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Zu Wasser

Im Dokument Der Tierarzt kommt! (Seite 116-0)

3 Tierärztliche Fortbewegungsmittel

3.6 Außergewöhnliche tierärztliche Fortbewegungsmittel

3.6.2 Zu Wasser

Der bereits im Kapitel 3.3 erwähnte Tierarzt Dr. Karl-Ludwig Solaro zählt sowohl seine Heimatinsel Norderney als auch die umliegenden Inseln wie Juist und Borkum zu sei-nem Praxisbereich. Auf der autofreien Nachbarinsel Juist, die er mehrmals die Woche mit der Fähre von Norderney besucht (Abb. 72), erledigt er nach dem Übersetzen seine Patientenbesuche mit dem Fahrrad und einem Anhänger, auf dem Medikamente und Instrumente verstaut sind. Dabei ist er streng auf die Fährzeiten angewiesen, was für ihn den Zeitdruck bei den Patientenbesuchen erheblich erhöht. Häufig kommt es vor, dass deswegen Termine trotz vorhergegangener Planung nach Dringlichkeit abgear-beitet und weniger dringliche Fälle auf die Folgetage verschoben werden müssen.242 Für die drei Kilometer entfernte Insel Juist benötigt man mit der Fähre "Frisia X", die generell nur für Tagesausflüge eingesetzt wird, eine Fahrzeit von ungefähr 40 Minuten.

Abb. 72: Tierarzt Dr. Karl Ludwig Solaro im Mai 2015 auf der Fähre von Norderney nach Juist.

(Quelle: www.nomo-norderney.de/tierarztpraxis-in-der-nordstory, 15.08.2015)

Etwa einmal die Woche steht Dr. Solaro in der Sommersaion den Patienten auf den Nachbarinseln zur Verfügung. Früher nutzte er sein privates Boot für diese Fahrten, heute setzt er mit der hauptsächlich touristisch genutzten Fähre über.243

Ähnlich ist die Situation auch auf den anderen friesischen Inseln. Zum Beispiel sind auch auf Wangerooge Patienten auf die Betreuung durch Tierärzte vom Festland an-gewiesen. Für Notfälle führt dieser Umstand durch die verlängerte Zeitspanne bis zur Versorgung des Patienten mitunter zu lebensbedrohlichen Zuständen. Dr. Solaro kann in solchen Fällen auch auf ein Kleinflugzeug zurückgreifen (s. Kapitel 3.6.3).

242 www.ndr.de, 15.08.2015 (wie Anm. 135).

243 Solaro, Karl-Ludwig (2015): mündliche Mitteilung, 31.08.2015.

Auch der Inseltierarzt Dr. Mathias Sielaff, der gemeinsam mit seiner Frau Meike Rupp-ertz seit dem Jahr 1994 eine Gemischtpraxis auf der nordfriesischen Insel Pellworm führt, ist auf das Boot als Fortbewegungsmittel angewiesen (Abb. 73). Sein Praxisge-biet schließt die Hallig Hooge mit ein, auf die er durch die Abholung eines auf der Hallig wohnhaften Bootsbesitzers übersetzen kann. Allerdings sind die Überfahrtzeiten nach Hooge an die Wasserstände der Nordsee gebunden, was eine Überfahrt nur jeweils zweieinhalb Stunden vor bzw. nach Hochwasser möglich macht, da zwischen Pell-worm und der Hallig Hooge kein schiffbares Pril existiert. Eine Überquerung dauert bei normaler Witterung etwa fünfzehn Minuten. Insgesamt stehen dem Tierarzt damit ca.

fünf Stunden für die Überfahrten und die Behandlungen der Patienten zur Verfügung.

Die Betreuung von Notfällen kann somit außerhalb der Fahrzeiten nicht gewährleistet werden. Auch die Höhe des Wegegeldes muss der umständlichen Anfahrt angepasst werden, was somit zu Mehrkosten für die Besitzer führt.244

Abb. 73: Tierarzt Dr. Mathias Sielaff auf dem Weg von Pellworm nach Hooge, 2011.

