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Das Motorrad

Im Dokument Der Tierarzt kommt! (Seite 61-75)

3 Tierärztliche Fortbewegungsmittel

3.4 Das Motorrad

Die Grundlage zur Erfindung und Entwicklung des Motorrads steht in engem Zu-sammenhang mit der Fahrradgeschichte. Das von Karl Drais 1817 entwickelte Lauf-rad wurde in den Folgejahren weiter technisch modifiziert, bis dann im Jahr 1869 Pierre Michaux das erste Dampfrad herstellte, das als direkter Vorläufer des Motorrads gilt.

In den USA wurden bis in die 1890er Jahre Dampfräder in Serie produziert. Die darauf aufbauende Erfindung des ersten motorisierten Zweirades wird im Allgemeinen dem deutschen Maschinenbauer Gottfried Daimler zugeschrieben. Dieser entwickelte ab dem Jahr 1883 zusammen und mit Unterstützung des deutschen Konstrukteurs Will-helm Maybach den sogenannten Reitwagen (Abb. 28), das erste mit Verbrennungs-motor angetriebene Fahrzeug überhaupt. Dieses 1885 patentierte Gefährt bestand aus einem schweren hölzernen Fahrgestell, zwei metallüberzogenen Holzrädern und einem 1 PS starken Einzylindermotor, der direkt unterhalb des ledernen Sattels posi-tioniert war, woraus der noch heute gebräuchliche Begriff "Feuerstuhl" geprägt wurde.

Daimler und Maybach befassten sich in den Folgejahren allerdings nicht weiter mit dem Motorrad, sondern widmeten sich fortan der Automobilentwicklung.137

Abb. 28: Wilhelm Maybach auf dem im Jahr 1885 von Gottlieb Daimler zum Patent angemeldeten Reitwagen.

(Quelle: www.auto-news.de, 17.07.2014)

137 Peters, Erik (2007): Das Motorrad. Eine systematische terminologische Untersuchung.

Fachhochschule Köln, Fakultät für Informations- und Kommunikationswissenschaften, Diplomarbeit, 10.

Abb. 29: Motorrad Hildebrand & Wolfmüller, Modell von 1896.

(Quelle: www.2ri.de/bikes/hildebrand-wolfmueller/1896/hildebrand-wolfmueller, 17.07.2014)

Im Jahr 1894 erhielten die Münchener Techniker Heinrich Hildebrand und Alois Wolf-müller das Patent "DRP 78553" auf das von ihnen entwickelte Fahrzeug, für das erstmals der Begriff "Motor-Rad" entstand. Das Modell "Hildebrand & Wolfmüller"

(Abb. 29) ging zu Beginn der Fertigung mit einer täglichen Produktionszahl von zehn Fahrzeugen weltweit als erstes Motorrad in Serienproduktion. In den Folgejahren wuchs die Popularität des Motorrades stetig an. So erhöhte sich die Anzahl der Motor-radfabriken von 60 im Jahre 1914 auf über 400 in den frühen 1940er Jahren. Zusätzlich begünstigte die deutsche Steuerpolitik ab 1928 den Besitz eines Motorrads. Beson-ders hinsichtlich Fahreigenschaften, Anschaffungspreis und Unterhaltungskosten war das derzeit bereits technisch ausgereifte und auch leistungsstarke Motorrad dem Auto-mobil noch überlegen. In den 1920er Jahren verfügte Deutschland über die größte Motorradindustrie und den größten Bestand an Krafträdern weltweit.138 Im Jahr 1938 besaß statistisch jeder 45. Deutsche ein Motorrad139, im Jahr 2013 war es nur noch je-der 580. Einwohner140. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs blieben von den über 400 in Deutschland ansässigen Motorradherstellern lediglich vier (BMW, Zündapp, Maico und Sachs) erhalten. Während des Wirtschaftswunders in den 1950er Jahren übernahm in Deutschland dann das Automobil dauerhaft die Führungsrolle in der Individualfortbewegung. Erst in den 1970er Jahren erlebte das Motorrad eine von den

138 Blaich, Fritz (1973): Die "Fehlrationalisierung" in der deutschen Automobilindustrie 1924 bis 1929.

In: Tradition: Zeitschrift für Firmengeschichte und Unternehmerbiographie 18, 18-33, 31.

