunehmen, dass Nager auch in ihrer natürlichen Lebensumgebung aus dem Verzehr vergorener Früchte Alkohol auf-nehmen. Es wurde über den Verzehr großer Mengen vergorener Früchte durch Säugetiere – hierunter auch Nager – in der Natur berichtet. Solche Tiere zeigen im Anschluss auffällige Verhaltensweisen, die an eine Intoxikation denken lassen. Die Aufnahme von Alkohol scheint also zum normalen Verhaltensrepertoire von Na-gern zu gehören. Insofern zeigen sich Ratten und Mäuse als gut geeignete

Dass Nagetiere unter Laborbedingungen freiwillig Alkohol zu sich nehmen ist seit den vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts wohlbekannt und hat das Interesse der Forschung auf sich gezogen. Es ist anzunehmen, dass Nager auch in ihrer natürlichen Lebensumgebung aus dem Verzehr vergorener Früchte Alkohol auf-nehmen. Es wurde über den Verzehr großer Mengen vergorener Früchte durch Säugetiere – hierunter auch Nager – in der Natur berichtet. Solche Tiere zeigen im Anschluss auffällige Verhaltensweisen, die an eine Intoxikation denken lassen. Die Aufnahme von Alkohol scheint also zum normalen Verhaltensrepertoire von Na-gern zu gehören. Insofern zeigen sich Ratten und Mäuse als gut geeignete