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Eye movement desensitization and reprocessing zur Beeinflussung des Cravings Alkoholabhängiger

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Academic year: 2022

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Aus der Abteilung Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Medizinischen Hochschule Hannover

Leiter: Prof. Dr. med. Friedhelm Lamprecht

Eye Movement Desensitization and Reprocessing zur Beeinflussung des Cravings Alkoholabhängiger

Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Medizin an der Medizinischen Hochschule Hannover

vorgelegt von Michael Hase aus Lüneburg

Hannover 2006

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Angenommen vom Senat der Medizinischen Hochschule Hannover am 05.12.2006

Gedruckt mit Genehmigung Medizinischen Hochschule Hannover

Präsident: Prof. Dr. Dieter Bitter-Suermann Betreuer: PD Dr. Martin Sack

Referent: Prof. Dr. Udo Schneider Koreferent: Prof. Dr. Uwe Hartmann Tag der mündlichen Prüfung: 05.12.2006 Promotionsausschussmitglieder:

Prof. Dr. Hermann Müller-Vahl Prof. Dr. Hinderk Emrich Prof. Dr. Frank Schuppert

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INHALTSVERZEICHNIS

1. Einleitung………. 6

2. Eye Movement Desensitization and Reprocessing (EMDR)………8

2.1 Entwicklung der EMDR-Methode... 8

2.2 Detaillierte Darstellung der EMDR-Methode... 9

2.2.1. Adaptive Informationsverarbeitung...10

2.2.2. Das Standardprotokoll und die acht Behandlungsphasen ...11

2.3. Indikationsstellung der EMDR-Methode...14

2.3.1. Aus dem Modell der Adaptiven Informationsverarbeitung abgeleitete Indikationen...15

2.4 EMDR-Varianten in der Behandlung von Substanz-Abhängigkeit... 16

2.5. Zusammenfassung...18

3. Theorie und Therapie der Alkoholabhängigkeit...19

3.1. Beschreibung der Alkoholabhängigkeit und ihrer Epidemiologie...19

3.1.1 Definition von Alkoholabhängigkeit ...20

3.1.2 Diagnostik der Alkoholabhängigkeit ...22

3.1.3 Typisierung der Alkoholabhängigkeit ...23

3.1.4 Verlauf der Alkoholabhängigkeit...24

3.2. Behandlung der Alkoholabhängigkeit...25

3.3. Psychotherapeutische Ansätze der Alkoholabhängigkeit... 28

3.4. Bedeutung des Cravings für den Rückfall...31

3.5. Zusammenfassung...34

4. Das Suchtgedächtnis... 35

4.1. Tiermodelle der Substanzabhängigkeit... 35

4.2.1. Das ‚Point-of-no-Return’-Modell ...40

4.4. Das Suchtgedächtnis...43

4.5. Zusammenfassung...49

6. Fragestellung und Hypothesen...51

7. Methodik... 52

7.1. Studiensetting und Studienteilnehmer...52

7.2. Behandlungsmethoden... 53

7.2.1. Therapie der Kontrollgruppe...53

7.2.2. Therapie der Behandlungsgruppe...54

7.3. Ablauf der Datenerhebung...55

7.4. Psychometrische Messinstrumente...57

7.5. Interviewdiagnostik... 62

7.6. Statistische Auswertung...63

8. Ergebnisse... 64

8.1 Psychometrische Daten der Gesamtstichprobe... 64

8.2 Vergleich zwischen Behandlungsgruppe und Kontrollgruppe...65

8.3 Veränderung des Cravings... 67

8.3.1. Vergleich vor und nach der Behandlung ...67

8.3.2. Daten einen Monat nach Ende der Behandlung ...67

8.3.3. Daten sechs Monate nach der Behandlung ...68

8.4 Veränderungen des BDI... 68

8.5 Rückfallhäufigkeit...69

8.6 Bisherige Veröffentlichungen... 69

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INHALTSVERZEICHNIS (FORTSETZUNG)

9. Diskussion...71 10. Fazit: Arbeit an impliziter Erinnerung Neue Wege in der Psychotherapie?... 78 11. Zusammenfassung der Arbeit... 82 12. Literaturverzeichnis……….. 86

Anhang A: Einverständniserklärung

Anhang B: Fragebogen zur psychosozialen Unterstützung und der Abstinenz Anhang C: Ergebnisse der Prüfung auf Normalverteilung

Anhang D: Ergebnisse der BDI und OCGS-G Messung zu allen Messzeitpunkten Anhang E: Ergebnisse des Chi-Quadrat-Tests der Rückfallhäufigkeit

Anhang F: Lebenslauf

Anhang G: Erklärung nach § 2 Abs. 2 Nr. 5 und 6 PromO

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TABELLEN- UND ABBILDUNGSVERZEICHNIS

Seite

Tabelle 1 Anwendung der Messinstrumente zu den 57

Messzeitpunkten

Tabelle 2 Verteilung der komorbiden Diagnosen in der 65 Gesamtstichprobe

Tabelle 3 Mittelwerte (M) und Standardabweichungen (s) 66 der Kontroll- und Behandlungsgruppe

Tabelle 4 Prüfung auf Normalverteilung Anhang C

Tabelle 5 Ergebnisse der Varianzanalyse OCDS Anhang D Tabelle 6 Ergebnisse der T-Tests für abhängige Stichproben Anhang D

Tabelle 7 Chi-Quadrat-Tests der Rückfallhäufigkeit Anhang E

Abbildung 1 Veränderung der OCDS-G Werte im Verlauf 68 Abbildung 2 Veränderung des BDI-Wertes im Verlauf der 69

Behandlung

Abbildung 3 Anzahl der Rückfälle in Behandlungs- und 70 Kontrollgruppe

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1. Einleitung

“If we don’t try to ease the structures of addictive behaviors through a relearning in the complementary biological substructures, the old addictive behavior will always ‘lie in ambush’.”

J.A.L. Böning: Neurobiology of an addiction memory (Böning 2001)

Klinische Erfahrung und Ergebnisse der experimentellen Suchtforschung weisen auf die Existenz eines Suchtgedächtnisses hin (Heyne, May et al. 2000; Böning 2001; Spanagel 2001). Nach wie vor ist dies Konzept jedoch umstritten (Böning 2000; Tretter 2000; Wolff- gramm and Heyne 2000). Dabei könnte eine mögliche therapeutische Beeinflussung eines Suchtgedächtnisses von erheblicher Bedeutung sein. Die etablierten Therapieangebote der Suchtmedizin versuchen eine angenommene und je nach theoretischem Hintergrund un- terschiedliche Grundstörung zu behandeln, zielen auf ein verbessertes Coping, beeinflus- sen aber kaum die zugrunde liegenden Mechanismen der Abhängigkeit sui generis. Eine tiefgreifende Veränderung der Abhängigkeit ist somit nicht zu erwarten. Vielmehr liegt die Abhängigkeit beständig „auf der Lauer“ (Böning 2001b). Eine Aktivierung des Suchtge- dächtnisses wird mit dem Phänomen des Suchtdrucks, des Cravings in Verbindung ge- bracht und ist hier im Kern der Abhängigkeit, dem Verlust an Kontrolle über das eigene Verhalten, zu sehen. Die therapeutische Beeinflussung des Cravings wird aufgrund der großen Bedeutung für eine Abstinenz zum Beispiel bei Alkoholabhängigen intensiv er- forscht. Bisher wurden vordringlich medikamentöse Strategien untersucht. Obwohl hier ei- nige Fortschritte erreicht wurden (Böning 1999; Croissant 2004; Croissant, Scherle et al.

2004 (b)), können die vorliegenden Ergebnisse noch nicht zufrieden stellen (Wiesbeck, Weijers et al. 1999; Wiesbeck, Weijers et al. 2000; Böning 2001; Schmidt, Kuhn et al. 2002;

Körkel and Schindler 2003). Zudem ist in Anbetracht des Leib-Seele-Dualismus ein psycho- therapeutischer Ansatz zur Ergänzung der medikamentösen Anti-Craving-Behandlung wünschenswert. Dabei ist in Anbetracht des intensiven Leidens abhängiger Menschen und der sozioökonomischen Belastung durch Abhängigkeitserkrankungen eine Effektivierung der Therapie von großer Wichtigkeit.

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(EMDR) zählt mittlerweile zu den gut untersuchten Methoden der speziellen Psychotrau- matherapie und ihre Wirksamkeit kann als gesichert gelten (Van Etten and Taylor 1998;

Foa 2000; Sack, Lempa et al. 2001; Maxfield 2002; Power, McGoldrick et al. 2002; Roth- baum, Astin et al. 2005). Wenn auch der Wirkmechanismus der EMDR-Methode noch nicht abschließend aufgeklärt werden konnte, finden sich Daten, die die theoretische Grundan- nahme des Krankheitsmodells der EMDR-Methode - das Modell der Adaptiven Informati- onsverarbeitung - stützen (Wilson, Tinker et al. 1997; Shapiro 2001; Shapiro 2002; Shapiro and Maxfield 2002). In diesem Krankheitsmodell der EMDR-Methode wird eine maladapti- ve, nicht verarbeitete Erinnerung, als Motor der Symptomatik gesehen. Hinweise auf die Wirksamkeit der EMDR-Methode nicht nur in der Behandlung der Posttraumatischen Be- lastungsstörung, also an traumatischer, überwiegend impliziter Erinnerung, sondern auch bei der Bearbeitung des Schmerzgedächtnisses bei Phantomschmerzpatienten (Wilson, Tinker et al. 1997; Wilson, Becker et al. 2000) legen den Versuch einer Anwendung auf andere maladaptive, vorwiegend implizite Gedächtnisformen nahe.

Unter der Annahme, dass auch das Suchtgedächtnis eine maladaptive Gedächtnisform darstellt, kann ein Versuch der Bearbeitung mit der Methode Eye Movement Desensitizati- on and Reprocessing zu einer Veränderung führen. Die vorliegende Arbeit hat sich so zum Ziel gesetzt, die Diskussion um das Suchtgedächtnis (Heyne, May et al. 2000; Böning 2001; Spanagel 2001) durch einen Behandlungsversuch bei alkoholabhängigen Menschen zu erweitern.