139 Merki 2008 (wie Anm. 4), 56.

140 Statistisches Bundesamt: Bevölkerungstand in Deutschland 2013; Neuzulassungen von Kraftfahr-zeugen in Deutschland. In:www.destatis.de, 12.02.2015.

USA ausgehende Renaissance und ist bis heute ein beliebtes, technisch hoch ausgereiftes Freizeit- und Sportfahrzeug.141

Angaben über die Nutzung des Motorrads als tierärztliches Fahrzeug finden sich be-sonders in biografischen und autobiografischen Texten. Ab Beginn des 20. Jahrhun-derts wird auch in den tiermedizinischen Fachzeitschriften vermehrt für Motorräder geworben.

Ein zu den Motorrädern zu zählendes Fahrzeug war die von der in Berlin ansässigen

"Cyklon Maschinenfabrik" hergestellte dreirädrige "Cyklonette". Produktionsbeginn war im Jahr 1902. Angeboten wurden wahlweise ein- oder zweizylindrige Motoren, die eine Leistung von 3,5 bzw. 10 PS erzielten. Im Jahr 1914 wurde zuerst die Produktion des einzylindrigen Modells, 1923 dann die gesamte Produktion eingestellt. In der Tierärztlichen Rundschau aus dem Jahr 1921 ist eine Werbeanzeige abgedruckt, die dieses Fahrzeug speziell für Tierärzte bewirbt und im Werbetext als unverzichtbar für den tierärztlichen Beruf darstellt (Abb. 30) .142

Abb. 30: "Dem Tierarzte die Cyklonette".

Werbeanzeige für den dreirädrigen Wagen der Cyklon Maschinenfabrik, Berlin, 1921.

(Quelle: Cyklon Maschinenfabrik (wie Anm. 142), 293)

141 Peters 2007 (wie Anm. 137), 12.

142 Cyklon Maschinenfabrik, Berlin (1921): Werbeanzeige für die dreirädrige Cyklonette. In: Tierärztl.

Rdsch. 27 (16), 293.

Der bereits im Kapitel 3.2.2 erwähnte Tierarzt Ludwig Dankwardt, beschreibt in seiner Autobiografie eingehend die Nutzung des Motorrads (Abb. 31) als Praxisfahrzeug. Zu Beginn seiner praktischen Tätigkeit als Landtierarzt hatte er aus Kostengründen ein Fahrrad genutzt, legte sich aber nach einem Arbeitstag mit insgesamt 105 zurück-gelegten Kilometern aufgrund der hohen körperlichen Belastung bei der Fahrt umgeh-end ein Motorrad zu. Außerdem erwähnt er die für ihn relevante zeitliche Komponente als Praktiker im Einsatz:

"Bei der erwähnten Radtour habe ich erst festgestellt, welch ein hügeliges Land wir hier haben, und wenn man als Tierarzt noch den Ansporn hatte, möglichst schnell beim kranken Tier zu sein, konnte einem schon die Puste knapp werden. Das Motor-rad musste also her."143

Die Wahl des geeigneten Motorrades wurde überwiegend von seiner damaligen finan-ziellen Situation beeinflusst und führte zum Kauf einer günstigen Maschine des Her-stellers Hecker, die nach seinen Angaben zwar ein kräftiges Auspuffgeräusch erzeug- te, der Motor aber eher leistungsschwach war, woraufhin Dankwardt häufig schieben musste, anstatt zu fahren. Des Weiteren geht aus seinen Schilderungen hervor, dass häufig technische Mängel auftraten und Reparaturen nötig waren. Dennoch schätzte er das Motorrad als Praxisfahrzeug sehr:

"Wieviele Motorräder ich verbraucht habe, weiß ich nicht mehr genau. Eine ganze Menge habe ich durchprobiert, alles Marken, die heute völlig unbekannt sind. Für den Schlosser Orth war ich ein verlässlicher täglicher Kunde. Das Motorrad war aber, wenn es lief, ein großartiges Vehikel. Pferd und Wagen konnten da nicht mit-halten. Alle Wege konnten genutzt werden, auch die schmalsten. Allmählich wurde ich eine Art Kunstfahrer: Geschlängelte Waldwege oder ein schmaler Fußpfad auf der Kante eines Hohlweges wurden gemeistert. Wenn tiefer Morast oder Lehm-pfützen für ein Auto unpassierbar waren, konnte ich mich mit der nötigen Schubkraft durcharbeiten."144

Auch bei winterlicher Witterung mit Schnee und Eis fuhr Dankwardt mit seinem Motor-rad unter widrigen Bedingungen seine Patientenbesuche:

"Die Praxis im Winter verlangte oft große Einsatzbereitschaft, und das Befahren der vereisten Straßen war gefährlich, besonders wegen der Rundung der mecklenbur-gischen Landstraßen nach beiden Seiten zwecks besseren Regenablaufs. Wie oft rutschte ich mit dem Motorrad aus und schlitterte zehn Meter weit, unter dem Motorrad liegend, auf der Landstraße dahin."145

Bis zum Jahr 1929, in dem er sich sein erstes Auto zulegte, ging Dankwardt mit dem Motorrad täglich auf Praxisfahrt.

143 Dankwardt 1997 (wie Anm. 49), 14.

144 Dankwardt 1997 (wie Anm. 49), 15.

145 Dankwardt 1997 (wie Anm. 49), 26.

Abb. 31 : Ludwig Dankwardt auf seinem Praxismotorrad, Mecklenburg, 1920er Jahre.

(Quelle: Dankwardt 1997 (wie Anm. 49), 30)

Der bereits in den Kapiteln 3.2 und 3.3 erwähnte Tierarzt Hellmuth Wunner berichtet in seiner Autobiografie von seiner tierärztlichen Tätigkeit als Assistenztierarzt in einer Praxis in Niederbayern direkt nach dem Zweiten Weltkrieg. In der unter amerikanischer Besatzung stehenden Region brach 1946 die Schweinepest aus. Durch den Ausbruch der Tierseuche und die behördlich angeordneten Impfungen erhöhte sich die tägliche Arbeit für Wunner und den Praxisinhaber erheblich:

"[...] gerieten wir durch die zusätzlichen Tätigkeiten an den Rand der Erschöpfung.

Unser Fahrzeugpark bestand lediglich aus Vorkriegsmodellen von Sachs-Leicht-motorrädern. Autos gab es noch nicht zu kaufen. Zudem bewegten wir uns fast nur auf unbefestigten Straßen."146

Auch in den Folgejahren hatte das Motorrad für Wunner weiterhin Relevanz. Nach ei-nem Arbeitsplatzwechsel in eine (nach den Beschreibungen des Autors) gut situierte und medizinisch anspruchsvolle Praxis in Mittelfranken standen den Tierärzten für die Außenpraxis sowohl ein Motorrad als auch ein Auto zur Verfügung. Bei dem Motorrad handelte es sich um eine 350er Bergmeister Victoria mit Beiwagen (Abb. 32), die

146 Wunner 1997 (wie Anm. 92), 21.

aus häufiger zum Einsatz kam, als das Auto, da dieses nur für Fahrten außerhalb der üblichen Praxisgrenzen genutzt werden durfte.147

In den biografischen Aufzeichnungen von Roland Girtler, welche bereits in den vor-hergegangenen Kapiteln Erwähnung gefunden haben, wird ebenfalls vielfach von Mo-torrädern als Praxisfahrzeug berichtet. Es handelt sich dabei in erster Linie um unter-haltsame Anekdoten aus dem Praxisalltag, die aber Aufschluss darüber geben, wel-che Relevanz das Motorrad für die tierärztliwel-che Praxis in der Zeit vor einer modernen und allseits ausgebauten Infrastruktur hatte.

