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2. Konzeptionelle und methodische Anlage der Untersuchung

2.1. Zentrale Begriffe und Kategorienkonstruktionen

2.1.1. Das semantische Feld transformatorischer Umschreibungen

Seit fast dreißig Jahren hat sich das Konzept der „Transformation“ oder „Transition“

für die mittel- und osteuropäischen Staaten zum hegemonialen Torhüter entwickelt (vgl. Niedermüller 2000:294f.). Das meist modernisierungs-theoretisch fundierte Konzept hat über die Umbruchsprozesse die Deutungsmacht errungen. Die Transformationsprozesse wurden begleitet von ÖkonomInnen, JuristInnen, Politik-, Sozial- und KulturwissenschaftlerInnen, die die Umbruchsprozesse in Statistiken aufzubereiten und die gesellschaftlichen, sozialen und ökonomischen Bedingungen für Reformen und Stabilisierung zu erschließen versuch(t)en (vgl. Kürti 1997:30).

Vor Ort entstanden aus dem anfänglichen Mangel an „unabhängigen“ Daten und der großen politischen Nachfrage nach Zahlen und Prognosen kleinere und größere Forschungseinrichtungen im zivilgesellschaftlichen Sektor. West-, mittel- und osteuropäische ExpertInnen waren sich erstaunlich einig darüber, dass es sich um eine „transformation“ der mittel- und osteuropäischen Staaten (MOES) hin zu einer liberalen Demokratie und freien Marktwirtschaft handelt. Der Prozess wurde auch als

„Rückkehr nach Europa“ und Integration in die „westlich, „europäische“ Werte-und Kulturgemeinschaft definiert. Konzepte von „nachholender“ beziehungsweise

„einholender“ Entwicklung und gesellschaftlichem Wandel wurden als Interpretationsfolie für die Analyse der Transformationsprozesse angewandt.

Die Transformationsforschung ist zunächst und vornehmlich empirische Forschung,

die neben einer Vielzahl von Transitionen auch den politischen, ökonomischen und sozialen Umgestaltungsprozess in Mittel- und Osteuropa wissenschaftlich begleitet.

Inzwischen gibt es eine große Zahl von theoretisch-konzeptuellen Überlegungen zu Transformationsprozessen (vgl.: Reißig 1994a, 1994b, vgl. Beyme 1994, Beyme/

Offe 1996; vgl. Kollmorgen 1994, Kollmorgen/ Schrader (2003), vgl. Merkel 1996a, 1996b, 2010; vgl. Zapf 1994a, 1994b, 2004, 2010). In der Transformationsforschung exisitert ein großes semantisches Feld transformatorischer Umschreibungen. Vor dem Einstieg in die eigentliche Untersuchung sei daher die Verwendung einiger Begriffe erläutert, anhand derer innerhalb der Transformationsforschung versucht wird , die Veränderungen in den einst realsozialistischen Staaten zu erfassen und die der Studie zu Grunde liegen.

Die Begriffskombination Systemtransformation ist zum Sammelbegriff für Umbruchs- und Wandlungsprozesse in mittel- und osteuropäischen Ländern geworden. Dieser Begriff bezeichnet einen „spezifische[n] Typ sozialen Wandels“

(Reißig 1994a: 7), der durch „Intentionalität von gesellschaftlichen Akteuren, durch einen Prozess mehr oder minder bewusster Änderung wesentlicher Ordnungsstrukturen und –muster sowie durch einen über verschiedene Medien gesteuerten Umwandlungsprozess“ (Reißig 1994a: 7) gekennzeichnet ist. Er

„[…] schließt […] Regimewandel, Regimewechsel, Systemwandel, Systemwechsel oder Transition mit ein“ (Merkel 1999: 76).

U n t e r Transformation wird ein zielgerichteter Prozess der Errichtung oder Umfunktionierung politischer, wirtschaftlicher oder sozialer Institutionen verstanden.

Claus Offe entfaltet in seiner Anthologie (1994) über die Transformationen in Mittel-und Osteuropa eine sozialwissenschaftliche Forschungsagenda. Demnach hat Transformation und ihre Erforschung eine dreifache Aufgabe: Sie soll

„[…] eine neue Wirtschaftsordnung, eine neue Rechts- und Verfassungsordnung und n e u e R e g e l n s o z i a l e r I n t e g r a t i o n [ … ] “ etablieren – sowie zwei

„Übergangsprobleme“ – „sozial und verteilungspolitische(n) Friktionen“

und den „Elitenwechsel – bewältigen“ (Offe 1994: 19f.). Zu Beginn der Transformation nach 1989 gingen einige WissenschaftlerInnen, darunter Claus Offe von einem „Dilemma der Gleichzeitigkeit“ (vgl. Offe 1994) aus, d.h. von der

Unmöglichkeit parallel Demokratie und Marktwirtschaft einzuführen, da die daraus resultierenden sozialen Härten die Demokratie wieder zum Scheitern bringen müssten.