Mit einem Überblick über die vorliegenden Forschungsergebnisse zu der psychotherapeuti- schen Methode Eye Movement Desensitization and Reprocessing (EMDR) wird der thera- peutische Kontext der Arbeit dargestellt (Kapitel 2). Es folgt eine Darstellung von Theorie und Therapie der Alkoholabhängigkeit (Kapitel 3). Tiermodelle der Alkoholabhängigkeit und neurobiologische Befunde der Alkoholabhängigkeit werden dargestellt, um die Annahme der Existenz eines Suchtgedächtnisses darzulegen (Kapitel 4). Hieraus ergeben sich die Hypothesen für eine empirische Studie zur psychotherapeutischen Beeinflussung des Suchtgedächtnisses unter Anwendung der EMDR-Methode. Methodik und Ergebnisse die- ser Studie werden in den folgenden Kapiteln dargestellt. Abschließend werden die Befunde dieser Studie kritisch diskutiert. Die mögliche Bedeutung für die Behandlung alkoholabhän- giger Menschen wird diskutiert.

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2. Eye Movement Desensitization and Reprocessing (EMDR)

Eye Movement Desensitization and Reprocessing (EMDR) ist eine junge, aber mittlerweile etablierte Methode in der speziellen Psychotraumatherapie, genauer gesagt, eine Methode zur Behandlung der posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS). Sie wurde von der amerikanischen Psychologin Francine Shapiro (Shapiro 1989) aus einer zufälligen Beobachtung der entlastenden Wirkung horizontaler, sakkadischer Augenbewegungen heraus entwickelt. Der Name „Eye Movement De- sensitization and Reprocessing“ heißt wörtlich übersetzt „Augenbewegungs- Desensibilisierung und Neuverarbeitung“ (von Information) und leitet sich von der ursprünglichen Stimulationsform der Augenbewegungen her ab. Es handelt sich um eine psychotherapeutische Methode, bei der durch bilaterale Stimulation oder dual fokussierte Aufmerksamkeit die Verarbeitung traumatisch erlebter, maladaptiver Erfahrungen angeregt und unterstützt wird. Die EMDR-Methode folgt einem acht- phasigen Behandlungskonzept (Shapiro 2001; Shapiro 2002 (b)), das im Folgenden noch näher erläutert wird (siehe 2.2.2) Die Verarbeitung der traumatischen Erinne- rung, also Arbeit in der Vergangenheit, wird im Rahmen des so genannten Stan- dardprotokolls der EMDR-Methode durch Arbeit an Auslösereizen und Modellierung von Verhalten, also in der Gegenwart und für die Zukunft, ergänzt (Hase 2006;

Hofmann 2006; Lamprecht 2006).

2.1 Entwicklung der EMDR-Methode

Shapiro berichtete über die zufällige Entdeckung der entlastenden Wirkung horizon- taler Augenbewegungen. Ähnliches wurde schon 1964 von Antrobus und Singer im Rahmen ihrer REM-Forschung beschrieben (Antrobus, Antrobus et al. 1964), hier jedoch noch nicht in der therapeutischen Potenz gesehen. Shapiro leitete eine zu- nehmend systematische Erprobung mit Versuchspersonen und folgend auch Pati- enten, die an einer posttraumatischen Belastungsstörung litten, ein. Bei den zu Be- ginn noch spärlichen Erfahrungen mit dem therapeutischen Prozess verstand die Verhaltenstherapeutin Shapiro den Effekt zuerst als eine durch Augenbewegungen unterstützte Desensibilisierung und benannte die Methode daher Eye Movement

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Desensitization (EMD). Mit zunehmender Erfahrung wurde allerdings schnell deut- lich, dass die EMD-Methode von einer anderen Qualität als reine Desensibilisierung ist. Die assoziative Art der Veränderung, das Auftauchen bis dato unbewussten Er- innerungsmaterials, die Wirkung auch auf andere Affekte neben der Angst, legten die Annahme nahe, dass es hier zu einer Nachverarbeitung, also einer Reprozes- sierung von Erinnerungen kommt. Konsequenterweise entwickelte Shapiro aus EMD die EMDR-Methode.

2.2 Detaillierte Darstellung der EMDR-Methode

Die EMDR-Methode kann als eine gut untersuchte Therapie zur Behandlung der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) gelten (Hofmann 1999; Shapiro 2002 (b)). Die Metaanalyse von Sack et al. (Sack, Lempa et al. 2001) gibt einen Überblick über die Datenlage zum Wirksamkeitsnachweis. Die Anerkennung und Empfehlung durch internationale Fachgesellschaften und Leistungsträger zur Anwendung der EMDR-Methode in der Behandlung der PTBS liegt mittlerweile vor (Foa 2000; Flat- ten 2001; Bleich, Kotler et al. 2003; Committee 2003; CREST 2003; Sjöblom, An- dréewitch et al. 2003; INSERM 2004). Die EMDR-Methode findet bei chronischer und komplexer PTBS (Melbeck, Hase et al. 2003), wie auch akuter Traumatisierung Anwendung (Solomon 1998). Dabei beginnen erste Studien über die Anwendung bei Kindern und Adoleszenten die auch bei dieser Patientengruppe in der Praxis gesehene Wirksamkeit empirisch zu belegen (Greenwald 2000; Chemtob, Nakas- hima et al. 2002; Fernandez, Gallinari et al. 2004; de Roos, Greenwald et al. in Press; Jaberghaderi, Greenwald et al. In press). Eine Adaption der EMDR-Methode wird in der Stabilisierungsphase im Phasenmodell der Psychotraumatherapie ge- nutzt. Im Vorgehen des Ressource Development and Installation (RDI) werden bila- terale Stimuli zur Verstärkung positiven Materials genutzt. Eine kleine Studie berich- tet über positive Effekte des RDI in der Behandlung komplex traumatisierter Patien- ten (Korn and Leeds 2002).

EMDR ist eine strukturierte Methode, in der relevante Zielerinnerungen aus der Vergangenheit, der Gegenwart und traumabezogene Zukunftsängste bearbeitet

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werden. In einem acht Phasen umfassenden Behandlungsablauf wird ein konkretes Thema, z.B. eine Traumaerinnerung aufgesucht, vorbereitet, verarbeitet und in der Katamnese überprüft. Eine Besonderheit der EMDR-Methode ist die bilaterale, al- ternierende Stimulation, die in der Regel durch geleitete Augenbewegungen erfolgt.

Auch andere, auditive oder taktile bilaterale Stimuli sind möglich. Die Erinnerung verliert dadurch ihren intrusiven und emotionsgeladenen Charakter und kann zu einer ‚normalen’ Erinnerung an ein schlimmes Ereignis werden. Damit ist häufig ei- ne Reduktion der PTBS-Symptomatik verbunden. Der Veränderung des Affekts wird hierbei eine besondere Bedeutung beigemessen. EMDR ist eine komplexe Metho- de, die mehrere wirksame Elemente enthält. Insofern ist es nicht zulässig, die Me- thode auf das Element der Augenbewegungen etc. zu reduzieren. In Anbetracht der Komplexität bedarf die Anwendung der EMDR-Methode einer angemessenen Sorg- falt. Bei einer der Schwere der Störung angemessenen Behandlungsplanung und regelgerechter Anwendung ist die EMDR-Methode sicher (Hase and Hofmann 2005).

2.2.1. Adaptive Informationsverarbeitung

Um die Beobachtungen in der klinischen Anwendung der EMDR-Methode zu in- tegrieren, griff Shapiro auf Ideen aus der Informations- und Netzwerktheorie zu- rück. Psychopathologie kann hier als Ausdruck einer beeinträchtigten Informati- onsverarbeitung früherer Erfahrung verstanden werden. Die daraus folgende Er- krankung ist somit erlebnisreaktiv. Der therapeutische Zugang ist folgerichtig die Nachverarbeitung der maladaptiv gespeicherten Information. Der Königsweg ist die Reprozessierung im EMDR-Prozess. In dem so unterstützten Prozess der In- formationsverarbeitung kann eine beschleunigte Nachverarbeitung der maladapti- ven, fragmentierten Erinnerung stattfinden. Die Erinnerung verliert ihren intrusiven und affektgeladenen Charakter und kann zu einer ‚normalen’ Erinnerung an ein schlimmes Ereignis werden. Damit ist häufig eine Reduktion der Symptomatik ver- bunden. Grundlage dieser Annahme ist, dass eine maladaptive, nicht verarbeitete Erinnerung mit dem in ihr liegenden Affekt Motor der Psychopathologie ist. Da- bei postuliert Shapiro, dass im Menschen ein Adaptives Informationsverarbei-

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tungssystem (AIP) vorhanden sei, das unter normalen Umständen belastende Er- fahrung prozessiere, das heißt in den allgemeinen Sinn- und Lebenszusammen- hang unter Verarbeitung des ursprünglichen Affekts eingliedere (Shapiro and Max- field 2002). Dies bedeutet Anpassung, Entwicklung, Lernen und Homöostase. Un- ter bestimmten Umständen kommt diese Fähigkeit zum Erliegen, sodass die Erin- nerung in der rohen, affektgeladenen Form persistiert. Im EMDR dienen die Inter- ventionen des Therapeuten dazu, das Informationsverarbeitungssystem zu aktivie- ren und in einer dynamischen Form zu halten. Dann gelingt die Verarbeitung. Da- bei wird der Veränderung des Affekts eine besondere Bedeutung beigemessen.

Erst nach Verarbeitung des originären Affekts kann ein Anschluss an Netzwerke mit positivem Inhalt gelingen, der für die Eingliederung in unser übriges Wissen notwendig ist. Dabei wird eine Ähnlichkeit zum REM-Schlaf vermutet (Stickgold 2002). Ob die Augenbewegungen, bzw. die bilaterale Stimulation, im EMDR das entscheidende Agens darstellt oder eine dual fokussierte Aufmerksamkeit, kann noch nicht abschließend beurteilt werden. Verschiedene Untersuchungen zeigen nach einer Behandlung mit der EMDR-Methode eine tiefgreifende Normalisierung des PTBS-Patienten auf hormoneller und neurophysiologischer Ebene (Rauch 1996; van der Kolk, Burbridge et al. 1997; Lamprecht, Lempa et al. 1999; Heber, Kellner et al. 2002; Lansing, Amen et al. 2005). Eine Behandlung mit der EMDR- Methode scheint also geeignet zu sein, die tief im Körper liegenden Spuren des Traumas (Lamprecht 2000) zu beeinflussen.