Abb. 32: 350er Bergmeister Victoria, die von 1953 bis 1955 in Nürnberg produziert wurde.

(Quelle: www.N-Lange.de, 01.03.2015)

Der Tierarzt Dr. Volker Werner-Tutschku, der ab 1956 im oberösterreichischen Satt-ledt tätig war, war zu Beginn seiner beruflichen Tätigkeit darauf angewiesen, sich als Praxisfahrzeug ein Fahrrad und kurze Zeit später ein Motorrad für seine täglichen Visiten zu leihen. Die Praxis, die er von seinem Vorgänger übernommen hatte, warf anfänglich zu wenig Gewinn ab, um sich ein eigenes Fahrzeug zulegen zu können.

Innerhalb eines Jahres verbesserten sich aber die finanziellen Bedingungen für Dr.

Werner-Tutschku erheblich, so dass er ein eigenes Motorrad erwerben konnte, das nach drei Wochen Lieferzeit für ihn zur Verfügung stand. Er berichtet in seinen von Girtler niedergeschriebenen Memoiren in erster Linie von den Fahrten im Winter. Da er keine Handschuhe besaß, zog er sich dabei regelmäßig Erfrierungen an den Hän-den zu.148 Auch Stürze auf den verschneiten Straßen kamen vor, wie sein Sohn Gernot Werner-Tutschku berichtet:

147 Wunner 1997 (wie Anm. 92), 28-29.

148 Girtler 2009 (wie Anm. 1), 200-201.

" 'Einmal hat es viel Schnee gegeben. Seine Ärztetasche damals, sie hat genauso ausgesehen wie die der Landärzte, die hatte er auf das Motorrad hinten aufge-schnallt. Bei dieser Fahrt durch den Schnee kam er in einer Kurve ins Schleudern und es hat ihn umgeworfen. Die Ärztetasche ist dabei aufgegangen und die sich in der Tasche befindlichen Flaschen und Medikamente steckten im Schnee. So war es damals. Wir heute haben es leichter bei unseren Visiten.' "149

Der bereits erwähnte Dr. Franz Krawarik nutzte in der Zeit vor und während des Zwei-ten Weltkriegs verschiedene Motorräder für seine PraxisfahrZwei-ten. Eines dieser Kraft-räder erhielt er, nachdem es vom inhaftierten Oberlehrer von Vorderstoder beschlag-nahmt worden war. Allerdings lenkte Krawarik es auf den Praxisfahrten nicht selber, sondern er wurde von einem Schneidergesellen, der nicht zum Militär eingezogen wor-den war, zu seinen Patienten chauffiert.150

Auch der in Irdning im steiermärkischen Ennstal in Österreich tätige Tierarzt Dr. Gott-fried Uray nutzte ab dem Jahr 1931 ein Motorrad für den Praxiseinsatz (Abb. 33).

Abb. 33: Dr. Gottfried Uray auf seinem Praxismotorrad, Irdning in der Steiermark, 1930er Jahre.

(Quelle: Girtler 2009 (wie Anm. 1), 205)

149 Zit. in Girtler 2009 (wie Anm.1), 201.

150 Girtler 2009 (wie Anm. 1), 197.

Nicht nur die schlecht ausgebaute Infrastruktur findet in den Zeitzeugenberichten re-gelmäßig Erwähnung, auch die körperliche Last, die dadurch entstand, dem Wetter auf dem Motorrad ungeschützt ausgeliefert zu sein, spielte eine nicht unwesentliche Rolle.