In Polen begann Ende der 1980er eine Liberalisierung des politischen Systems.

Dieser Prozess wird unter dem Begriff Systemwandel gefasst und man versteht darunter „[…] einen adaptiven Wandel der politischen Strukturen und Verfahren angesichts einer gewandelten Umwelt […], die Wiederherstellung einer neuen Stabilität bzw. eines neuen Gleichgewichts in einer alten politischen Ordnung“

(Merkel 1996: 13). Dieser Wandel verläuft allmählich und nicht abrupt. Dabei bleibt offen, ob dieser Prozess zu einem neuen, anderen Systemtypus, d.h. zum Systemwechsel führt.

Als Systemwechsel dagegen wird allgemein der Prozess des Übergangs von einem Regimetyp zu einem anderen bezeichnet, insbesondere jener Wandel von einer Diktatur, von einem autoritären oder totalitären Regimetyp hin zur Demokratie. Als Begriff wurde der Systemwechsel in der deutschsprachigen Literatur von Klaus von Beyme und Dieter Nohlen eingeführt, um die neue Forschungssituation nach 1989 in den mittel- und osteuropäischen Staaten im Unterschied zu den vorhergegangenen Transformationsprozessen zu kennzeichnen (vgl. Beyme/ Nohlen 1991). Beyme und Nohlen weisen daraufhin, dass den Begriffen Systemwechsel, Regimewechsel, Transition und Transformation „keine wesentliche anderen inhaltlichen Akzente“

(Beyme/ Nohlen 1991:56) zufallen. Der Systembegriff bezieht sich auf alle gesellschaftlichen Systeme Ökonomie, Ideologie, Politik und politische Kultur -und ist umfassender als die Begriffe Staat, Regierung -und selbst als der Regimebegriff (vgl. Merkel 1996a: 12). Es kann nur dann vom Systemwechsel gesprochen werden, wenn sich die Herrschaftsstruktur, der Herrschaftsanspruch und die Herrschaftsweise eines Systems fundamental ändern, so dass eine Auflösung der alten und ein Aufbau einer neuen politischen Herrschaftsstruktur erfolgt (vgl. Merkel 1996a: 13).

Als Ausgangspunkt für die Untersuchung des polnischen Transfomrationsprozess dient das Konzept der akteursorientierte Transitionsschule um Guillermo O´Donnell, Philippe Schmitter und Lawrence Whitehead (vgl. dies. 1986), welches drei Etappen

eines erfolgreichen Übergangs von nichtdemokratischen zu demokratischen politischen Systemen unterscheidet. Gemäß der Definition von O´Donnel, Schmitter und Whitehead bezeichnet die Transition die Phasen, die zwischen einem politischen Regime und einem anderen liegen, der Übergang von einem bestimmten autokratischen zu einem unbestimmten „something else“ (O´Donnell/ Schmitter/

Whitehead 1986: 3). Dabei wird der Ausgang eines Transitionsprozesses als ungewiss betrachtet. Das Ergebnis kann ein demokratisches Regime, die Rückkehr zur alten Ordnung, d.h. zum Ausgangszustand beziehungsweise zu einer anderen Form autoritärer Herrschaft oder eine revolutionäre Alternative sein (vgl. O´Donnell/