(Quelle: www.appelhof-pellworm.de, 26.08.2015)

244 www.appelhof-pellworm.de/107/appelhof/tieraerzte, 26.08.2015.

In der im US-Bundesstaat Maine gelegenen Casco Bay bietet der Tierarzt Dr. John Flood einen "Island Veterinary Service" (Abb. 74) für die zu der Region gehörenden Inseln Peaks Island, Great Diamond Island, Little Diamond Island, Long Island, Che-beague Island und Cliff Island an. Dabei steuert er mit seinem Boot, der "Rita Joan", an vier bis fünf festgelegten Tagen im Monat zur Behandlung von Klein- und Nutztieren die Bootsanlegestellen auf diesen Inseln an. Es ist den Tierbesitzern zwar möglich, Termine außerhalb der festgelegten Sprechzeiten zu vereinbaren, für eine Notfall-betreuung steht der "Island Veterinary Service" allerdings nicht zur Verfügung. Flood, der im Jahr 1977 in Neuseeland approbierte und im Laufe der Jahre unter anderem auch Inhaber einer Tierklinik war, arbeitet heute ausschließlich ambulant auf seinem Boot.245

Abb. 74: Dr. John Flood untersucht auf einem Bootsanlegesteg einen Hund. Maine, USA, 2015.

(Quelle: www.islandvetservice.com/, 18.08.2015)

245 http://www.islandvetservice.com/, 18.08.2015.

Der in Schönhausen (Sachsen-Anhalt) ansässige Tierarzt Christian Löffler war im Jahr 2013 unmittelbar von den Folgen des Elbe-Hochwassers betroffen. Nach dem Deich-bruch im angrenzenden Fischbeck war die Gemeinde Schönhausen vollständig von den Wassermassen eingeschlossen. Um seine Praxis und auch dringende Notfälle er-reichen zu können, musste Löffler mit einem Faltboot (Abb. 75) die überfluteten Ge-biete durchqueren.246

Abb. 75: Elbhochwassers 2013: Dr. Christian Löffler paddelt gemeinsam mit seiner Ehefrau in das vom Wasser eingeschlossene Dorf Schönhausen in Sachsen-Anhalt.

(Quelle: www.freiepresse.de/BILDERGALERIEN/index.php?gal=18960&bild=2, 17.05.2013)

246 www.freiepresse.de/BILDERGALERIEN/index.php?gal=18960&bild=2, 17.05.2013.

3.6.3 In der Luft

Das Flugzeug oder auch andere flugfähige Fortbewegungsmittel sind in der tierärzt-lichen Praxis sicher nicht alltäglich. Es sind grundsätzlich außergewöhnliche Umstän-de, die Tierärzte dazu gebracht haben oder bringen, ein Fluggerät für die Fortbewe-gung in der Praxis zu nutzen oder sich gar ein eigenes zuzulegen.

Dr. Bernhard Grzimek, der bereits in Kapitel 3.5 Erwähnung gefunden hat, machte im November 1957 gemeinsam mit seinem Sohn Michael die Prüfung zum Erwerb des Luftfahrscheins des Landes Hessen. Noch während der Flugstunden kauften sich Va-ter und Sohn ein eigenes Flugzeug. Ihre Wahl fiel dabei auf das Modell Do 27-B1 des deutschen Flugzeugbauers Dornier. Dieses ist ein leichtes Mehrzweckflugzeug, mit dem Starten und Landen auch auf kurzen und unbefestigten Pisten möglich ist, was somit sehr gut für die Bedingungen in Afrika geeignet war. Der Anschaffungspreis für das Flugzeug, das eine Flügelspannweite von 12 Metern und ein Leergewicht von etwa tausend Kilogramm aufwies, lag bei 125.000 Mark. Zusätzlich wurden in der Do 27 noch ein zweiter Tank sowie diverse Haltevorrichtungen für Film- und Fotoausrüstung eingebaut. Im Oktober 1957 wurde auch die auffällige, im Zebrastreifenmuster ausgef-ührte Außenlackierung fertiggestellt.247 So kam das Flugzeug mit der Kennung "D-ENTE" dann auch zu seinem Spitznamen "Zebraflugzeug" (Abb. 76), was Bernhard Grzimek folgendermaßen kommentierte:

" 'Vielleicht kommt es dann den Tieren in der Serengeti, wo abertausende Zebras herumlaufen, nicht ganz so technisch und fremd vor. Vor allem aber findet man das kleine Ding leichter wieder, wenn wir einmal Bruch machen und irgendwo in Afrika gesucht werden.' "248

Am 11. Dezember 1957 brachen Bernhard und Michael Grzimek mit ihrem Flugzeug gen Afrika auf. Ihre 14-tägige Flugroute führte sie über die Schweiz, Spanien, Gibraltar, Algerien, Tunesien, Libyen, Ägypten, Sudan und Uganda nach Kenia. Die einzige Möglichkeit zur Navigation bestand auf der gesamten Reise nur aus einem Radiokom-pass und einem Autoatlas. Das endgültige Ziel dieser Reise war der Ngorongorokrater im Nordosten Tanganjikas, in welchem die beiden Grzimeks eine Bestandsaufnahme und Katalogisierung der im Krater beheimateten Tierarten vornehmen wollten.249 Im Januar 1958 kehrten Vater und Sohn vorerst mit einem Linienflug nach Deutschland zurück, da beiden nur eine begrenzte Zeit Urlaub für ihre Forschungsarbeit zur Verfü-gung stand und Bernhard Grzimek außerdem die Feier zum 100-jährigen Bestehen des Frankfurter Zoos vorbereiten musste, dessen Leiter er zu diesem Zeitpunkt war.

Erst im Mai 1958 konnte dieser seinem Sohn, der bereits im März desselben Jahres wieder in die Serengeti aufgebrochen war, für gerade einmal eine Woche Aufenthalt nach Afrika folgen.250 Im Frühjahr 1958 hatte Michael Grzimek einen ersten Unfall mit dem Zebraflugzeug (Abb. 77), wobei er nur leicht verletzt wurde und das Flugzeug nach der Beschaffung von Ersatzteilen aus Deutschland vorort wieder flugfähig ge-macht werden konnte.251

Abb. 76: Bernhard (li.) und Michael (2.v.li.) Grzimek gemeinsam mit Hermann Gimbel (2.v.r.) und einem afrikanischen

Mitarbeiter 1958 in der Serengeti.

(Quelle: www.okapiagate.picturemaxx.com, 19.07.2015)

Abb. 77: Michael Grzimeks erster Unfall mit dem Zebraflugzeug im Frühjahr 1958 in der afrikanischen Serengeti.

(Quelle: pa/dpa)

Während der Reparaturzeit stand den Forschern ein Ersatzflugzeug zur Verfügung, das nicht von den Grzimeks selber sondern von einer Pilotin gesteuert wurde, da beide diesen Flugzeugtyp nicht kannten und sie kein unnötiges Risiko eingehen wollten. Im Oktober 1958 ereignete sich dann der zweite Unfall mit der Do 27, bei dem das Flug-zeug durch eine für die Filmaufnahmen notwendige Flughöhe ein am Boden davon-laufendes Gnu streifte, wodurch eines der beiden Fahrwerke abgerissen wurde.