Der Tierarzt Dr. Erich Sommerer aus dem Bezirk Gmunden in Oberösterreich be-richtet, dass sein Vater, der ebenfalls als Tierarzt in der Region tätig war, durch das ständige Fahren mit dem Motorrad seiner Gesundheit sehr geschadet hat, da er nach getaner Arbeit regelmäßig verschwitzt auf dem Motorrad gefahren ist. Aber auch sein Sohn nutzte dann zu Beginn seiner Praxiszeit das Motorrad seines Vaters als Fahr-zeug für seine täglichen Patientenbesuche, bis er sich dann etwa im Jahr 1960 einen VW Käfer zulegte.151

In der bereits in Kapitel 3.1 erwähnten Historie über die Tierarztpraxis Herrmann im mittelfränkischen Dachsbach wird der Tierarzt Dr. Oskar Schiller erwähnt. Es fehlt eine genaue zeitliche Angabe, wann er in dieser Praxis tätig war, der Zeitraum lässt sich allerdings auf die Jahre zwischen 1903 und 1935 eingrenzen. Es wird dabei be-schrieben, dass Oskar Schiller anfänglich in Ermangelung eines Reitpferds zu Fuß gehen musste, sich aber später ein Motorrad leisten konnte, mit welchem er allerdings nur moderate Geschwindigkeiten erreichte:

" 'Da komme ich von Uehlfeld her mit dem Motorrad, überholt mich doch ein Rad-fahrer, obwohl ich eine hohe Geschwindigkeit hatte.' "152

In der Quelle wird dieses Erlebnis nicht auf eine mögliche technische Eigenschaft des Motorrads, wie zum Beispiel eine geringe Motorisierung, sondern auf das Fahrtalent des Tierarztes zurückgeführt. Ab 1935 praktizierte dann der Tierarzt Hans Herrmann in Dachsbach und nutzte bis zur Anschaffung eines Praxiswagens im Jahr 1937 eben-falls ein Motorrad für seine Visiten.153

Die finanziellen Mittel spielten besonders in der Nachkriegszeit (hier 1950) bei der Nutzung des Motorrads eine wesentliche Rolle, wie der Tierarzt Dr. Walter Hetzer aus Windischgarsten in Roland Girtlers Buch berichtet:

"Obwohl der Vater bereits ein Auto, einen Steyrer fünfziger, hatte, fuhr er oft mit dem Motorrad. Damals waren die Zeiten so schlecht, dass man möglichst sparsam mit allem umgegangen ist, besonders mit Benzin. Daher fuhren wir nicht mit dem Auto."154

Auch Teda Bork schreibt in ihrem Roman "Er und ich und neues Leben", welcher bereits in Kapitel 3.3 erwähnt wurde, dass ihr Mann zu Beginn seiner Tätigkeit zuerst ein Fahrrad, darauf folgend für einige Monate ein Reitpferd und ab dem Frühjahr 1947 ein Motorrad als Praxisfahrzeug nutzte. Dieses war vorerst nur geliehen und aufgrund von Mängeln in der technischen Ausführung sowie hinsichtlich Komfort bei seiner Ehefrau nicht sehr beliebt. Im Sommer desselben Jahres wurde dann ein eigenes Mo-torrad mit Beiwagen angeschafft:

151 Zit. in Girtler 2009 (wie Anm. 1), 62.

152 Zit. in www.tierarztteam.de (wie Anm. 28).

153 www.tierarztteam.de (wie Anm. 28).

154 Zit. in Girtler 2009 (wie Anm. 1), 53.

"Auch auf dem verkehrstechnischen Sektor hatten wir einen Fortschritt zu ver-zeichnen. Ich brauchte nämlich nicht mehr auf unserem Ein-Raste-Stinkadores mit in die Gegend zu flitzen. Seit August saß ich mit stolz geschwellter Brust auf einem vernünftigen Krad mit Beisitz und allen Schikanen."155

Besonders die Autorin und Ehefrau des Tierarztes profitierte von diesem Neuerwerb, da sie häufig zur Unterstützung ihres Mannes auf die täglichen Praxisfahrten mitge-nommen wurde und das zuvor geliehene Modell nicht für Fahrten mit einem Beifahrer vorgesehen war. Aber trotz der Freude über das neue Praxisgefährt beschreibt die Autorin auch die widrigen Umstände, dem Wetter ungeschützt ausgeliefert zu sein:

" 'Du musst dich eben warm anziehen, es hilft nichts. Ein Auto haben wir nicht.' Ein Auto? Ob wir so etwas Wunderbares je besitzen würden? Das war unausdenkbar.