2.2.2. Das Standardprotokoll und die acht Behandlungsphasen

Das so genannte Standardprotokoll skizziert einen Rahmen für die therapeutische Arbeit. Die Anwendung der EMDR-Methode erfordert immer die Arbeit in der Ver- gangenheit, der Gegenwart und der Zukunft. Im Bereich Vergangenheit werden die dysfunktional gespeicherten Erinnerungen reprozessiert. In der Gegenwart sind posttraumatische Albträume, Verhaltensstörungen und Auslösereize (Trigger) An- satzpunkte für EMDR. Arbeit im Bereich Zukunft dient der Veränderung des Ver- meidungsverhalten und der Entwicklung von Verhaltensalternativen. Jeweils wird dysfunktional gespeicherte, unverarbeitete Information zum Ziel der EMDR-

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Intervention. EMDR strebt bekanntlich eine Nachverarbeitung der maladaptiven In- formation an. Vorrausetzung für diese Verarbeitung ist eine zumindest ausgegliche- ne Physiologie und Neurochemie. Stress bedeutet die Verkehrung der Verhältnisse ins Gegenteil. Der Einfluss einer EMDR-Behandlung auf physiologische Parameter im Sinne einer Normalisierung des sympathiko-parasympathikotonen Gleichge- wichts ist mittlerweile dargestellt worden (Sack, Nickel et al. 2003). In der EMDR- Sitzung dient der Aufbau in der Phase der Bewertung einer Erinnerung einer gestuf- ten Aktivierung der Traumainformation. Diese wird somit im Sinne LeDouxs (LeDoux 2001) fraktioniert und möglichst schonend aktiviert, sodass keine Überflu- tung mit traumatischer Erinnerung ausgelöst wird, die unweigerlich in eine massive Stressreaktion führen würde. In der Phase der Reprozessierung dienen die bilatera- len Stimuli und der Wechsel zwischen Trauma und Gegenwart – die duale Auf- merksamkeitsfokussierung – einer Modulation der Stressantwort, sodass Verarbei- tung stattfinden kann. Hier spielt auch die technische Sicherheit und Erfahrung des Therapeuten auf der Basis der therapeutischen Beziehung eine Rolle. Patienten bringen im unterschiedlichen Ausmaß Affekttoleranz, Fähigkeiten der Selbstberuhi- gung und basale Ich-Stabilität mit ein. Auch sind die Vorerfahrungen und Erwartun- gen von Patientenseite zu berücksichtigen. Gelingt die Modulation der Stressant- wort nicht, kann es anstelle von Verarbeitung zu Überflutung und Retraumatisierung kommen.

Die Behandlung mit der EMDR-Methode ist in der Struktur klar gegliedert. Dies fin- det sich auch im Ablauf einer EMDR-Sitzung wieder. Eine idealtypische Behandlung gliedert sich in acht Phasen:

Phase 1: Vorgeschichte und Behandlungsplanung

Zunächst wird die Vorgeschichte erhoben. Dabei wird auf Traumata, die seelische Stabilität, die Ich-Stärke, die Affekttoleranz sowie die Motivation des Patienten be- sonders geachtet und die Behandlungsindikation, bzw. Kontraindikationen, geprüft.

Gemeinsam mit dem Patienten wird ein Behandlungsplan erstellt, in dem die Durcharbeitung traumatischer Erinnerung oder anderer traumaassoziierter Sym- ptome einen integralen Bestandteil darstellt.

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Phase 2: Vorbereitung des Patienten

Der Patient wird über die Methode EMDR aufgeklärt und, wenn nötig, durch Ent- spannungstechniken oder imaginative Verfahren, gegebenenfalls auch durch Medi- kamente zunächst ausreichend stabilisiert.

Phase 3: Bewertung des Traumas

In dieser Phase wird die zu bearbeitende dysfunktionale Erinnerung in ihren senso- rischen, kognitiven und affektiven Komponenten angesprochen. Dabei führt das gesteuerte und fraktionierte Ansprechen von Teilnetzwerken im Sinne LeDouxs zur Aktivierung der gesamten Erinnerung. Der gezielte Wechsel zwischen der Aktivie- rung kortikaler Reflexion und der Fokussierung auf den traumatischen Affekt hilft dabei eine Überflutung des Patienten mit belastenden Gefühlen zu verhindern. Eine Benennung der Körperlokalisation der Belastung zentriert den Prozess vor dem Ü- bergang in die Phase der Durcharbeitung.

Phase 4: Durcharbeitung

Ist die Erinnerung beim Patienten aktiviert, bietet der Therapeut – meist über Au- genbewegungen – eine bilaterale Stimulation an. Hierdurch wird die duale Aufmerk- samkeitsfokussierung hergestellt. Von diesem Zeitpunkt an läuft der Prozess eigen- dynamisch und individuell – der Therapeut dosiert die Serien bilateraler Stimulation anhand der Rückmeldung des Patienten. In der Phase reagiert der Patient zumeist mit einer schnellen Folge zum Teil intensiver, wechselnder sensorischer Eindrücke, Affekte und Gedanken. Die dadurch angestoßene Verarbeitung führt in der Regel zu einer spürbaren Entlastung des Patienten.

Phase 5: Verankerung

Nachdem der emotionale Druck des Traumas in Phase 4 ausreichend abgenom- men hat, wird die in Phase 3 erarbeitete, oder eine nach dem Verarbeitungsprozess korrigierte positive Kognition in Erinnerung gerufen und überprüft. Ebenso wie nega- tive traumatische Empfindungen durch bilaterale Stimulation abgeschwächt werden, wird diese positive Kognition durch bilaterale Stimulation verstärkt und scheint da- durch nachhaltiger aufgenommen zu werden.

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Phase 6: Körper-Test

Im Körper-Test wird nach eventuell persistierenden sensorischen Erinnerungsfrag- menten (‚Körpererinnerungen’) des Traumas gesucht und diese werden, wenn nö- tig, unter Hilfe bilateraler Stimulation reprozessiert.

Phase 7: Abschluss

Abschließend wird die häufig für den Patienten sehr eindrückliche Erfahrung nach- besprochen. Sollte die dysfunktionale Information nicht komplett durchgearbeitet worden sein oder frisches Material auftauchen, kann eine stabilisierende Arbeit hilf- reich sein. Auch werden Interventionsregeln für eine eventuelle Krise vereinbart.

Dies ist sinnvoll, weil der in der EMDR-Sitzung angestoßene Prozess nach der Sit- zung in abgeschwächter Form weiterlaufen kann. Trauma assoziiertes Material kann in Erinnerungen, Träumen, Gefühlen und Einfällen auch in der Zeit bis zur nächsten Sitzung auftauchen. Der Patient sollte auf diese Möglichkeit vorbereitet werden.

Phase 8: Nachbefragung

Diese letzte Phase findet zu Beginn der nächsten Stunde statt und zeigt nicht sel- ten z.B. durch Träume oder neu aufgetauchte Erinnerungssplitter Ansätze für die weitere Arbeit. Eventuell noch vorhandene Belastungsreste werden erneut re- prozessiert oder es werden weitere Erinnerungen bearbeitet. Auch kann eine Rückkehr zur Stabilisierung notwendig werden, falls Belastung durch auftauchen- des Traumamaterial zunimmt und die adaptiven Copingstrategien überfordert.

2.3. Indikationsstellung der EMDR-Methode

Der Indikationsbereich der EMDR-Methode umfasst die Posttraumatische Belas- tungsstörung (ICD-10: F 43.1) (Fromberger and Maercker 2006) sowie Teilsyn- drome der PTBS. Auch wenn EMDR bei anderen Traumafolgestörungen, z.B. bei chronischem Schmerz nach lang anhaltender Traumatisierung (Grant 2002) oder bei traumabedingten Angststörungen (De Jongh, van den Oord et al. 2002) erfolg- reich eingesetzt wurde, soll an dieser Stelle EMDR nur für die Indikation einer

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Posttraumatischen Belastungsstörung (ICD-10: F 43.1) genannt werden, da hierfür die breiteste empirische Evidenz vorliegt.

Die Indikation für den Einsatz von EMDR muss störungsbezogen und prozessbezogen gestellt werden. Insofern sollte EMDR im Rahmen eines umfassenden Gesamtbe- handlungsplans zur Anwendung kommen. Bei der Indikationsstellung ist der ho- hen Komorbidität zwischen PTBS und anderen psychischen Störungen Rechnung zu tragen. Die Komorbiditätsraten mit anderen psychischen Störungen liegen zwi- schen 62% (Davidson, Hughes et al. 1991) und 92% (Shore, Vollmer et al. 1989;

Yehuda and McFarlane 1995). In der Untersuchung von (Perkonigg, Kessler et al.

2000) wurde bei 87,5% der PTBS-Patienten mindestens eine weitere psychische Störung diagnostiziert. Die häufigsten komorbiden Störungen sind Angststörun- gen, depressive Störungen, somatoforme Störungen, dissoziative Störungen, Suchterkrankungen und die Borderline-Persönlichkeitsstörung (Driessen, Beblo et al. 2002; Flatten 2003).

2.3.1. Aus dem Modell der Adaptiven Informationsverarbeitung abgeleitete Indika- tionen

Die Posttraumatische Belastungsstörung ist gleichsam Prototyp einer solchen In- formationsverarbeitungsstörung und die Anwendung der EMDR-Methode hier Pro- totyp einer störungsspezifischen Behandlung. Zur Überprüfung der Theorie der adaptiven Informationsverarbeitung wurde diese auf den Phantomschmerz ange- wandt. Der erlebte Phantomschmerz kann als Manifestation einer dysfunktional gespeicherten, unverarbeiteten Erinnerung angesehen werden, denn der Fuß, der schmerzt, ist ja physikalisch nicht mehr vorhanden. In einer Behandlungsstudie konnten Tinker und Wilson bei 75% der von ihnen mit EMDR behandelten Phan- tomschmerzpatienten eine komplette Remission erreichen und somit die Theorie stützen (Wilson, Tinker et al. 1997; Tinker 2000). In einer weiteren Studie versuch- ten Tinker und Wilson die klinisch beobachtete Veränderung mittels der Magne- tenzephalographie darzustellen (Wilson, Becker et al. 2000). Bei den zwei behan- delten und untersuchten Patienten zeigten sich Zeichen einer kortikalen Reorgani-

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sation. Die Studie blieb jedoch unvollendet, sodass die vorläufigen Ergebnisse mit Zurückhaltung interpretiert werden müssen. Brown und McGoldrick behandelten eine Gruppe von Patienten, die unter der körperdysmorphen Störung litten, mit der EMDR-Methode (Brown, McGoldrick et al. 1997). Im Ergebnis zeigte sich eine deutliche Verbesserung der Symptomatik bei sechs der insgesamt sieben behan- delten Patienten.

