• Keine Ergebnisse gefunden

4.1 Konstruktionen und die Konstruktionsgrammatik

4.1.1 Der Konstruktionsbegriff

4.1.1 Der Konstruktionsbegriff

Das wichtigste Prinzip der Konstruktionsgrammatik, dem sie zugleich ihren Na-men verdankt, ist die These, dass die Haupteinheit von Sprache die Konstruktion ist. Um diesen Begriff zu erläutern, wird vielfach auf Goldbergs (1995: 4) Defini-tion Bezug genommen:

C is a construction iffdef C is a form-meaning pair <Fi,Si> such that some aspect of Fi or some aspect of Si is not strictly predictable from C’s component parts or from other previously established constructions.

Schon in dieser Definition, die an sich ziemlich einfach und kurz gefasst ist, zeigt sich allerdings ein Punkt der Uneinigkeit zwischen den Konstruktionsgram-matikern. Goldberg gibt hier an, dass eine Konstruktion prinzipiell nicht ganz kompositionell ist. Dies wird nicht in allen Zweigen der Konstruktionsgrammatik als Bedingung betrachtet, um von einer Konstruktion sprechen zu können. Lang-acker (1987), zum Beispiel, lehnt als Vertreter der sogenannten ‚Cognitive Grammar‘ die Nichtkompositionalität als Definitionsmerkmal explizit ab.1 Damit schließt er allerdings die Existenz nichtkompositioneller Konstruktionen nicht von vornherein aus; er betrachtet die Nichtkompositionalität nur nicht als grund-legendes Kriterium: Es kann sowohl kompositionelle als auch nichtkompositio-nelle Konstruktionen geben. Letztere Ansicht hat mittlerweile an Boden gewon-nen (Stefanowitsch 2011: 184, vgl. auch Bücker 2012: 81), und auch Goldberg (2006: 5) selber hat ihren Konstruktionsbegriff daraufhin geändert, dass Nicht-kompositionalität keine zwingende Voraussetzung mehr ist:

Any linguistic pattern is recognized as a construction as long as some aspect of its form or function is not strictly predictable from its component parts or from other constructions recognized to exist. In addition, patterns are stored as constructions even if they are fully predictable as long as they occur with sufficient frequency […].

Auch in vorliegender Arbeit wird die Ansicht vertreten, dass Konstruktionen durchaus kompositionell sein können, obwohl viele Konstruktionen es nicht sind (vgl. Langacker 1987: 464).

|| 1 Obwohl die ‚Cognitive Grammar‘ nicht immer als Zweig der Konstruktionsgrammatik aufge-listet wird, basiert sie auf dem Hauptmerkmal der Konstruktionsgrammatik (die Haupteinheit von Sprache ist eine symbolische Paarung von Form und Bedeutung, vgl. unten), sodass sie durchaus als konstruktionsgrammatische Strömung betrachtet werden kann (vgl. u. a. Lang-acker 2005).

Der andere Aspekt der ursprünglichen Definition Goldbergs, der in der neu-eren Formulierung weniger explizit erwähnt wird (allerdings durchaus noch im-pliziert ist), ist weniger kontrovers. Ganz im Gegenteil: Es handelt sich um die Hauptidee des Konstruktionsbegriffs: Eine Konstruktion ist eine symbolische Paarung von Form und Bedeutung. Im Anschluss an Croft (2001) hat Depper-mann (2006a: 53) dies schematisch wie folgt dargestellt:

Abb. 4: Konstruktion (nach Deppermann 2006a: 53)

Das äußere Rechteck repräsentiert in diesem Schema die Konstruktion, während die inneren Rechtecke für die Form (oben) und die Bedeutung (unten) stehen.

Verbunden werden die beiden inneren Rechtecke durch eine gestrichelte Linie, die ihrerseits die symbolische Verknüpfung von Form und Bedeutung darstellt.