Konnte man Praxis wirklich ganz bequem in einem Wagen machen, ohne bis auf die Haut zu durchnässen, zu Eis zu erstarren oder Sonnenstich und Staubver-giftung davonzutragen? So einen Luxus konnte ich mir kaum vorstellen. Da musste man mit Wonne Tierarzt sein. Das dachte ich, als ich in einen alten Militärmantel gehüllt, hinter Hans durch strömenden Regen und zerrenden Wind, spritzenden Schlamm und über rutschende Feldwege fuhr."156

Auch wenn zuerst die Freude über das neue Motorrad überwog und in diesem Fall besonders aus finanziellen Gründen der Erwerb eines Autos nicht in Frage kam, zeigt sich auch hier deutlich die Tendenz zur Nutzung eines Fahrzeugs, das den größt-möglichen Komfort für den Fahrer resp. Beifahrer bietet.

Hedy Zehetner, Ehefrau des Tierarztes Dr. Franz Zehetner aus Viehdorf im Bezirk Amstetten in Niederösterreich, fuhr bis in die 1950er Jahre ebenfalls als Assistentin regelmäßig mit ihrem Ehemann auf dem Motorrad zu den Visiten. Sogar hoch-schwanger oder mit einem Säugling im Kinderwagen begleitete sie weiterhin ihren Ehemann. Klaus Zehetner, jüngster Sohn der Familie, berichtet darüber:

' "Meine Mutter war eine Abenteurerin als Beifahrerin auf dem Motorrad meines Vaters, denn manchmal hat sie den Kinderwagen, in dem mein ältester Bruder lag, hinten nachgezogen und mein Vater ist gefahren." '157

Vom Tierarzt Dr. Rudolf Lessing ist in dem Buch „Gespräche mit einem Pferdemann:

Dr. Rudolf Lessing“ von Dietbert Arnold, das bereits in Kapitel 3.2.1 erwähnt wurde, ein Foto abgebildet (Abb. 34), das diesen im Jahr 1936 in Berlin auf einem Motorrad zeigt158. Eine genaue Angabe, wofür Lessing das Motorrad zu diesem Zeitpunkt nutzte, findet sich in der Quelle nicht. Allerdings war Lessing im Jahr 1936 bereits Soldat sowie Student der Tiermedizin an der Tierärztlichen Hochschule Hannover, weswegen davon auszugehen ist, dass es sich bei dem abgebildeten Motorrad noch nicht um ein

Abb. 34: Dr. Rudolf Lessing, Berlin 1936.

(Quelle: Arnold 1995 (wie Anm. 45), 63)

In einem Online-Artikel der Neuen Osnabrücker Zeitung aus dem Jahr 2007 über die Tierarztpraxis Grußendorf im niedersächsischen Bramsche wird berichtet, dass der Gründer der Praxis, Dr. Helmut Grußendorf, bis 1934 ausschließlich mit dem Motorrad seine Praxisfahrten absolvierte (Abb. 35). Wie auch schon der Tierarzt Hetzer in Girt-lers Buch erwähnte, spielte die finanzielle Situation auch bei Grußendorf eine Rolle.

Obwohl bereits ein Automobil zur Verfügung für den Einsatz in der Praxis stand, wurde weiterhin überwiegend das Motorrad genutzt, da es im Unterhalt wesentlich kos-tengünstiger war.159 Bei dem abgebildeten Motorrad handelt es sich um ein Fabrikat des Herstellers DKW160, möglicherweise um das Modell Block 200, das im Jahr 1931 die meisten Zulassungen in Deutschland aufwies.161