2.4 EMDR-Varianten in der Behandlung von Substanz-Abhängigkeit

Früh in der Entwicklung der EMDR-Methode hat Shapiro (1994) auf die Möglich- keit der Behandlung Abhängiger hingewiesen, wobei zuerst die Komorbidität der Posttraumatischen Belastungsstörung und der Abhängigkeit im Vordergrund stand.

In der Folge haben sich verschiedene Modifikationen der „klassischen“ EMDR- Methode entwicklet. So wird in der EMDR-Literatur auf die Möglichkeit einer Ver- arbeitung von Triggerreizen für Substanzkonsum hingewiesen. Dieser, aus der Traumatherapie abgeleitete Ansatz, vermag die Wirkkraft von Triggerreizen zu reduzieren und unterstützt die Abstinenzabsicht (Popky 2005). Vogelmann-Sine et.al. (1998) haben ein Manual zur EMDR-Behandlung der stoffgebundenen Ab- hängigkeit vorgelegt. Hier wird durch die Arbeit an Triggerreizen für Suchtdruck der störungsspezifische Ansatz eingeführt. Der traumabezogene Ansatz findet sich in der Durcharbeitung traumaassoziierter Erinnerungen und aktueller Lebens- belastung. Das hier empfohlene Changieren zwischen Arbeit an Triggerreizen und Traumamaterial macht das Vorgehen m.E. allerdings etwas unübersichtlich und kann bei komplexer traumatisierten Patienten zu kumulierender Belastung führen.

Die von den Autoren geforderte längere Abstinenz vor Beginn der Arbeit scheint für die Behandlung einer größeren Gruppe von Abhängigen ein Hindernis. Mögli- cherweise bildet sich ein Unterschied in der US-amerikanischen Versorgungsreali- tät ab. Schwerer Erkrankte, im Sinne der chronisch-mehrfach geschädigten Ab- hängigen, fallen dort aus der Versorgung heraus und werden so in der Entwick- lung therapeutischer Angebote weniger berücksichtigt. Daten zur Anwendung des

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Manuals liegen bislang nicht vor.

Eine weitere methodische Variante ist der ‚Chemotion’-Ansatz (Omaha 2000).

Omaha kombiniert Elemente des EMDR mit Techniken der Gestalttherapie. In sei- ne Überlegungen vermutet er eine Bedeutung einen Sinn hinter der Abhängig- keit. Die Droge weise z.B. auf traumatische Erfahrung hin. Dabei wird er in seiner Terminologie, man nehme exemplarisch den Begriff ‚Traumaphor’, der das vordem Gesagte beinhaltet, allerdings sehr speziell. Insgesamt weist Chemotion mehr Un- terschiede als Gemeinsamkeiten mit der EMDR-Methode auf.

Cecerol und Caroll haben einen Bericht über ihre Erfahrungen in der Behandlung Kokainabhängiger mit EMDR vorgelegt (Cecero and Carroll 2000). In der Therapie von mit Methadon substituierten Opiatabhängigen wurde bei elf Patienten1 eine Behandlung mit EMDR versucht, um das Verlangen nach Kokain zu mindern und den Beigebrauch von Drogen zu reduzieren. Die Autoren geben an, die von Popky (1998) berichtete Vorgehensweise angewandt zu haben. Eine präzisere Beschrei- bung wird leider nicht gegeben, sodass unklar bleibt, ob vorwiegend Trigger für Substanzkonsum oder anderes Material bearbeitet wurde. Die Patienten, fünf Männer und sechs Frauen erhielten drei Sitzungen mit der EMDR-Prozedur in ei- nem Zeitraum von drei Wochen. Die Sitzungslänge wird nicht angegeben. In 48%

der Sitzungen wurde keine Veränderung des Cravings berichtet, in 40% eine Ab- nahme und in 12% eine Zunahme des Cravings. Die Patienten gaben nach allen Sitzungen an, ein Gefühl von stärkerer Kontrolle über das Verlangen zu haben.

Von den vier Patienten, die die Behandlung regulär abgeschlossen hatten, wird bei zweien eine Abnahme des Konsums von Kokain berichtet, bei einem keine Veränderung und bei einem Patienten eine Zunahme des Konsums. Die Autoren kommen zu dem Ergebnis, dass die Anwendung der EMDR-Methode zu keinem deutlichen Ergebnis führt und daher die Möglichkeit für eine Anwendung beim Craving nach Kokain von begrenztem Wert sei. Diese Schlussfolgerung greift m.E.

zu kurz: Bedauerlicherweise legen die Autoren ihre genaue Vorgehensweise nicht dar. Der Konsum und Beikonsum der Patienten wird nicht näher dargelegt. Auch bleibt unklar, inwieweit die Behandler mit der Anwendung der EMDR-Methode ver-

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traut waren. Zudem werden die Ergebnisse sehr kursorisch dargestellt.

2.5. Zusammenfassung

Eye Movement Desensitization and Reprocessing (EMDR) ist eine mittlerweile etablierte Methode in der Behandlung der Posttraumatischen Belastungsstörung.

Die EMDR-Methode hat ihren Schwerpunkt in der Durcharbeitung traumatischer Erinnerungen und anderer traumaassoziierter Symptome. Dazu zählen zum Bei- spiel Auslösereize oder aktuelle Verhaltensstörungen, die auf einer Traumaerfah- rung basieren. Der Anwendung liegt ein Manual zu Grunde. Das manualisierte Vorgehen unterstützt den Umgang mit der strukturierten Anwendung der EMDR- Methode. Die Wirkungsweise der EMDR-Methode ist derzeit noch nicht völlig ge- klärt. Bei korrekter Anwendung kann die EMDR-Methode allerdings als sichere Therapie für Erwachsene, Jugendliche und Kinder gelten.

Neben der Behandlung der Posttraumatischen Belastungsstörung liegen erste Daten zur Anwendung bei Phobien, Phantomschmerz und der körperdysmorphen Störung vor. Die Grundlage dieser experimentellen Anwendung der EMDR- Methode lässt sich aus dem eigenen Krankheitsmodell und der damit verbunde- nen Theorie, dem Modell der Adaptiven Informationsverarbeitung, ableiten. Be- richte liegen zum Einsatz bei der Substanzabhängigkeit vor. Hier zielt der Einsatz der EMDR-Methode zum einen auf die Bearbeitung traumatischen Erinnerungs- materials, um damit den Symptomdruck und somit das Risiko für Substanzkonsum zu mindern. Zum anderen wird eine direkte Bearbeitung von Auslösereizen für Verlangen nach der Droge mit dem Ziel der Minderung dieses Verlangen versucht.

Daten aus kontrollierten Studien wurden bisher nicht vorgelegt.

1Auch wenn ich grammatikalisch nur die männliche Form verwende, meine ich doch immer Menschen beiderlei Geschlechts.

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3. Theorie und Therapie der Alkoholabhängigkeit

Folgt man der ICD-10 der WHO sind der Kontrollverlust und das unstillbare Ver- langen nach dem Alkohol Kern der Alkoholabhängigkeit. Das körperliche Abhän- gigkeitssyndrom kann hinzukommen. In Deutschland sind etwa 3% der Bevölke- rung abhängig. Die Komorbidität mit weiteren psychiatrischen Erkrankungen wie Angststörungen, Depression, Posttraumatischer Belastungsstörung und bestimm- ten Formen der Persönlichkeitsstörungen ist erheblich. Die Folgen der Alkoholab- hängigkeit sind massiv. Unbehandelt haben Alkoholabhängige eine um etwa 15 Jahre verkürzte Lebenserwartung (Feuerlein 1996). Obwohl etablierte Therapie- programme – sowohl in der Entzugsbehandlung als auch der Rehabilitation – zur Verfügung stehen, konsumieren ein Jahr nach einer solchen Entwöhnungsbe- handlung etwas mehr als 50% der Patienten erneut Alkohol (Missel, Braukmann et al. 1997; Funke, Kluger et al. 2001). Nach einer qualifizierten Entzugsbehandlung ohne folgende Entwöhnungsbehandlung werden mehr als 80% der Patienten rück- fällig (Veltrup 1995).

3.1. Beschreibung der Alkoholabhängigkeit und ihrer Epidemiologie

In der Bundesrepublik Deutschland2 wurde die Alkoholabhängigkeit erst 1968 als Erkrankung anerkannt und die Leistungspflicht der Kranken- und Rentenversiche- rung festgeschrieben. Inzwischen ist zudem abzusehen, dass in naher Zukunft Erkrankungen, die durch Nikotin- und Alkoholmissbrauch sowie durch Umweltbe- lastung entstehen, die häufigsten Todesursachen ausmachen werden (Murray &

Lopez 1996). Eine besondere Problematik in der Bewertung von Alkoholabhängig- keit zeigt sich im Unterschied zwischen öffentlicher Meinung und Ergebnissen der Forschung, hier besonders der Neurobiologie: Während in der Öffentlichkeit die Alkoholabhängigkeit noch weitgehend als Charakterschwäche gesehen wird, zeigt sich in der aktuellen Forschung – im Tiermodell wie auch mittels bildgebender Ver- fahren – die Schwere und Tiefe der Erkrankung (Wolffgramm and Heyne 1995;

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Grüsser, Heinz et al. 2000; Braus, Wrase et al. 2001; Wrase, Grusser et al. 2002).

Verschiedene Definitionen von problematischem Trinkverhalten und unterschiedli- che Erhebungsinstrumente erschweren den Vergleich epidemiologischer Daten. In Allgemeinkrankenhäusern finden sich im internationalen Überblick 10 bis 20% al- koholkranke Patienten (Arolt, Driessen et al. 1995; Edwards 1997). In deutschen psychiatrischen Kliniken liegt die Zahl etwa zwischen 25 und 30% (Feuerlein, Küf- ner et al. 1998). Die Untersuchungen mit standardisierten und diagnosebezoge- nen Instrumenten fanden in einer bundesdeutschen repräsentativen Gesamtstich- probe bei 3% aller Befragten ausreichend Hinweise, um eine Diagnose der Alko- holabhängigkeit nach dem DSM-IV stellen zu können. In ihrer gesellschaftlichen Haltung muss die Bundesrepublik als alkohol-permissiv beschrieben werden (Tretter 2000). In der alkohol-permissiven Gesellschaft fällt die Abgrenzung zwi- schen sozial akzeptiertem Trinken, schädlichem Gebrauch und Abhängigkeit durchaus schwer.

