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9 Weitere abtönende Gesten

9.5 Abtönende Kinaestheme

senkrechte Ring von der Funktion her also weitgehend überein; der Unterschied besteht darin, dass die Börsenhand lediglich kritisiert bzw. hinterfragt, während mit dem senkrechten Ring zusätzlich die widersprechende Äußerung hervorge-hoben wird.

Aufgrund dieser Adversativitätsbedeutung soll es nicht wundern, dass die Partikel, mit der die Börsenhand und der senkrechte Ring die stärkste Beziehung aufweisen, die Partikel doch ist. Tatsächlich ist dies die einzige Partikel, die mit diesen Gesten kookkurriert (abgesehen vom Einzelbeleg mit eigentlich in (12), in dem die Geste nicht direkt mit der Partikel zu verknüpfen scheint): Jeweils drei der insgesamt 16 Belege der Börsenhand und 22 Belege des senkrechten Ringes gehen mit einem doch einher. Damit sind auch in diesem Fall die Frequenzen (so-wohl der Einzelgesten als auch der Partikel-Geste-Kombination) für eine weiter-führende Detailanalyse zu niedrig.

Zum Schluss sei noch kurz darauf zurückgekommen, dass die denn-ähnliche Verwendung der Börsenhand, die laut Kendon (2004) im Italienischen als die zentrale Verwendung dieser Geste betrachtet wird, in den Daten nur in einem Grenzfall belegt ist, in dem auch eine andere Interpretation möglich ist (s. Bei-spiel (12)). Dies könnte auf Zufall zurückzuführen sein, aber es ist nicht auszu-schließen, dass der regionale Unterschied eine Rolle spielt. Interessant ist in die-ser Hinsicht auch, dass die Börsenhand, die gelegentlich als eine typisch italieni-sche Geste betrachtet wird, im Korpus auch nur in den österreichiitalieni-schen Daten belegt ist. Dies könnte damit zu tun haben, dass die Geste vor allem bei größerer Aufregung verwendet wird, während die deutschen Fernsehdaten keine heftige-ren Diskussionen enthalten, aber es wäre ebenfalls möglich, dass die Nähe von Österreich zu Italien als ein Teil der Erklärung anzuführen ist, in dem Sinne, dass die österreichische Gestik der italienischen stärker ähnele als die deutsche (vgl.

Morris 1994: 116). Hier liegen also noch Möglichkeiten für weitere Untersuchun-gen.

9.5 Abtönende Kinaestheme

In den beiden letzten Abschnitten wurden jeweils zwei Gestikmuster besprochen, die neben bestimmten formlichen Übereinstimmungen auch eine gewisse Ähn-lichkeit auf Bedeutungsebene aufweisen. Im Hinblick auf diese Beobachtung stellt sich die Frage, ob sich allgemeiner bei den abtönenden Gesten bestimmte Kinaestheme nachweisen lassen. Der Begriff ‚Kinaesthem‘ wurde von Fricke (2012: 102) eingeführt, und sie definiert ihn folgendermaßen:

Ein Kinaesthem ist eine Menge intersubjektiv semantisierter Bewegungstoken, deren Ähn-lichkeit auf der Ausdrucksseite mit einer ÄhnÄhn-lichkeit auf der Inhaltsseite korreliert. Die Ähnlichkeitsrelation auf der Inhaltsseite entspricht der Relation der Familienähnlichkeit nach Wittgenstein.

Anders formuliert: Von einem Kinaesthem ist die Rede, wenn Gesten, die sich von der Form her ähneln, auch auf Bedeutungsebene miteinander verwandt sind.