Auf der Besamungsstation Bauer, die 1948 im oberbayerischen Wasserburg am Inn gegründet wurde, hatte der Tierarzt Dr. H. G. Roder über 30 Jahre lang das Amt des Stationstierarztes inne. Die künstliche Besamung etablierte sich zu Beginn der 1950er Jahre aufgrund der hohen wirtschaftlichen Verluste für die Landwirtschaft durch die Trichomonaden-Deckseuche. Unter der Leitung von Dr. Roder führten mehrere Besa-mungstechniker (Abb. 36) die künstlichen Besamungen in den Milchviehbeständen rund um Wasserburg aus. Dabei wurden gerade in den Anfangsjahren Motorräder genutzt.162

159 Onlineartikel: "Als der Tierarzt mit dem Motorrad kam", 18.10.2007. In: Neue Osnabrücker Zeitung.

www.noz.de/artikel/347663/als-der-tierarzt-mit-dem-motorrad-kam, 20.01.2015.

160 Schriftliche Mitteilung Dr. Carsten Grußendorf, 04.06.2015.

161 Werbeanzeige DKW Block 200, 1930er Jahre. In: www.dkw-autounion.de, 12.02.2015.

162 www.bauer-besamung.de/historien.html, 02.02.2015.

Die bereits eingangs dieses Kapitels erwähnte große Zahl der Motorradhersteller in Deutschland spiegelt sich auch in den Werbeanzeigen für Fahrzeuge wider. Beson-ders ab den 1920er bis in die 1950er Jahre hinein findet man diese gehäuft in den tier-medizinischen Fachzeitschriften, wie beispielsweise in der Tierärztlichen Rundschau, wo dann mitunter auch gezielt für Modelle geworben wird, die „Für Aerzte besonders geeignet“ (Abb. 37) sind163. Eine Bevorzugung einer bestimmten Marke oder eines be-stimmten Modells ist dabei allerdings nicht auszumachen.

Abb. 35: Dr. Helmut Grußendorf (rechts) mit einem Kollegen auf einer DKW Block, Bramsche, 1930er Jahre.

(Quelle: www.tiergesundheitszentrum.com/infos-ueber-uns/historie;

schriftliche Mitteilung Dr. Carsten Grußendorf, 05.06.2015)

163 Triumph Werke Nürnberg, Werbeanzeige (1921): Triumph Knirps. In: Tierärztl. Rdsch. 27 (17), Einlegeblatt.

Abb. 36: Besamungstechniker der Besamungsstation Bauer, vermutlich auf BMW-Maschinen. Hinten links stehend Tierarzt Dr. H. G. Roder.

Wasserburg am Inn, 1950er Jahre.

(Quelle:www.bauer-besamung.de/historien, 02.02.2015)

Abb. 37: "Für Aerzte besonders geeignet"

Werbeanzeige Triumph Knirps (1921). (Quelle: Tierärztl. Rundschau 27 (17), Einlegeblatt)

Abb. 38: Der "Golem", ein Sesselmotorrad, wird mit einem Arzt als Fahrer als "für alle Berufe das beste Motorrad" beworben. Werbetafel von 1920.

(Quelle: www.dkw-autounion.de, 12.02.2015)

Die Auswertung der Quellen zeigt auf, dass das Motorrad einen hohen Stellenwert als tierärztliches Praxisfahrzeug hatte. Die Nutzung hatte eindeutige betriebswirtschaft-liche Hintergründe, da in den Quellen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sehr häufig über die hohen Automobilpreise und darauf bezogen über die Anschaffung eines Motorrads berichtet wird. Somit waren neben den relativ geringen Anschaffungs- und Unterhaltungskosten die Vorteile eines in der Praxis genutzten Motorrads die gu-ten Fahreigenschafgu-ten (auch in unebenem Gelände) sowie die durch die hohen Ge-schwindigkeiten erreichte Zeitersparnis. Nachteilig war der mangelhafte Schutz vor Wind und Wetter, was vereinzelt sogar zu körperlichen Schäden bei den Fahrern führte. In den meisten Fällen folgte auf die Nutzung des Motorrads die Anschaffung eines Autos, vereinzelt wurde sogar dann noch das Motorrad bevorzugt als Praxis-fahrzeug genutzt, wenn schon ein Automobil zur Verfügung stand.

Im Dokument Der Tierarzt kommt! (Seite 61-75)