Was die Bedeutungsseite der Konstruktion betrifft, fällt auf, dass außer den traditionellen Bedeutungsebenen der Semantik und der Pragmatik auch die dis-kursfunktionale Ebene enthalten ist. Tatsächlich wird in der Konstruktionsgram-matik im Allgemeinen von einem breiten Bedeutungskonzept ausgegangen2, der auch solche Aspekte enthält, die intuitiv vielleicht eher als Funktion einer Form denn als ihre Bedeutung im klassischen Sinne einzustufen wären (vgl. Stefano-witsch 2011: 183). In diesem Sinne sind auch nichtpropositionale

Partikelbedeu-||

2 Vor allem bei den eher formal-generativ orientierten Zweigen der Konstruktionsgrammatik dürfte dies jedoch weniger offensichtlich sein, da sie in ihren Attribut-Wert-Matrizen bzw. -Käs-ten für die Bedeutung vielfach nur das Label SEM (für ‚semantics‘) verwenden – vgl. Ziem/Lasch (2011: 279) sowie auch die Darstellung der Bedeutung von Konstruktionen bei Wildgen (1990: 82) und u. a. die Beschreibungen der ‚Berkeley Construction Grammar‘ und der ‚Sign-Based Construction Grammar‘ bei Fillmore (2013) und Michaelis (2013).

tungen sowie die illokutionstypbezogene Wirkung von Modalpartikeln (vgl. Ka-pitel 2) unter diesem Nenner der ‚Bedeutung‘ zu fassen. Wichtig ist zudem, dass auch der Skopus Teil dieses breiten Bedeutungskonzeptes ist. Wenn von der deutung einer Konstruktion die Rede ist, so umfasst dies also nicht nur die Be-deutung, die von der Konstruktion selber vermittelt wird (im weitesten Sinne), sondern auch ihren Wirkungsbereich bzw. ihren Skopus.

Weniger einheitlich sind die Ansichten, was die Formseite betrifft. Wie Ab-bildung 4 zeigt, siedelt Deppermann (2006a: 53) im Anschluss an Crofts (2001) sogenannte Radical Construction Grammar auf der Formseite sowohl Phonologi-sches als auch MorphologiPhonologi-sches und SyntaktiPhonologi-sches an. Ähnlich ist Imo (2011b: 117) der Meinung, bei der Beschreibung einer Konstruktion sollten alle re-levanten Ebenen in Betracht gezogen werden, und Günthner (2009: 404) um-schreibt die Konstruktionsgrammatik „in sämtlichen Ausprägungen“ als eine

„integrative (d. h. alle Ebenen der sprachlichen Strukturierung erfassende) Gram-matiktheorie.“ Allerdings scheint das Prädikat „in sämtlichen Ausprägungen“

nicht ganz zuzutreffen. Das Einbeziehen der Ebene der grammatischen Form, zum Beispiel, das in den meisten Zweigen der Konstruktionsgrammatik als nor-mal gilt (auch u. a. Goldberg [1995: 51] spricht von einem „syntactic level of gram-matical functions“), wird von Langacker (u. a. 2005) explizit abgelehnt. Für ihn umfasst die Formseite einer Konstruktion nur die sogenannten symbolisierenden (‚symbolizing‘, Langacker 2005: 104) Ausdrucksebenen, die er unter dem Nenner

‚phonological structure‘ zusammenführt. Allerdings stellt sich diese Einschrän-kung insbesondere für schematischere Konstruktionen (vgl. unten) als problema-tisch heraus, da die Formseite in dem Fall für die Bestimmung der Konstruktion zu abstrakt ist (vgl. Verhagen 2009). Dementsprechend wird in der vorliegenden Arbeit auch die morphosyntaktische Ebene als Teil des Konstruktionsbegriffs be-trachtet.

Dass er die grammatische Form von der Konstruktion ausschließt, heißt je-doch nicht, dass sich Langacker auf Phonologisches beschränkt. Tatsächlich ver-einen sich unter dem Nenner ‚phonological structure‘ alle symbolisierenden Ebe-nen. Selber formuliert es Langacker (2008: 15) folgendermaßen:

Under the rubric phonological structure, I include not only sounds but also gestures and orthographic representations. Their essential feature is that of being overtly manifested, hence able to fulfill a symbolizing role.