Im Hinblick auf diese Definition des Kinaesthembegriffs stellt sich die Frage, ob Kinaestheme nicht auch als Konstruktionen einzustufen wären. Tatsächlich ist ein Kinaesthem der Definition zufolge als eine Paarung von Formeigenschaf-ten und BedeutungseigenschafFormeigenschaf-ten zu betrachFormeigenschaf-ten, die durch mehrere Gestikmus-ter geteilt wird. In der Hinsicht ist das wichtigste DefinitionskriGestikmus-terium einer Kon-struktion (eine symbolische Paarung von Form und Bedeutung, vgl. Abschnitt 4.1.1) eigentlich erfüllt. Es handelt sich zwar um eine sehr schematische Kon-struktion, die über mehrere konkretere Gestikmuster abstrahiert, aber im vierten Kapitel wurde angegeben, dass Konstruktionen durchaus einen hohen Abs-traktheitsgrad aufweisen können. Auch die Tatsache, dass es sich im Gegensatz zu traditionellen verbalen Konstruktionen um rein gestische Einheiten handelt, ist kein Argument gegen eine Einstufung als Konstruktion, da auch Gesten sym-bolische Form-Bedeutungspaare sind (vgl. dazu auch Abschnitt 14.1.2). Eine Ein-stufung von Kinaesthemen als (abstrakten gestischen) Konstruktionen scheint also durchaus gerechtfertigt. Trotzdem wird im weiteren Verlauf dieses Ab-schnitts der Kinaesthembegriff verwendet, um anzudeuten, dass es sich um Strukturen auf dieser schematischen Ebene der Abstrahierung über einzelne Gestikmuster handelt.

Zwischen den in den vorangehenden Kapiteln besprochenen Gestikmustern lassen sich gewisse Übereinstimmungen nachweisen, die für eine Analyse als Kinaesthem in Betracht kommen. Man könnte zum Beispiel annehmen, dass ein leichter Beat mit einer zum Teil geschlossenen Hand (d. h. bei dem sich wenigs-tens Daumen und Zeigefinger berühren) und nach oben gerichteten Fingern, wie er bei der Börsenhand und dem senkrechten Ring nachzuweisen ist, eine doch-ähnliche kritisierende Wirkung hat. Ähnlich suggerieren die Daten, dass eine waagerechte Bewegung der (ebenfalls waagerechten) geöffneten Hand zur Seite markiert, dass weitere Diskussion nicht erwünscht wird (vgl. PL und ZP). Die ge-naue Orientierung der Handfläche (nach oben bzw. nach unten gerichtet) macht zwar für die genaue Interpretation (sowie für das ihr zugrunde liegende Bild) ei-nen Unterschied aus, aber das Kinaesthem bezieht sich auf die abstraktere Ebene der Gemeinsamkeiten (die seitliche Handbewegung der waagerechten Hand und die Bedeutung des Abschließens der Diskussion).

Bei den abtönenden Gesten ist allerdings ein allgemeineres Muster zu erken-nen. Für die rein emblematischen Kopfgesten gilt, dass die senkrechte Bewegung (Nicken) mit einer positiven Bedeutung zu verknüpfen ist (Bestätigung, Zustim-mung), die waagerechte Bewegung (Kopfschütteln) dagegen mit einer negativen (Negation, Ablehnung), und auch bei den abtönenden Gesten scheint eine solche Tendenz vorzuliegen. Tatsächlich markiert das abtönende Nicken, dass der Spre-cher seine Aussage für wahr hält, und ähnlich ist der Beat, infolge seiner insistie-renden bzw. hervorhebenden Wirkung, ein Zeichen dafür, dass der Sprecher zu seiner Aussage steht. Demgegenüber enthalten die Gesten mit einer waagerech-ten Bewegung eine implizite Negation: Mit dem abtönenden Kopfschütteln gibt der Sprecher an, keine andere Möglichkeit zu sehen, mit der ZP schließt er andere Möglichkeiten aus, und mit der PL zieht er sich zurück und will keine weitere Diskussion. Mit den senkrechten Bewegungen markiert der Sprecher also eine positive Stellungnahme gegenüber dem Inhalt des Gesagten, während er mit den waagerechten Bewegungen eine negative Stellungnahme markiert, allerdings nicht gegenüber der vermittelten Information, sondern gegenüber möglichen Einwänden, Bedenken oder Gegenargumenten vonseiten des Hörers.