3.1.1 Definition von Alkoholabhängigkeit

In der Definition der Abhängigkeit der Weltgesundheitsorganisation (Dilling, Mom- bour et al. 1994) bildet der starke Wunsch oder Zwang die Droge zu konsumieren, auch als Craving bezeichnet, zusammen mit der verminderten Kontrolle über den Beginn, die Beendigung oder die Menge des Konsums den Kern des Abhängig- keitssyndroms. Bezogen auf die Alkoholabhängigkeit findet sich dies in den dia- gnostischen Kriterien der Alkoholabhängigkeit gemäß der ICD-10 wieder (Dilling, Mombour et al. 1991). Toleranzentwicklung, ein körperliches Entzugssyndrom, zunehmende Vernachlässigung anderer Interessen zugunsten des Konsums und anhaltender Konsum, trotz des Nachweises eindeutig schädlicher Folgen (körper- lich, sozial oder psychisch), ergänzen die diagnostischen Kriterien. Die diagnosti- schen Kriterien des DSM-IV entsprechen denen der ICD-10 (American Psychiatric Association 1987).

Eine körperliche Abhängigkeit liegt vor, wenn sich nach Absetzen der Droge, hier

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des Alkohols, ein typisches Entzugssyndrom ausbildet. Innere Unruhe, Schlafstö- rung, ausgeprägte Verstimmung, Schreckhaftigkeit, Angst, Schwitzen, Erbrechen oder Durchfall kennzeichnen das klinische Bild. Treten zu dieser psychomotori- schen Unruhe und den vegetativen Zeichen noch zeitliche Orientierungsstörungen und optische Halluzinationen hinzu, so handelt es sich um ein Delirium Tremens (DT). Das DT wird oftmals von Entzugskrampfanfällen eingeleitet oder begleitet.

Die Letalität liegt unbehandelt bei etwa 30%. Das vegetative Alkoholentzugssyn- drom ist Folge der stürmischen Gegenregulation der durch andauernde Alkoholzu- fuhr kompensatorisch veränderten Neurotransmission, vorwiegend der Neu- rotransmitter Glutamat, GABA und Dopamin. Toleranzentwicklung beschreibt die Abnahme der Alkoholwirkung bei chronischer Zufuhr. Dieser liegen verschiedene Anpassungsvorgänge zugrunde. Hier sind der verstärkte Alkoholabbau in der Darmschleimhaut wie auch Anpassungsvorgänge am Neuron zu nennen.

Die ‚psychische’ Abhängigkeit zeigt sich sui generis im Kontrollverlust und dem starken, unwiderstehlichen Verlangen, das im folgenden als Craving bezeichnet wird. Die oben genannten Verhaltenskonsequenzen sind Folgen dieses Kernge- schehens der Abhängigkeit. Die Bezeichnungen der ‚körperlichen’ und ‚psychi- schen’ Abhängigkeit spiegeln eine klare Dichotomisierung vor, die es angesichts der Dualität körperlicher Prozesse und des begleitenden Erlebens so nicht gibt.

Vielmehr liefern Ergebnisse der neurobiologischen Forschung und der Tiermodelle einen Einblick in das eng ineinander verwobene Geschehen. Alkoholbezogene Worte (Cues) führen bei Alkoholabhängigen zu einer signifikant höheren Amplitu- de der ereigniskorrelierten Potentiale als bei nicht abhängigen Probanden (Herrmann, Weijers et al. 2000). Mittels der funktionellen Kernspintomografie lässt sich zeigen, dass entsprechende Bilder (Cues), bei Alkoholabhängigen eine Akti- vierung subkortikaler, limbischer Strukturen auslösen (Olbrich, Valerius et al.

2006). Diese Aktivierung findet sich bei nicht abhängigen Versuchspersonen nicht (Wrase, Grusser et al. 2002). Bei abstinenten Alkoholabhängigen findet bei ent- sprechender Konfrontation mit alkhoholbezogenen Stimuli (cue-exposure) eine Aktivierung des G. cinguli statt (Grüsser, Heinz et al. 2000). Diese, als Konfliktma- nager funktionierende, Struktur scheint die Auseinandersetzung zwischen hem- mendem Input aus dem präfrontalen Kortex und dem süchtigen Impuls aus sub-

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kortikalen Strukturen abzubilden. Diese Befunde belegen die Aktivität auch sub- kortikaler Strukturen – eine Aktivität, die scheinbar dem bewussten Willen nicht zugänglich ist und die im Bewusstsein vermutlich als Craving erlebt wird. Die Be- deutung des Eingreifens der Droge Alkohol in die dopaminerge Neurotransmissi- on, also in die neuralen Strukturen, die als Belohnungssystem bezeichnet werden, ist hinreichend nachgewiesen (Heinz, Siessmeier et al. 2004).

3.1.2 Diagnostik der Alkoholabhängigkeit

Die Diagnostik der Alkoholabhängigkeit ist aus den oben genannten Gründen – z.B. der Einstellung zum Alkohol in einer Permissivkultur – nicht einfach. Die For- mulierung reliabler Kategorien in den Klassifikations- und Diagnosesystemen ICD- 10 und DSM-IV erleichtert die Diagnostik. Zudem wurden Fragebogentests entwi- ckelt und validiert, die wertvolle bzw. diagnostische Hilfsmittel darstellen. Als Bei- spiel für Screeninginstrumente sei der Lübecker Alkoholismus-Screening-Test (LAST) (Rumpf, Hapke et al. 1997), als Beispiel für diagnostische Hilfsmittel der Münchner Alkoholismus-Test (MALT) genannt (Feuerlein, Küfner et al. 1979). Al- koholspezifische Laborparameter, wie die Gamma-Glutamyl-Transferase (Gam- ma-GT) oder das Carbohydrate-deficient-transferrin (CDT), können zur Unterstüt- zung der Diagnostik herangezogen werden. Die verschiedenen biologischen Mar- ker weisen jedoch alle unterschiedliche Schwächen auf. In einer Kombination ver- schiedener Marker, z.B. der Gamma-GT und des mittleren korpuskulären Volu- mens der Erythrozyten (MCV), lässt sich die diagnostische Sicherheit erhöhen, da hier verschiedene, jeweils durch den Alkohol geschädigte Organsysteme erfasst werden. Basis der Diagnostik und Königsweg zur Diagnose sind jedoch das ärztli- che Gespräch und die Erhebung des psychopathologischen und körperlichen Be- fundes. Dabei ist es sehr sinnvoll eine Fremdanamnese einzubeziehen. Die Dia- gnostik sollte in jedem Fall eine Einordnung in den Phasenablauf der Störung er- möglichen. Das ärztliche Gespräch kann zudem als klärende und motivierende Intervention – im Sinne der ‚motivierenden Gesprächsführung’ (Miller und Rollnik 1999) – den Einstieg in die Behandlung der Alkoholabhängigkeit ermöglichen. Ins- gesamt dient die Einordnung in eine Phase der Auswahl phasenspezifischer Inter-

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ventionen. Die Diagnostik dient auch der Erfassung der psychiatrischen Komorbi- dität. Diese wird jedoch durch verschiedene Faktoren erschwert. Psychische Stö- rungen können sich sekundär, als direkte Folge der Alkoholabhängigkeit entwi- ckeln und im Rausch oder im Entzug auftreten. Sie sind dann als substanzindu- zierte Störungen einzuordnen und die Störung der Alkoholabhängigkeit ist primär.

Allerdings können der Alkoholabhängigkeit auch andere psychische Störungen vorausgehen, die den Konsum zumindest mitbedingen oder interagieren. Die di- rekten und indirekten Auswirkungen des Alkohols im Rausch, im Entzug oder in der Postentzugsphase können verschiedene psychische Störungen imitieren, wie z.B. Depression oder Angststörungen. Dies macht die Einschätzung außerordent- lich schwierig und fordert eine genau angesetzte prospektive Forschung. Dabei ist zu berücksichtigen, dass eine deutliche Komorbidität von PTBS und Abhängigkeit besteht (Breslau, Davis et al. 2003). Diese Verbindung ist von Bedeutung für die Entstehung, wie auch für den Verlauf der beiden Erkrankungen. So wird die ko- morbide PTBS im Entzug instabil. Dadurch werden Entzugssituationen für den Patienten belastender. Dies bedarf einer entsprechenden psychopharmakologi- schen Behandlung. Andererseits bedeutet die PTBS mit ihrem Symptomdruck evtl.

ein Risiko für weiteren Substanzkonsum (Hase 2003).

3.1.3 Typisierung der Alkoholabhängigkeit

Immer wieder wurde der Versuch einer Typisierung der Verläufe der Alkoholab- hängigkeit und hiermit auch der betroffenen Menschen unternommen. Unter ei- nem Typus versteht man die Kombination von überdauernden Merkmalen oder Konsummustern eines Abhängigen, die eventuell eine Aussage über das klinische Bild oder eine Verlaufsprognose ermöglichen. Von großer klinischer Bedeutung war die Einteilung von Jellinek (Jellinek 1946; Jellinek 1960). Jellinek unterschied den Gamma-Alkoholiker (vorwiegend kontrollverlustartiges Trinken mit häufigen Räuschen) vom Delta-Alkoholiker (konstant hoher Alkoholkonsum, Spiegeltrinker, körperliche Abhängigkeit im Vordergrund). Als Epsilon-Typ bezeichnete Jellinek einen Trinktyp mit periodischen Alkoholexzessen unterbrochen von Abstinenz (Quartalssäufer). Mit Alpha- und Beta-Typ werden nicht abhängige Gelegenheits-

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trinker bezeichnet. Unter den jüngeren Typologien kommt den Vorschlägen von Cloninger (Cloninger, Bohmann et al. 1981) die größte Bedeutung zu. In dieser Typologie werden zwei Typen unterschieden. Der Typ 1 mit spätem Krankheitsbe- ginn, geringer familiärer Belastung, ohne Geschlechtspräferenz und mit besserer Prognose wird dem Typ 2 mit Beginn der Abhängigkeit vor dem 25. Lebensjahr, klarem Überwiegen des männlichen Geschlechts, erhöhter familiärer Belastung, vermehrtem Auftreten von Zügen der antisozialen Persönlichkeitsstörung und ei- ner schlechteren Prognose gegenüber gestellt.