Diese Beobachtung ist für die vorliegende Arbeit nicht unwichtig, da sie eine Öff-nung zu multimodalen Größen (und insbesondere zur im Folgenden zu analysie-renden Gestik) schafft. Damit ist Langacker einer der Wenigen, die in einem pro-grammatischen Rahmen die Möglichkeit multimodal ausgerichteter

tionsgrammatischer Analysen anspricht3, obwohl er selber in seinen eigenen beiten monomodal vorgeht und die verbale Ebene fokussiert. Da vorliegende Ar-beit multimodal orientiert ist, soll es nicht wundern, dass die Möglichkeit offen gehalten wird, dass multimodale Größen in die Formseite der Konstruktion inte-griert werden. Auf diese Frage soll jedoch weiter unten (Abschnitt 4.3 und Kapitel 14) ausführlicher eingegangen werden.

Wenngleich die Form und die Bedeutung einer Konstruktion ihre wichtigsten Komponenten darstellen, so ist die Konstruktion noch nicht gänzlich beschrie-ben, wenn man nur darauf hinweist. Ein weiterer inhärenter Teil einer Form ist ihre Verwendung, d. h. wie und unter welchen Bedingungen sie eingesetzt wird bzw. werden kann/muss (oder eben nicht). Besonders in kognitiv-funktional aus-gerichteten linguistischen (aber nicht nur konstruktionsgrammatischen) Denk-rahmen ist die Ansicht gewachsen, dass eine sprachliche Struktur nicht analy-siert werden kann, ohne der Frage nachzugehen, wie sie gebraucht wird. Linell (2009: 16f.), zum Beispiel, behauptet, dass relevante Gebrauchskontexte nicht von Bedeutungen losgelöst werden können und umgekehrt. Ähnlich ist Lang-acker (2001) der Meinung, dass sprachliche Einheiten nicht völlig von den ‚usage events‘ getrennt werden können, in denen sie vorkommen. Auch wenn den Ge-brauchsbedingungen und typischen Gebrauchskontexten in der bisherigen kon-struktionsgrammatischen Forschung nicht immer gleich viel Aufmerksamkeit ge-widmet worden ist (Deppermann 2011: 219, Zima 2011: 108)4, so gibt es durchaus Konstruktionsgrammatiker, die darauf hinweisen, dass diese Aspekte auch für konstruktionsgrammatische Analysen relevant sind bzw. sein können (u. a. Gold-berg 2003: 221, Fried/Östman 2004: 21 und Ziem/Lasch 2013: 87–89, vgl. auch La-koff 1987: 467, der die Gebrauchsbedingungen im Grunde genommen zur Bedeu-tungsebene zählt5). Da es sich bei Abtönung um ein deutlich kontextsensitives Phänomen handelt (mehr Abtönung in sogenanntem ‚small talk‘, kontextabhän-gige Bedeutungen usw., vgl. Kapitel 2), wird in vorliegender Arbeit der Kontext dauernd in Betracht gezogen und auch als wichtiger Teil der Konstruktion be-trachtet. Auch wenn im Kapitel zur Konstruktionsfrage (Kapitel 14) der Gebrauch nicht den eigentlichen Fokus darstellt, so wird er doch ein roter Faden durch die Arbeit sein.

||

3 Weiter zu erwähnen ist allerdings Deppermann (2006a,b).

4 Auffällig ist in dieser Hinsicht auch das Fehlen der Kontext- bzw. Gebrauchsebene in Abbil-dung 4.

5 Zu erwähnen ist auch Langacker (2001), der in seinem CDS-Modell (‚current discourse space‘) den Kontext durchaus modelliert. Allerdings sind auch bei ihm die symbolische Einheit und ihre kontextuelle Einbettung durchaus verschiedene (wenngleich eng vernetzte) Größen.