Michael Grzimek konnte die defekte Maschine dann allerdings noch auf dem Wilson Airport in Nairobi notlanden, ohne dass zusätzlicher Schaden an Menschen und Ma-schine entstand. Am Morgen des 11. Januar 1959 allerdings erhielt Bernhard Grzimek eine schriftliche Nachricht, dass sein Sohn am Vortag während des Fliegens im Krater mit dem Zebraflugzeug tödlich verunglückt sei. Michael Grzimek hatte seinen Vater gebeten, einmal nicht mit ihm zu fliegen, da er stattdessen zwei Mitarbeiter des For-schungs- und Filmteams nach einer Übernachtung bei Bekannten im nahegelegenen Banagi in der nur mit drei Sitzplätzen ausgestatteten Maschine mitnehmen wollte. Bis heute ist der genaue Hergang des Unglücks nicht rekonstruierbar.252 Das Zebraflug-zeug allerdings wurde 50 Jahre nach dem Absturz aus dem Krater geborgen und nach Deutschland überführt, wo es seit Juni 2009 im Deutschen Technikmuseum Berlin als Ausstellungsstück zu besichtigen ist253.

Der Tierarzt Dr. Steffen Kappelmann, der im baden-württembergischen Sachsenheim bei Stuttgart eine Gemischtpraxis betreibt, benutzt regelmäßig für seine Patientenbe-suche in seinem Praxisgebiet, das sich auf rund 30 km Umkreis erstreckt, einen Ul-traleicht-Tragschrauber. Die Intention, sich für den Einsatz in der Praxis ein Fluggerät zuzulegen, beruht auf einer Situation aus dem Jahr 2004. Während er sich gerade bei einem anderen Patienten befand, wurde er notfällig zu einer Schwergeburt bei einer Kuh gerufen. Für die knapp 30 km lange Strecke benötigte er mehr als eine Stunde Anfahrtszeit, was durch die Verkehrslage rund um Stuttgart bedingt war. Bei seiner Ankunft konnte das Kalb nur noch tot entwickelt werden. Kappelmann begann nach dieser Situation ernsthaft über das Fliegen als alternative Fortbewegung im Rahmen seiner Praxis nachzudenken. Nach längerem Kalkulieren investierte er im Jahr 2009 25.000 Euro in den Erwerb der Privatpilotenlizenz für Hubschrauber und weitere 46.000 Euro in einen gebrauchten, zweisitzigen Ultraleichtschrauber (Abb. 78), der mit einem 100 PS starken Motor ausgestattet ist und innerhalb von fünf Minuten flugbereit gemacht werden kann.254 Die Betriebskosten für den Tragschrauber entsprechen hin-sichtlich des Kraftstoffverbrauchs dabei denen für einen VW Passat mit einem etwa 100 PS starken Motor, allerdings ermöglicht das Fliegen ihm, doppelt so schnell bei einem Notfall sein zu können, als wenn er das Auto nutzen würde.255

Laut dem Bundesverband praktizierender Tierärzte (BpT) ist Kappelmann der einzige berufsbedingt fliegende Tierarzt Deutschlands. Alle zwei Wochen ist sein Fluggerät im Einsatz, um weiter entfernt gelegene Höfe aufzusuchen, wobei er nur zwanzig Flug-minuten für den Weg benötigt, der ihn sonst eine Stunde Fahrtzeit mit dem Auto ge-kostet hätte. Da Kappelmann nur die Privatpilotenlinzenz besitzt, ist er bei seinen Flug-touren allerdings an staatliche Konventionen gebunden: das Gesetz erlaubt ihm maxi-mal fünfzig Flüge pro Jahr. Außerdem sind für Privatpiloten nur Starts und Landungen

252 Sewig 2009 (wie Anm. 20), 245-249.

253 www.aerokurier.de/general-aviation/motorflug/grzimeks-zebraflugzeug-im-museum/495702, 09.08.2015.

254 Kinzelmann 2014 (wie Anm. 21).

255 Kappelmann, Steffen: schriftliche Mitteilung, 09.09.2015.

auf Flächen zulässig, die mindestens fünfzig Meter Start- und zehn Meter Ausrollbahn aufweisen. Für 27 Höfe besaß Kappelmann im Jahr 2014 eine solche Zulassung. Auch von der Witterung ist der Einsatz des Hubschraubers abhängig, weswegen der Tierarzt bei schlechter Witterung sein Praxisauto nutzt.256

Abb. 78: Dr. Steffen Kappelmann in seinem Ultraleichthubschrauber. Stuttgart, 2014.