3.1.4 Verlauf der Alkoholabhängigkeit

Der Verlauf der Alkoholabhängigkeit bedarf besonderer Beachtung: Eine Untersu- chung an der Psychiatrischen Universitätsklinik Tübingen erbrachte das Ergebnis, dass von 94 Patienten nach 16 Jahren 27 verstorben waren und fast alle an den Folgen ihres Alkoholkonsums (Längle, Mann et al. 1993; Schäfer 1996). Edwards berichtete, dass 44% der Patienten 20 Jahre nach ihrer Erstbehandlung gestorben waren. Die Mortalität war um das 3,6fache gesteigert (Edwards 1996). Ähnliche Daten werden aus den USA berichtet (Vaillant 1996). Feuerlein geht davon aus, dass die Lebenserwartung Alkoholabhängiger um mindestens 15 Jahre verkürzt ist (Feuerlein 1996). Dabei sterben 15% dieser Gruppe an Suiziden.

Neben der oben genannten rein deskriptiven Betrachtungsweise erscheint es sinn einen mehr am Inhalt orientierten phasenhaften Verlauf zu beschreiben: Abhängi- ge durchlaufen Stufen der Verhaltensveränderung (Prochaska, DiClemente et al.

1985; Prochaska, DiClemente et al. 1992). Auf das Stadium der Vorbesinnung folgt das Stadium der Besinnung, in dem eine reflektiertere Position zur Abhängig- keit bezogen wird. Im folgenden Stadium der Entscheidung wird die Weiche in Richtung der Veränderung des Verhaltens gestellt. Danach wird die Veränderung geplant (Stadium der Veränderung), bevor im Stadium der Handlung konkrete Schritte Richtung Reduktion des Konsums oder Abstinenz unternommen werden.

Im Stadium der Stabilisierung wird das bisher Erreichte gefestigt. Im Idealfall schließt sich das Stadium der Beendigung mit definitivem Ausstieg aus der Ab-

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hängigkeit an. Die phasenhafte Abfolge der Verhaltensänderung ist zyklisch zu sehen. Wie bekannt, kann es in jedem Stadium zum Rückfall in den Konsum kommen. Aus dem Rückfall kann der Abhängige erneut in das Stadium der Besin- nung eintreten und den Zyklus erneut durchlaufen. Es entspricht der therapeuti- schen Erfahrung, dass Abhängige mehrfach Verhaltensveränderungen beginnen, bevor eine längere Phase der Stabilisierung oder auch der Ausstieg aus der Ab- hängigkeit gelingt. Auch Sporn hat aus psychoanalytischer Sicht ein Konzept des phasenhaften Ablaufs vorgelegt, dass handlungsleitend für die Auswahl therapeu- tischer Interventionen ist (Sporn 2005).

3.2. Behandlung der Alkoholabhängigkeit

Grundsätzlich ist eine Behandlung im Verbundsystem der Suchtkrankenhilfe sinn- voll. Die Vielschichtigkeit der Alkoholabhängigkeit und der ausgeprägte Verlaufs- charakter mit abgrenzbaren Phasen legen dies nahe. Die Auffächerung der Ange- bote im Verbund des Suchtkrankenhilfesystems erhöht auch die Wahrscheinlich- keit einer Kontaktaufnahme. So wird der erste Kontakt oftmals über Hausärzte hergestellt. Hier ist es günstig, wenn über eine Qualifikation im Gebiet der sucht- medizinischen Versorgung besondere Kompetenz in Diagnostik und Beratung zur Verfügung stehen. Die Suchtberatungsstellen leisten hier ebenfalls einen ent- scheidenen Beitrag. Insgesamt ist aber zu bedenken, dass gerade bei der Alko- holabhängigkeit unter Berücksichtigung von Phase und führendem klinischen Syndrom ganz unterschiedliche Interventionen notwendig sind.

Im Erstkontakt mit dem Alkoholabhängigen ist Information und Unterstützung bei der Standortklärung wichtig. In dem vegetativen Alkoholentzugssyndrom (VAES) ist eine spezifische somatische und medikamentöse Strategie unbedingt ange- zeigt. Nach Abklingen des VAES schließt sich eine multimodale Behandlung an, die eine Festigung der Motivation zur Abstinenz und Inanspruchnahme weiterer Maßnahmen und Hilfen zum Ziel hat. Dieses Bündel von Interventionen ist unter dem Namen der qualifizierten Entgiftung schon 1997 von Stetter ausführlich be- schrieben worden (Stetter and Mann 1997). Die qualifizierte Entgiftung hat sich in

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der Praxis bewährt und wird durch entsprechende Ergebnisse der Forschung ge- stützt. Zur Abgrenzung gegenüber der rein körperlichen Entgiftung wurde der Terminus ‚qualifizierte Entzugsbehandlung’ vorgeschlagen, den ich im folgenden benutzen werde (Fleischmann 2001; Mann and Stetter 2002). Das Behandlungs- angebot der qualifizierten Entzugsbehandlung enthält neben der somatischen Be- handlung des VAES und somatischen Behandlung von Alkoholfolgeschäden Psy- choedukation, Einzel- und Gruppenpsychotherapie und ergänzende Angebote wie z.B. Entspannungstraining. In der Technik der Gesprächsführung hat sich das Mo- tivational Interviewing (Miller and Rollnick 1999) durchgesetzt. In der qualifizierten Entzugsbehandlung spielen die Kontaktanbahnung und die Vermittlung in Struktu- ren des Suchthilfesystems eine bedeutsame Rolle. Neben der Vermittlung in eine notwendige weiterführende Behandlung ist der Kontakt zu einer Selbsthilfegruppe von großer Bedeutung. Die qualifizierte Entzugsbehandlung ist in ihrer Dauer be- grenzt. Dies ist im Wesentlichen durch Entscheidungen der Kostenträger, hier der Krankenversicherung, bedingt. Die qualifizierte Entzugsbehandlung stellt den ge- genwärtigen Stand der Heilkunst für diesen Bereich der Behandlung der Alkohol- abhängigkeit dar und ist in der Regel ein Angebot der spezialisierten Einheiten der Versorgungspsychiatrie. Diese Behandlung ist sowohl ambulant, teilstationär wie auch vollstationär zu führen. Allerdings setzt hier die Schwere des VAES – mit seinen Komplikationen hinsichtlich der ambulanten oder teilstationären Behand- lung – eine Grenze. Trotz des erheblichen Aufwandes werden nach einer qualifi- zierten Entzugsbehandlung über 80% der Patienten im ersten Jahr rückfällig.

Aufgrund der nur begrenzt sinnvollen Aufgaben- und Kostenteilung wird die weite- re Behandlung Alkoholabhängiger zu Lasten der Rentenversicherung im Rahmen der Rehabilitation, auch Entwöhnung genannt, durchgeführt. Auch hier sind ambu- lante, ganztags-ambulante und vollstationäre Angebote zu finden. In der Entwöh- nung zielt die Behandlung auf eine gefestigte innere Haltung zur Abstinenz und ein adaptives Coping mit der Abhängigkeit. Auch hier wird auf den Phasenablauf der Erkrankung geachtet. Je nach therapeutischer Schule wird der Behandlung einer vorausgesetzten Grundstörung oder einer Arbeit am süchtigen Verhalten der Vorrang gegeben (Sporn 2002). Sicher kann heute keine Behandlung auf sucht- spezifische Interventionen verzichten. Ein wichtiger Inhalt der Entwöhnungsbe-

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handlung ist neben der Vermittlung einer verbesserten Verhaltenskontrolle auch die Begleitung des Patienten auf der Suche nach einem Ersatz für das süchtige Verhalten. Hier sind erlebnisorientierte Angebote, ausdruckszentrierte Therapie, Sport, aber auch Arbeitstherapie bzw. Arbeitsrehabilitation zu nennen. Der Ko- morbidität oder besonderen Problematik, z.B. geschlechtsspezifischer Art, wird in besonderen Indikativgruppen Rechnung getragen. Ausgeprägte Komorbidität – wie z.B. die von PTBS und Abhängigkeit oder die von Abhängigkeit und schizo- phrener Psychose – bedarf durchaus der Einrichtung eines hochspezialisierten, dualen Behandlungssettings. Diese Angebote sind allerdings selten zu finden. Die angemessene Behandlung der Komorbidität stellt demnach teilweise noch ein Problem dar. Gelegentlich wird die notwendige Pharmakotherapie der komorbiden Störung unter dem Verweis auf eine Freiheit von jeglichen Drogen unterlassen, was an der Behandlungsrealität zumeist vorbei geht.

Die Entwöhnungsbehandlung wird mit großer zeitlicher Flexibilität abhängig vom Setting stationär, ganztags-ambulant oder ambulant angeboten. Die mittlere Dauer einer stationären Entwöhnungsbehandlung beträgt etwa 90 Tage (Sonntag and Künzel 2000) und die Tendenz zu einer Verkürzung der Behandlungszeiten ist nicht zu übersehen. Ein Jahr nach einer stationären Entwöhnungsbehandlung sind noch etwas weniger als 50% der Patienten abstinent. Die ambulante Entwöh- nungsbehandlung dauert in der Regel mehrere Monate an (Arend 1994). Die Pa- tienten können in ihren sozialen Bezügen verbleiben. Hier werden Abstinenzraten von bis zu 73% im Mittel 28 Monate nach der Behandlung berichtet (Wiesheu 2002). Ob dies auf die relativ lange Zeit im therapeutischem Rahmen oder einen Selektionseffekt – die weniger schwer Erkrankten befinden sich in ambulanter Entwöhnung – zurück geführt werden kann, ist noch nicht geklärt (Körkel and Schindler 2003).

Einrichtungen und Angebote zur Vorbereitung auf eine Entwöhnungsbehandlung und zur Reintegration nach dieser Behandlung runden das Angebot ab. Die Tat- sache, dass noch ein erheblicher Teil der Patienten nach einer Langzeitbehand- lung rückfällig wird, führte zu der Einrichtung einer Festigungsbehandlung im rela- tiv fixen zeitlichen Anschluss an eine Entwöhnung. Zu erwähnen sind auch Über-

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gangs- und Dauerwohnheime für chronisch mehrfach geschädigte Abhängige, die im konventionellen Behandlungs- und Entwöhnungsangebot ausbehandelt sind.