Schmitters/ Whitehead 1986: 6). Seit der „transitions to democracy“- Studie von 1986 wird analytisch zwischen einer Liberalisierungs-, Demokratisierungs- und Konsolidierungsphase unterschieden. Faktoren, die Liberalisierung und Demokratisierung hervorrufen, sind seitdem von denen zu trennen, die die Konsolidierung beeinflussen. Dieses Transitionskonzept wurde in den 1980er Jahren zunächst auf die Demokratisierungsprozesse in Lateinamerika und Südeuropa angewendet (vgl. Sandschneider 1995, Merkel 2010). Auf die Systemwechsel in Mittel- und Osteuropa war das Konzept nicht ohne Weiteres zu übertragen. Der Unterschied zwischen den Systemwechseln in Mittel- und Osteuropa und denen in Südeuropa oder denen in Lateinamerika lag darin, dass neben der Etablierung pluralistischer Demokratien auch die ökonomische und gesellschaftliche Ebene vom Systemwechsel erfasst wurde. Die Transitionskonzepte, die im Rhythmus von Systemtransformationen beziehungsweise Demokratisierungsprozessen entstanden waren, mussten daher erweitert werden. Ursprünglich ging man von drei Demokratisierungswellen aus (vgl. Huntington 1991): Die erste Welle von 1828 bis 1926, die zweite Welle von 1943 bis 1962 und die dritte Welle nach der Nelkenrevolution. Die dritte Demokratisierungswelle,

„die mit dem Ende der letzten Rechtsdiktaturen in Westeuropa (Portugal, Griechenland, Spanien) Mitte der 70er Jahre begann, sich in Lateinamerika in der 80er Jahren fortsetzte, Ostasien erreichte, die kommunistischen Regime Osteuropas und der Sowjetunion erfasste und selbst einige Länder Afrikas berührte, sind beispiellos in der Geschichte“ (Merkel 2003:43).

Klaus von Beyme ergänzte die Übersicht von Samuel Huntington und bezeichnete die Umstürze infolge des Falls des Eisernen Vorhangs und des Zusammenbruchs der Sowjetunion als „vierte Demokratisierungswelle“ (Beyme 1994:12f.).9 Diese umfasste insgesamt 47 Staaten, darunter neben dem ehemaligen Ostblock auch einige Staaten Afrikas und Asiens wie Benin und Bangladesh (vgl. Schmidt 2010:434).

Für die vierte Demokratisierungswelle wurden aber dennoch die bis dato entwickelten Begriffsdefinitionen von Samuel Huntingtons übernommen. Auch Beyme unterscheidet drei Transitionstypen: „Transformation“, „Replacement“ und

„Transplacement“ (Huntington 1991: 583). Unter Transformation versteht man die Transitionsprozesse, die von oben gesteuert werden. Als Replacement werden die Prozesse verstanden, die von oppositionellen Gruppen initiiert werden und die zum Zusammenbruch des Systems führen. Der Begriff Transplacement bezeichnet diejenigen Transitionsprozesse, die von den herrschenden Eliten und oppositionellen Gruppen gemeinsam durchgeführt, meist durch einen Elitenkompromiss ausgehandelt werden.

Für das Fallbeispiel Polen trifft der Typus des Transplacement zu. Es handelt sich um einen zwischen alten Regimeeliten und der sozialen Bewegung, der Opposition, ausgehandelten Systemwechsel. Die politischen Institutionen wurden ebenfalls als Kompromiss gebildet (vgl. Nohlen/ Kasapovic 1996: 115). Die Transition setzt ein, wenn nicht mehr nur einzelne politische und soziale Maßnahmen ergriffen werden, sondern wenn das alte Regime diskreditiert und handlungsunfähig ist oder die Liberalisierung von sich aus vorantreibt, so dass anschließend eine Demokratisierung einsetzt, die freie Wahlen mit sich bringt (Linz/ Stephan 1996: 3). Mit dem Transitionsbegriff wird der evolutionäre Prozess der Institutionenbildung bezeichnet.

D i e E n t w i c k l u n g d e r p o l n i s c h e n M i g r a t i o n s p o l i t i k i m Z u g e d e s Transformationsprozesses ist eng verknüpft mit den Stationen des Systemwechsels in Polen10. Um die Entwicklung der polnischen Migrationspolitik und mögliche

9 Ob der Umbruch in Osteuropa eine vierte Demokratisierungswelle kennzeichnet, wie es Klaus von Beyme und Claus Offe meinen, ist in der Transformationsforschung jedoch umstritten.

10 Eine Analyse diese Prozesses habe ich im Rahmen meiner Magisterarbeit durchgeführt und mich dabei an der bekannten, akteursorientierten Transitionsschule um Guillermo O´Donnell, Philippe Schmitter und Lawrence Whitehead orientiert.