Man könnte aber eine noch allgemeinere Perspektive einnehmen, die es er-laubt, auch das Achselzucken einzubeziehen. Diese bezieht sich auf den Gesten-raum. Bewegungen tiefer in den Gestenraum hinein sind dann als positiv einzu-stufen, während Bewegungen in der anderen Richtung eine negative Beurteilung beinhalten. In dieser Hinsicht ist es auffällig, dass alle im vorigen Absatz aufge-listeten senkrechten Gesten eigentlich Bewegungen nach unten sind. Am deut-lichsten zeigt sich das beim Beat: Der Stroke ist die Abwärtsbewegung (der Down-beat). Obwohl es beim Nicken schwieriger ist, aufrechtzuerhalten, dass die Abwärtsbewegung als der Stroke zu betrachten sei (vgl. die Frage, ob bei den Kopfgesten überhaupt eine Einteilung in Vorbereitung, Stroke und Rückzug mög-lich ist), handelt es sich auch hier um eine Bewegung, die aus der aufrechten Ru-heposition vor allem nach vorne bzw. nach unten gerichtet ist (auch wenn eine leichte Aufwärtsbewegung am Anfang nachzuweisen sein kann, vgl. Ishi et al.

2014: 236). Ersichtlich wird dies bei einem Vergleich mit dem Bulgarischen. In dieser Sprache besteht neben dem Nicken als bejahender Geste, mit der gleichen Form wie im Deutschen, auch eine ablehnende oder verneinende Geste, die gele-gentlich als Nicken bezeichnet wird, bei der allerdings der Kopf eher nach oben und nach hinten bewegt wird (s. Kolarova [2011: 139], die zur Bezeichnung der letzteren Geste vom ‚Zurückwerfen‘ des Kopfes spricht). Zwar handelt es sich hier erneut um Embleme, aber die Tendenz bleibt weiterhin gültig: in den Gestenraum hinein (Nicken) ist positiv, aus dem Gestenraum hinaus (das sogenannte

werfen‘) ist negativ. Obwohl das Nicken, sei es emblematisch-bejahend oder ab-tönend, eine Auf-und-ab-Bewegung ist, ist es also immerhin als eine Bewegung in den Gestenraum hinein zu sehen.

Im Gegensatz dazu stehen die Gesten, bei denen eine Bewegung aus dem Gestenraum hinaus (nach oben, nach hinten oder zur Seite) vorliegt. Bei den drei zuvor aufgelisteten Gesten (Kopfschütteln, PL und ZP) ist die Bewegung zur Seite deutlich wahrnehmbar. Im Falle des Kopfschüttelns kann zwar vielleicht nicht von einer deutlichen Bewegung des Kopfes aus dem Gestenraum die Rede sein, da der Kopf selber nicht nach oben oder nach hinten bewegt wird, aber durch die Schüttelbewegung wird wenigstens das Gesicht wiederholt vom Zentrum des Gestenraums abgewandt. Bei der PL und der ZP ist die Entfernung deutlicher zu sehen, da die Hände tatsächlich vom Kernbereich des Gestenraums weg (zur Seite und bei der PL zudem gelegentlich leicht nach hinten) bewegt werden.

Der Vorteil dieser Analyse gegenüber der vorigen ist, dass in dieser Analyse auch das Achselzucken berücksichtigt werden kann. Das Achselzucken ist eher eine senkrechte Bewegung, aber trotzdem wurde es in der Besprechung im Ab-schnitt 10.2 ähnlich wie das Kopfschütteln als implizit negativ eingestuft. Für die Analyse nach dem Motto ‚senkrecht ist positiv, waagerecht ist negativ‘ stellte das Achselzucken also einen problematischen Fall dar. Mit der neueren Analyse stellt sich das Problem jedoch nicht: Das Achselzucken ist eine Bewegung nach oben, d. h. aus dem Gestenraum hinaus, was mit der impliziten Negation im Einklang ist.