Zum Schluss der kurzen Darstellung ist das Angebot der Selbsthilfegruppen zu erwähnen. Diese bieten mittlerweile in ausdifferenzierter Weise unterschiedliche Arten der Unterstützung an. Die Integration in eine Selbsthilfegruppe ist für den Alkoholabhängigen von großem Gewinn. Die Abstinenzrate kann durch Anbindung an eine Selbsthilfegruppe erhöht werden (Küfner, Feuerlein et al. 1988).

Die medikamentöse Unterstützung der erreichten Abstinenz erlangt zunehmende Bedeutung. Die Aversionstherapie mit Disulfiram ist allerdings, vorwiegend wegen ihrer potentiell schweren Nebenwirkungen, umstritten (Blanc and Daeppen 2005).

Zudem ist der in Frage kommende Personenkreis sehr klein, da unbedingte Absti- nenzmotivation und eine hohe Compliance notwendig sind. Auch ist der therapeu- tische Nutzen umstritten (Soyka 1997). Auf weitere Optionen der medikamentösen Beeinflussung des Cravings wird später eingegangen (3.4.).

3.3. Psychotherapeutische Ansätze zur Behandlung der Alkoholabhängigkeit

In der bundesdeutschen Versorgungslandschaft findet sich eine bemerkenswerte Vielfalt von Angeboten. Im Wesentlichen lassen sich die bestehenden Therapie- angebote von der psychodynamischen und humanistischen Vorgehensweise ab- leiten. Behaviorale Programme gewinnen langsam an Boden. Systemische Ansät- ze werden in der Literatur beschrieben, dürften jedoch in der Versorgungspraxis eine geringe Rolle spielen (Rist 2000). Dabei hat jede der großen Therapieschulen ein eigenes theoretisches Verständnis, natürlich auf dem Boden der eigenen Schule, und damit verbunden einen eigenen Sprachduktus entwickelt. Auf jenem Boden werden die Eigenarten der jeweiligen Angebote verständlich.

Vor dem Hintergrund der historischen Entwicklung erscheint es verständlich, dass die Psychoanalyse der Abhängigkeit weiterhin Theorie und Praxis der Behandlung maßgeblich bestimmt. Im Theoriegebäude der Psychoanalyse wird eine seelische Störung als eine Folge von psychostrukturell bedingten Defiziten und der Dysregu-

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lation von Affekten als Ergebnis einer individuellen psychosozialen Entwicklung gesehen. In diesem Verständnis kann die Abhängigkeit nur Ausdruck der dahinter- liegenden Störung, auch Grundstörung genannt (Sporn 2002), sein. Zentrale An- nahmen der Psychoanalyse sind die Regulation von Trieb und Affekt mittels der Abwehrmechanismen, durch die eine Anpassung des Individuums an seine Um- welt ermöglicht wird. Allerdings sind mit den verschiedenen Strömungen oder Schulen innerhalb der Psychoanalyse teils sehr divergierende Vorstellungen über die Genese der Abhängigkeit verbunden. Während in der Triebpsychologie Suchtmittelkonsum vorwiegend als Ersatz für sexuelles Handeln verstanden wur- de, wird im Rahmen der Konfliktpsychologie der Schutz vor Kastrationsängsten und eine Abwehr aggressiver und sadistischer Impulse in den Vordergrund ge- stellt. Auch Ich-Psychologie, Selbstpsychologie und Beziehungspsychologie nach Winnicott betonen jeweils sehr unterschiedliche Aspekte. In der relativ modernen interaktionell-analytischen Sichtweise gehen Heigl und Heigl-Evers von einem Konzept der Regulationsdefizite von Affekten und Trieben aus (Heigl-Evers 1985).

Hieraus wurde ein Konzept der therapeutischen Arbeit entwickelt. Insgesamt wird jedoch die Heterogenität der Vorstellungen deutlich, die durchaus auch heute noch schulengebunden, nebeneinander existieren. Eine Heterogenität der thera- peutischen Angebote mag hier auch ihre Erklärung finden.

Die in der therapeutischen Praxis häufig vertretenen Ansätze der humanistischen Psychologie und auch die eklektischen Ansätze divergieren stark. Es zeigt sich jedoch, dass tiefenpsychologisch-psychoanalytische, humanistische und eklekti- sche Behandlungsprogramme sich hinsichtlich der wesentlichen Behandlungsziele (Einsicht in das Trinkverhalten, Lösung von Familienkonflikten, Selbstbehauptung etc.) wenig unterscheiden. Wie sich in der MEAT-Studie zeigt, sind die Unter- schiede in Ergebnissen stationärer Behandlungsprogramme, den Abstinenzraten, vorwiegend durch Variablen wie regelmäßige Einzeltherapie, Trennung von Frau- en und Männern, weniger durch die Therapieschule zu erklären (Küfner and Feu- erlein 1989). Systemische Ansätze finden verstärkt Eingang in die Psychotherapie (Tretter 2000).

In der behavioralen Schule wird die Abhängigkeit im Wesentlichen als Folge des

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Lernens am Erfolg erklärt. Ein sich entwickelndes System von positiven Konse- quenzen des Konsums von Alkohol – z.B. Entspannung – und negativen Konse- quenzen der Abstinenz führt zur Verfestigung des abhängigen Verhaltens. In der behavioralen Schule werden sowohl einfache Modelle, wie das des operanten Konditionierens, aber auch komplexe Modelle der Regulation heran gezogen.

Kognitive Ansätze widmen sich den Prozessen der Erwartung, der Wahrnehmung, des Denkens, des Gedächtnisses und der Verhaltensplanung. Aus den verschie- denen Absätzen des Behaviorismus haben sich unterschiedliche Therapieansätze entwickelt, die meist strukturiert und operationalisiert sind. Ziele der Interventionen sind maladaptive Lernmuster, die durch therapeutische Lernvorgänge verändert werden sollen. Auch das therapeutische Hinterfragen der kognitiven Verzerrungen dient der Verhaltensänderung. Oftmals ist eine verbesserte kognitive Kontrolle des süchtigen Verhaltens Ziel der Arbeit. Die kognitiv-behaviorale Therapie hat auch in der Unterstützung von Verhaltensänderung im Modell nach Prochaska und DiC- lemente (Prochaska, DiClemente et al. 1992) und der Formulierung eines Rück- fallmodells (Marlatt 1985) ihren Beitrag geleistet. Dies hat zu der Entwicklung und Evaluierung effektiver Strategien zur Rückfallprophylaxe geführt (Marlatt and Gor- don 1995; Körkel and Schindler 2003). Modelle des operanten Konditionierens und damit auch des Löschens der Verkettung von Stimulus und Reaktion finden sich im Ansatz des Cue-Exposure wieder.

Inwiefern die schulenspezifischen Vorgehensweisen und Interventionen tatsäch- lich in der konkreten Behandlung wirken, kann noch nicht abschließend geklärt wirken. Im Project MATCH, der weltweit größten Therapiestudie, wurde versucht auf genau diese Frage eine Antwort zu finden (Project MATCH 1997). Die bisher vorliegenden Daten sind allerdings ernüchternd. Im Project MATCH wurde die Wirkung von drei unterschiedlichen Behandlungsformen bei Alkohol missbrau- chenden oder abhängigen Patienten, die sich entweder einer ambulanten Ent- wöhnungsmaßnahme oder einer Nachsorgemaßnahme unterzogen, überprüft. 12 Einzelsitzungen nach dem Konzept der Anonymen Alkoholiker führten zu einer äquivalenten Trinkmengenreduktion wie 12 Einzelsitzungen kognitiver Verhaltens- therapie oder vier Einzelsitzungen motivationsfördernder Therapie. Entscheidende Bedeutung kommt offensichtlich der Person des Therapeuten zu, weniger der

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Therapieform (Project MATCH 1998). Die Ergebnisse des Project MATCH werden durch die Erkenntnisse der oben erwähnten MEAT-Studie in der stationären Be- handlung unterstützt. Dies bedeutet, dass es bisher keine überlegene Therapie- form gibt. Insofern liegt es nahe wirksame Interventionen schulenübergreifend nach den Bedürfnissen des Patienten zu kombinieren. Dies soll im Project COM- BINE wissenschaftlich qualifiziert überprüft werden (Anton and Randall 2005).

3.4. Bedeutung des Cravings für den Rückfall

Craving, das süchtige Verlangen (Wetterling, Veltrup et al. 1996), prägt heute als Begriff das Verständnis der Dynamik süchtigen Verhaltens (Tretter 2000). Die vermehrte wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Craving setzte mit der Ver- fügbarkeit potentiell wirksamer Anti-Craving Substanzen ein. Stellvertretend ist hier das Acamprosat zu nennen. In Anbetracht der teilweise hohen Rückfallraten nach einer Behandlung der Alkoholabhängigkeit ist die intensive Suche nach einer Verbesserung der Behandlungsbedingungen auch unbedingt notwendig. Dabei wird der Beitrag des Cravings zum Rückfall durchaus kontrovers diskutiert.

Nicht nur der Begriff des Cravings steht noch im Bemühen um seine Definition.

Auch der Begriff des Rückfalls erfährt definitorische Veränderung. Die enge, di- chotome Rückfalldefinition fragt schlicht danach, ob nach einer Phase der Absti- nenz Alkohol konsumiert wurde. Damit wäre die Phase der Abstinenz beendet und der Rückfall eingetreten. Diese Definition ist durch ihre Klarheit gekennzeichnet und führt zu eindeutigen Verhaltensanweisungen: nämlich nicht zu trinken. Der Nachteil liegt in der Einengung klinischer Verläufe auf nur zwei Möglichkeiten, nämlich die Abstinenz oder den Rückfall, Erfolg oder Versagen. Insofern ist es verständlich, dass weitere Definitionen des Rückfalls versucht wurden, die weiche- re Beschreibungen darstellen.