(Quelle: dpa)

Der bereits im vorherigen Kapitel erwähnte Inseltierarzt Dr. Ludwig Solaro nutzt neben der Fähre zu den Nachbarinseln von Norderney aus auch regelmäßig ein Flugzeug.

Dieses wird allerdings nicht von ihm selbst gesteuert, sondern von einem der zwei pro-fessionellen Piloten, die in der Hauptsaison fast täglich vom niedersächsischen Harle-siel aus die ostfriesischen Inseln anfliegen. Dabei nutzt der Tierarzt das Flugzeug in erster Linie für wirklich dringende Notfälle. Auch im Winter, wenn es aufgrund der eingeschränkten Fährzeiten im Winterfahrplan und der allgemeinen Witterung zu Schiffsausfällen kommen kann, sind die Flugzeuge eine gute Alternative, um zu den Patienten zu gelangen. Auch wenn die Notfallversorgung so schneller gewährleistet werden kann, müssen je nach Verfügbarkeit eines Fliegers pro Weg eine bis vier Stun-den Anfahrtsdauer kalkuliert werStun-den. Ab Stun-den späten NachmittagsstunStun-den und nachts ist eine Nutzung der Flugzeuge allerdings nicht mehr möglich.257

Nicht nur der Luftraum sondern auch das Weltall wurde bereits von Tierärzten im Rah-men ihrer beruflichen Tätigkeit erobert. Der US-amerikanische Tierarzt Dr. Richard Michael Linnehan, der im Jahr 1985 am Ohio State University College of Veterinary Medicine approbierte, wurde im Jahr 1992 von der amerikanischen National Aeronau-tics and Space Administration (kurz: NASA) angeworben. Nach seiner Ausbildung zum Astronauten flog Linnehan in den Jahren 1996 bis 2008 insgesamt viermal ins All und forschte unter anderem an den Auswirkungen von Schwerelosigkeit auf den

256 Kinzelmann 2014 (wie Anm. 21).

257 Solaro, Karl-Ludwig (2015): mündliche Mitteilung, 31.08.2015.

nismus sowie der Rolle von Corticosteroiden beim Knochenschwund während eines Raumflugs an Ratten.258 Ebenso war der US-amerikanische Tierarzt Dr. Martin Joseph Fettman, der 1976 an der Cornell University in Ithaca im US-Bundesstaat New York approbierte und 1980 dort auch promovierte, als Spezialist im Einsatz für die NASA tätig. Im Oktober 1993 startete er mit der Raumfähre Columbia (Abb. 79) zur Spacelab-Mission Spacelab Life Science 2 (SLS-2), während dieser unter anderem die Effekte von Schwerelosigkeit auf die Hintergliedmaßen von Ratten anhand von elektronenmi-kroskopischen, histochemischen und biochemischen Aktivitäten beobachtet werden sollten. Für Fettman war dies die erste und einzige Mission als aktiver Astronaut, danach widmete er sich der Forschung und Lehre als Professor für Pathologie am veterinärmedizischen Institut der Colorado State University, USA.259

Abb. 79: Spaceshuttle Columbia beim Start, 12. April 1981, Kennedy Space Center, Florida, USA.

(Quelle: NASA photo)

258 http://www.jsc.nasa.gov/Bios/htmlbios/linnehan.html, 11.08.2015.

259 http://www.nasa.gov/mission_pages/shuttle/shuttlemissions/archives/sts-58.html, 11.08.2015.