Auffällig ist, dass sich die Gesten der negativen Stellungnahme (d. h. die Be-wegungen aus dem Gestenraum hinaus) vor allem mit Cluster 2b (eben, einfach, halt) verknüpfen lassen, während das Nicken als Geste der positiven Stellung-nahme (tiefer in den Gestenraum hinein) eher mit Cluster 2a (insbesondere mit ja) zu verknüpfen ist. Dies lässt sich auch mit der Bedeutung der jeweiligen Par-tikeln verknüpfen: Während die ParPar-tikeln des Clusters 2a vor allem eine positive Stellungnahme zur Äußerung andeuten und wahrheits- bzw. einverständnismar-kierend wirken, sind die Partikeln des Clusters 2b als etwas stärker einzustufen, in dem Sinne, dass sie kategorischer wirken und – indem sie den Sachverhalt als evident o. ä. markieren – wirklich zum Ziel haben (können), den Hörer von mög-licher Diskussion abzuhalten, was mit der negativen Stellungnahme der Gesten gegenüber möglichen Einwänden oder Bedenken zu verknüpfen ist. Dies ist kein Eins-zu-eins-Verhältnis: Der Beat ist als Geste der positiven Stellungname immer-hin eher mit Cluster 2b zu verknüpfen, und auch die anderen Gesten der positiven Stellungnahme können durchaus mit den Partikeln des Clusters 2b einhergehen.

Letzteres hat seinerseits damit zu tun, dass eine negative Stellungnahme

über potenziellen Einwänden als eine positive Stellungnahme der eigenen Äuße-rung gegenüber interpretiert werden kann (vgl. Abschnitt 2.3.3: die Evidenzmar-kierung des Clusters 2b impliziert die WahrheitsmarEvidenzmar-kierung des Clusters 2a).

Nichtsdestoweniger scheint hier ein Zusammenhang zwischen den Dimensionen des Kinaesthems und den Partikelclustern 2a/b vorzuliegen.

Immerhin bleiben noch drei abtönende Gesten übrig, die nicht in diese Kinaesthemanalyse hineinpassen: das intersubjektive Deiktikum, die Börsen-hand und der senkrechte Ring. Bei den beiden letzteren Gesten ist das damit zu verknüpfen, dass sie keine richtige Bewegung enthalten. Zwar werden sie inhä-rent häufig mit einem Beat kombiniert, aber dieser weist im Allgemeinen nur eine beschränkte Amplitude auf (jedenfalls beschränkter als etwa in Beispiel (1)). Die Bedeutung dieser Gesten entsteht vor allem aus der Form und der Haltung der Hand, vielmehr als aus der etwaigen Beat-Bewegung. Daher lassen sie sich nicht so direkt mit diesem Kinaesthem der positiven bzw. negativen Stellungnahme verknüpfen, da in diesem Fall gerade die Richtung der Bewegung eine zentrale Rolle spielt. Börsenhand und senkrechter Ring sind aber (wie bereits dargelegt) mit einem eigenen Kinaesthem in Verbindung zu bringen, das auf Formebene vor allem durch die Form und die Orientierung der Hand (und nicht so sehr durch die Richtung der Bewegung) definiert wird. Auf Bedeutungsebene bezieht sich dieses Kinaesthem vor allem auf die kritisierende Facette dieser Gesten, die in dem Kinaesthem der positiven bzw. negativen Stellungnahme eine weniger promi-nente Rolle spielt.

Auch das intersubjektive Deiktikum kann nicht als eine Bewegungsgeste im Sinne von Leonhard (1976) eingestuft werden: Die etwaige Bewegungen bei der Realisierung dieser Geste sind eher während der Vorbereitungs- und Rückzugs-phase als beim eigentlichen Stroke zu situieren, sodass auch hier das auf der Be-wegung beruhende Kinaesthem der positiven bzw. negativen Stellungnahme keine Anwendung findet. Zudem ist im Falle des intersubjektiven Deiktikums dem Umstand Rechnung zu tragen, dass die Richtung der Geste (bzw. die Rich-tung der Bewegung während der VorbereiRich-tungsphase) davon abhängt, wo sich die Person, mit der Einverständnis gesucht wird, vis-à-vis dem Sprecher befindet.

Dies ist darauf zurückzuführen, dass das intersubjektive Deiktikum als einzige in dieser Arbeit besprochene abtönende Geste einen deiktischen Ursprung hat, während die anderen abtönenden Gesten auf eine metaphorische oder emblema-tische Geste zurückzuführen sind. Das intersubjektive Deiktikum wirkt dadurch nicht weniger abtönend als die anderen Gesten, aber wie sich herausstellt, hat dieser Unterschied durchaus seine Auswirkungen auf die Stelle, die das intersub-jektive Deiktikum in der Gruppe der abtönenden Gesten einnimmt.