Die bisherige Besprechung zusammenfassend ließe sich festhalten, dass es sich bei einer Konstruktion um eine Form-Bedeutungspaarung handelt, die be-stimmten Gebrauchsbedingungen unterliegt und bei deren Analyse integrativ alle relevanten Ebenen in Betracht zu ziehen sind. Zwei Aspekte sind jedoch bis-lang nicht besprochen worden: der Abstraktheitsgrad und der Umfang einer Kon-struktion. Diese beiden Aspekte sind nicht in der Definition des Konstruktionsbe-griffs festgelegt. Was den Umfang betrifft, kann jede Einheit, die als eine symbolische Koppelung von Form und Bedeutung zu analysieren ist, als eine Konstruktion betrachtet werden, von Morphemen über Wörtern und Wortgrup-pen bis hin zu Strukturen, die dem traditionellen Satzbegriff entsprechen (u. a.

Goldberg 2006: 5), und sogar darüber hinaus (vgl. Ziem/Lasch 2013: 14; man denke zum Beispiel auch an Östmans [2005] Begriff des ‚construction dis-course‘6). Obwohl sich die Konstruktionsgrammatik bislang vor allem mit kom-plexeren Strukturen befasst hat, besteht also durchaus die Möglichkeit, Einzel-wörter wie Modalpartikeln als Ausgangspunkt für eine konstruktions-grammatische Analyse zu nehmen.

Ähnlich ist nicht a priori festgelegt, wie abstrakt eine Konstruktion zu sein hat. Dies betrifft sowohl die Form als auch die Bedeutung. Auf die unterschiedli-che Abstraktheit auf Bedeutungsebene wurde im Grunde genommen oben bereits hingewiesen: Konstruktionen können eine sehr spezifische Bedeutung haben, aber genauso gut kann es sich um eine sehr abstrakte Bedeutung oder um eine Diskursfunktion handeln (vgl. Smirnova/Mortelmans 2010: 139). Ähnlich ist die Situation auf der Ebene der Form: Manche Konstruktionen haben eine lexikalisch völlig spezifizierte Form, während andere durchaus schematischer sind und ei-nige nichtfixierte Stellen oder ‚Slots‘ aufweisen, die durch unterschiedliche Ele-mente befüllt werden können. Vielfach scheint Abstraktheit auf der Formebene mit Abstraktheit auf der Bedeutungsebene einherzugehen.7 Die Ditransitivkon-struktion zum Beispiel hat eine ziemlich allgemeine und abstrakte Bedeutung, und von der Form her hat sie zwar eine feste Struktur, aber alle Stellen in der Konstruktion können durch unterschiedliche Elemente eingenommen werden (sofern sie von der Bedeutung her mit der jeweiligen Stelle verträglich sind).

Wichtig ist in dieser Hinsicht die Feststellung, dass schematischere Mutter-konstruktionen neben spezifischeren TochterMutter-konstruktionen separat gespeichert

|| 6 Auf die Ähnlichkeit von Konstruktionen und kommunikativen Gattungen hat auch Günthner (2006) hingewiesen.

7 Dies ist jedoch keine allgemeine Regel. Diskursmarker zum Beispiel haben im Allgemeinen eine ziemlich feste Form aber eine sehr abstrakte und variable (bzw. kontextabhängige) Bedeu-tung.

sein können. Dies ist im Einklang mit der obigen Erweiterung von Goldbergs Kon-struktionsbegriff: Wenn sie häufiger vorkommen, können Muster, die völlig aus einer abstrakteren Konstruktion ableitbar sind, doch auch separat gespeichert werden. So können taxonomische Netzwerke von Konstruktionen entstehen, in denen spezifischere Konstruktionen schematischeren Konstruktionen unterge-ordnet sind (u. a. Deppermann 2006a: 50, vgl. Abbildung 5).

Abb. 5: Taxonomisches Konstruktionsnetzwerk (nach Deppermann 2006a: 50)