Eine Möglichkeit ist die differenziertere Beschreibung von Trinkmengen und/oder Trinkmustern. Der Begriff des ‚mäßigen Alkoholkonsums’ oder die Verlaufsbe- schreibung ‚abstinent nach Rückfall’ sind hier zu nennen. Auch der Begriff ‚kontrol-

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liertes Trinken’ wird als differenzierte Rückfallbeschreibung genutzt. Der Begriff des kontrollierten Trinkens wird allerdings kontrovers diskutiert und kann als Ziel einer Entwöhnungsbehandlung nicht uneingeschränkt angenommen werden, bzw.

wird im Sinne des Ziels der Fähigkeit zur Punktabstinenz ausdifferenziert (Reymann 2000; Lindenmeyer 2002). Eine wichtige – allerdings m.E. auch etwas unscharfe – Differenzierung wurde von Marlatt eingeführt (Marlatt 1985). Hier wird zwischen „Ausrutscher“ und „Rückfall“ unterschieden. Während mit dem Begriff

„Ausrutscher“ der kurzfristige, umschriebene Konsum nach Abstinenz gemeint ist, beschreibt Marlatt mit dem Begriff „Rückfall“ den Alkoholkonsum wie in früheren Zeiten. Die in der Literatur eingeführten Begriffe ‚subjektiver Rückfall’, ‚trockener Rückfall’, ‚systemischer Rückfall’ und ‚iatrogener Rückfall’ zeigen die Schwierigkei- ten in der Abbildung der vielfältigen Facetten des menschlichen Lebens und der Alkoholabhängigkeit ab. Zur Übersicht sei hier auf Körkel verwiesen (Körkel 2003).

Neben der Definition ist noch die Frage der Erhebung zu berücksichtigen. Rück- fallhäufigkeiten werden in der Regel für bestimmte Zeiträume – Katamnese- zeiträume oder Behandlungszeiträume – erhoben. Hier sind methodische Proble- me zu berücksichtigen. Die Deutsche Gesellschaft für Suchtforschung versucht durch die Formulierung von Katamnesestandards Abhilfe zu schaffen (DGS 2001).

Der Katamnesestandard 3 rechnet die nicht mehr zu erreichenden Teilnehmer an einer Untersuchung heraus. Der Katamnesestandard 4 rechnet alle Teilnehmer, die zu einem Katamnesezeitpunkt keine Daten einbringen, als rückfällig. Dieser Standard dürfte die Wirklichkeit des Rückfallgeschehens schärfer abbilden.

Die hohen Rückfallraten sind nicht nur wegen des Rückfalls an sich – also einem Versagen der Therapie – kritisch zu sehen, sondern weil es mit zunehmender An- zahl der Rückfälle zu einer Intensivierung des Rückfallgeschehens, also einem Fortschreiten der Erkrankung kommt (Mann and Stetter 2002). Mittlerweile ist der wissenschaftliche Nachweis einer Schädigung durch die dann immer wieder not- wendigen Entzugsbehandlungen, genauer durch exzitatorische Schädigung von Nervenzellen, erbracht (Gonzalez, Veatch et al. 2001). In Anbetracht der darge- stellten Problematik ist es konsequent, dass verschiedene Interventionen zur Ver- ringerung der Rückfallhäufigkeit untersucht wurden. Eine Intensivierung der Be- handlung im Sinne der qualifizierten Entzugsbehandlung oder eine Intensivierung

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der Entwöhnungsbehandlung ist effektiv. Dies zeigt sich in begleitenden Untersu- chungen (Stetter and Mann 1997) und im Vergleich mit Daten aus den USA. Die in den USA zu findenden höheren Rückfallraten (Polich 1981) werden zum Teil mit der im Vergleich deutlich kürzeren Behandlungsdauer erklärt. Weitere Interventio- nen bestanden in der Entwicklung von Theorien des Rückfallgeschehens (Marlatt 1985) und daraus abgeleiteten Präventionsprogrammen (Marlatt and Gordon 1995; Körkel and Schindler 2003). Die Analyse von Rückfallgründen ist hier von Bedeutung. Als Rückfallgründe, so genannte Hochrisikobereiche, werden intraper- sonale und interpersonale Einflussfaktoren genannt (Marlatt, Stout et al. 1996). Zu den intrapersonalen Einflussfaktoren rechnet Marlatt unangenehme Gefühle, un- angenehme körperliche Zustände, unwiderstehliches Alkoholverlangen (Craving) sowie angenehme Gefühle und Versuche des kontrollierten Trinkens. Als interper- sonale Rückfallfaktoren werden Konflikte mit anderen Menschen, das Zusammen- sein mit Alkoholkonsumenten und unangenehme Gefühlszustände im Zusammen- sein mit anderen bezeichnet. Andere Forscher versuchten prospektiv eintretende Lebensereignisse oder die Belastung durch komorbide seelische Störung mit dem dann auftretenden Rückfall zu korrelieren (Hodgins, el-Guebaly et al. 1995; Green- field, Weiss et al. 1998). Es ist festzustellen, dass einige Autoren dem Craving nur eine untergeordnete Rolle zuweisen (Maffli, Wacker et al. 1995; Miller, Westerberg et al. 1996; Drummond 2000). Auf der anderen Seite wird die Rolle des Cravings in der Entstehung des Rückfalls immer wieder betont (Böning 2001; Hartling 2001;

Duka, Townshend et al. 2002; Bottlender and Soyka 2004; Dawes, Johnson et al.

2005). Auch aus der bildgebenden Forschung wird die Aktivierung subkortikaler Strukturen durch alkohol-assoziierte Reize überzeugend dargestellt (Grüsser, Heinz et al. 2000; Braus, Wrase et al. 2001; Wrase, Grusser et al. 2002; Olbrich, Valerius et al. 2006). Im Tiermodell der Abhängigkeit lässt sich das Phänomen des Cravings ebenso abbilden (Wolffgramm and Heyne 1995; Heyne, Thimm et al.

2000; Spanagel 2000; Wolffgramm, Galli et al. 2000). Zudem weist die intensive Forschung an potentiellen Medikamenten zur Reduktion des Cravings auf die kli- nische Bedeutung hin (Delmeire 1980; Borg 1983; Kabel and Petty 1996; Anton, Moak et al. 1999; Ait-Daoud, Johnson et al. 2001; Romach, Sellers et al. 2002;

Croissant, Scherle et al. 2004 (b); Deas, May et al. 2005).

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Die unterschiedliche Bewertung des Cravings scheint also nicht zuletzt abhängig von der Anwendung geeigneter Messinstrumente zu sein (Moak, Anton et al.

1998; Anton 2000). Konstatiert man, dass Craving grundsätzlich von Bedeutung für das Rückfallgeschehen ist, (Wetterling, Veltrup et al. 1996), ergibt sich daraus die Notwendigkeit einer genaueren Beschreibung, einer Analyse möglicher Kom- ponenten (Drummond 2000; Heinz, Lober et al. 2003) und der neurobiologischen Grundlagen (Robinson and Berridge 1993). In diesem Zusammenhang scheint es sinnvoll sich mit dem Konzept des Suchtgedächtnisses auseinanderzusetzen.

3.5. Zusammenfassung

Die Alkoholabhängigkeit ist eine häufige Erkrankung, die mit einer hohen Chronifi- zierungsgefahr einhergeht. Chronifiziert bedeutet Alkoholabhängigkeit ein intensi- ves Leiden für die Betroffenen und ihre Angehörigen, sowie hohe gesamtgesell- schaftliche Belastung durch die mit der Erkrankung verbundenen Kosten. Neuro- biologische Forschung und Grundlagenforschung tragen zunehmend zum Ver- ständnis der Alkoholabhängigkeit bei. Es wird deutlich, wie tief sich die Spuren der Alkoholabhängigkeit in das zentrale Nervensystem des Menschen eingraben.

Obwohl differenzierte Behandlungsprogramme in der Behandlung der Alkoholab- hängigkeit entwickelt und validiert wurden, ist doch eine hohe Rückfallquote auch nach intensiver Behandlung festzustellen. Dabei scheint die Spezifität unterschied- licher Behandlungsprogramme gering zu sein, da sich ein Behandlungserfolg eher durch unspezifische Faktoren voraussagen lässt. Die bisherigen psychotherapeu- tischen Behandlungsprogramme sind durchaus hilfreich, scheinen aber den Kern der Abhängigkeit nicht zu erreichen. Dem absoluten Verlangen nach Konsum der Droge Alkohol, dem so genannten Craving, kommt vermutlich eine zentrale Rolle im Rückfallgeschehen zu. Obwohl hier vorwiegend medikamentöse Behandlungs- strategien mit Gewinn in die Behandlung eingeführt wurden, ist die Situation noch nicht befriedigend.

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4. Das Suchtgedächtnis

Der nicht unumstrittene Begriff des Suchtgedächtnisses wurde in Umrissen schon in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts eingeführt (Mello 1972). Die klinische Erfahrung, die zur Formulierung des Konzepts führte, erfährt seit etwa 10 Jahren Ergänzung durch Befunde aus der Grundlagenforschung und den bildgebenden Verfahren.

4.1. Tiermodelle der Substanzabhängigkeit

Dass Nagetiere unter Laborbedingungen freiwillig Alkohol zu sich nehmen ist seit den vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts wohlbekannt und hat das Interesse der Forschung auf sich gezogen. Es ist anzunehmen, dass Nager auch in ihrer natürlichen Lebensumgebung aus dem Verzehr vergorener Früchte Alkohol auf- nehmen. Es wurde über den Verzehr großer Mengen vergorener Früchte durch Säugetiere – hierunter auch Nager – in der Natur berichtet. Solche Tiere zeigen im Anschluss auffällige Verhaltensweisen, die an eine Intoxikation denken lassen. Die Aufnahme von Alkohol scheint also zum normalen Verhaltensrepertoire von Na- gern zu gehören. Insofern zeigen sich Ratten und Mäuse als gut geeignete Ver- suchstiere um verschiedene Aspekte der menschlichen Alkoholabhängigkeit zu studieren. Allerdings sind Tiermodelle der Abhängigkeit nicht auf den Alkohol be- schränkt. Die Arbeitsgruppe um Wolffgramm konnte zeigen, dass in der Entwick- lung der Abhängigkeit für D-Amphetamin, das Opioid Etonitazen und für Alkohol die selben Prinzipien gelten (Heyne and Wolffgramm 1998). Mittlerweile sind eine Vielzahl von Tiermodellen der Abhängigkeit in der Forschung etabliert. Das Spekt- rum reicht von der Nutzung tierischen Gewebes über die gentechnisch herbeige- führte Modifikation der Drosophila melanogaster (Wolf and Heberlein 2003;

Scholz, Franz et al. 2005) bis zu den elaborierten Tiermodellen der Abhängigkeit mit Nagetieren. Diese sollen im Folgenden am Beispiel der Alkoholabhängigkeit exemplarisch dargestellt werden.

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