Einflussfaktoren zu extrahieren wird in Kapitel 5 der vorliegenden Studie ein Phasenmodell erarbeitet, welches die Phasen der Systemtransformation, der Europäisierung und der Entwicklung polnischer Migrationspolitik nebeneinander stellt. Dadurch gelingt eine analytische Strukturierung des Politikprozesses, also eine überschaubaren komplexitätsreduzierenden Darstellung des Programm-setzungsverfahrens der Migrationspolitik, das in der Realität vielschichtig und besonders in Bezug auf AkteurInnen und Programminhalte verschachtelt und parallellaufend ist. Werner Jann und Kai Wegrich sehen den „gemeinsamen Ausgangspunkt der verschiedenen Phasen-Modelle in der Policy-Forschung (in einer) bestimmte(n) Interpretation von Politik, nämlich Politik als „Policy-Making“, als Versuch der Be- und Verarbeitung gesellschaftlicher Probleme“

(Jann/Wegrich 2003:71). In der klassischen Definition von Fritz W. Scharpf

„als den Prozess also, indem lösungsbedürftige Problem artikuliert, politische Ziele formuliert, alternative Handlungsmöglichkeiten entwickelt und schließlich als verbindliche Festlegung gewählt werden“ (Scharpf 1973:15). Mit Hilfe eines Phasenmodells lässt sich die Entstehung der Migrationspolitik vom Aufkommen des Themas bis zur Entscheidung und Evaluation in einzelnen Schritten analysieren;

dabei werden auch die Rollen beeinflussender AkteurInnen einbezogen.

Die Betrachtung von Politik als eine sequentielle Abfolge von Phasen des politischen Prozesses ist eine wichtige und unverzichtbare Grundlage der aktuellen politik- und verwaltungswissenschaftlichen, aber auch politischen Diskussion. Terminologisch ist das in der Fachliteratur repräsentierte Spektrum an Aufgliederungen äußerst breit gefächert. D a s erste Konzept zur Analyse einzelner Phasen politischer Entscheidungen wurde in den 50er Jahren von Harald D. Lasswell entwickelt und von dessen Schüler, Gary Brewer in den 70er Jahren vereinfacht. (Jann/ Wegrich 2003: 75). Das heute am häufigsten verwendete Konzept des Policy-Zyklus basiert auf Bryan E. Jones (1970) und James E. Anderson (1975) und besteht aus insgesamt fünf Phasen:• Agenda Setting (Thematisierung), • Policy Formulation (Politik(neu)formulierung), • Decision Making (Entscheidung), • Policy Implementation (Politik- und Verwaltungsvollzug), • Policy Evaluation (Ergebnisbewertung) (Jann/ Wegrich 2003:75f.).

Tabelle 1: Phasen und Ergebnisse des Policy-Making-Prozesses:

Das Agenda Setting, d.h. die Thematisierung erfolgt häufig aufgrund öffentlichen Drucks, wenn ein Problem öffentlich diskutiert wird. In anderen Fällen ist die Öffentlichkeit nicht beteiligt und nimmt den Prozess kaum wahr, jedoch gibt es andere starke AkteurInnen (vgl. Jann/ Wegrich. 2003). Innerhalb der Politik(neu)formulierung werden unter Beteiligung der verschiedenen AkteurInnen Positionen abgewogen, manchmal mit dem Ziel, einen Konsens zu erzielen. In der Phase des Entscheidung werden mögliche Alternativen unter Einbezug der vorhandenen Kapazitäten auf ihre Machbarkeit hin untersucht, die ausgewählte Alternative wird politisch verabschiedet (vgl. Jann/ Wegrich. 2003). Die Implementierung ist die Umsetzung der politischen Entscheidung innerhalb der Verwaltung, hierzu gehört auch die Bereitstellung der notwendigen Ressourcen. Die Bürokratie spielt dabei eine große Rolle, da sie erheblichen Einfluss besitzt und Änderungen voranbringen kann (vgl. Jann/ Wegrich. 2003). Die Ergebnisbewertung

untersucht, welche gewollten und ungewollten Wirkungen die Politik auf die Gesellschaft besitzt und ob das gesetzte Ziel erreicht wurde. Die Schwierigkeit hierin ist, dass Ziele oft nicht klar gesetzt werden oder Regierungen sie nicht deutlich formulieren wollen, weil eine Nichterreichung oder ein Scheitern negative Wirkungen haben kann (vgl. Jann/ Wegrich. 2003).

Man geht von einem gemeinsamen Kern aus, der die drei wichtigsten Policy-Phasen:

- Problemdefinition und Agenda-Setting - Formulierung

- Implementierung

Evaluation und Terminierung werden als weitere Phasen betrachtet, in der hier vorliegenden Studie liegt allerdings der Fokus auf den Details der drei Hauptphasen des Migration Policy-Prozess.