4 Abrechnung von Wegegeld

Am 21. Juni 1815 wurde erstmals eine vereinheitlichte Taxe für die Abrechnung medi-zinischer Leistungen auf preußischem Hoheitsgebiet eingeführt. Diese "Preußische Medicinal-Taxe" stellte ab diesem Zeitpunkt die Abrechnungsgrundlage für alle medi-zinischen Berufe in Deutschland dar, hierarchisch gegliedert nach ihrer sozialen Stell-ung in der Gesellschaft: Ärzte, Wundärzte, Geburtshelfer, Zahnärzte, gerichtliche Ärz-te, Tierärzte. Es ist also der letzte Abschnitt VI der Vorschrift, der sich mit der "Taxe für Thierärzte" befasst. Für die Abrechnung von Wegegeld galt folgende Berechnungs-grundlage:

"1. Der Lehrer einer Thierarzneischule oder ein Thierarzt, der zugleich als Arzt approbirt ist, bekommt für seine Bemühungen bei Epizootien (Viehseuchen) an Die-ten, Meilengebühren u.s.w., wie die Physiker [darunter ist ein Physikus = Amtsarzt zu verstehen] bei Epidemien.

2. Die übrigen Thierärzte empfangen die Hälfte von dem, was die unter Nr. 1 ge-nannten bekommen.

3. Wird ein Thierarzt von Nr. 1 an dem Orte gefordert, um über ein oder mehrere Thiere seinen Rath zu ertheilen, so empfängt er dafür 20 Ggr. [Guter Groschen] bis 1 Rthlr. [Reichsthaler]260. Der Thierarzt von Nr. 2 bekommt 10 bis 20 Ggr.

4. Falls es an einem anderen Orte ist, so finden Meilengelder und Dieten wie bei Nr.

1. und 2. statt."261

Privattierärzten (= nicht beamtete Tierärzte) stand auf Grundlage der Taxe von 1815 somit grundsätzlich nur die Hälfte dessen zu, was für beamtete Tierärzte vorgesehen war.

Im Jahr 1837 wurden der Taxe Ergänzungen und Abänderungen hinzugefügt, die unter anderem auch die Liquidation von Reisekosten betrafen, in diesem Fall explizit bezo-gen auf eine amtliche Bestellung des Tierarztes. Die daraus resultierenden Kosten, die der Tierarzt in Rechnung stellen konnte, wurden mit Mitteln aus der Staatskasse liqui-diert. In Absatz b) wird außerdem deutlich, dass den Privattierärzten Vergütungen in gleicher Höhe zustanden wie den humanen Wundärzten.

260 Anmerkung: ein Reichsthaler hatte im Jahr 1815 einen Gegenwert von 24 Guten Groschen. Der Kaufkraft der damaligen Zeit entsprechend kostete ein Pfund Butter 3 Gute Groschen.

261 Die Preußische Medicinal-Taxe für Aerzte, Wundärzte, Geburtshelfer, Zahnärzte, gerichtliche Aerzte und Thierärzte vom 1. Juni 1815. Ergänzungen und Abänderungen von 1837. A. W. Hahn, Berlin, 28-29.

Ergänzungen und Abänderungen:

"a) In denjenigen Fällen, wo ein K r e i s t h i e r a r z t zur Liquidation seiner Reisekosten nach dem Dienstreglement v. 28. Febr. 1816, Behufs der Erstattung aus der Staatskasse berechtigt ist, wird ihm derselbe Satz, wie den Kreischirurgen, nämlich 1 Rthlr. per Tag gewährt. Rv. 27. März 1824. A. S. 292.

b) Den T h i e r ä z t e n zweiter Klasse oder den Kreisthierärzten stehen für die Abwartung eines gerichtlichen Termines, für das Verschreiben eines Recepts in eigener Wohnung ec. dieselben Sätze zu, welche die Taxe in gleichen Verhältniss-en dVerhältniss-en WundärztVerhältniss-en dafür aussetzt. R.v. 17. Aug. 1825. A. S. 762."262

Neben der Taxordnung Preußens von 1815 und der wesentlich später erlassenen tier-ärztlichen Taxe Bayerns von 1872 gab es auch in Hessen eine "Allgemeine Medicinal-Taxordnung", die durch Erlass des kurfürstlich hessischen Ministerium d.I. [des Inn-ern] am 23. Mai 1866 beschlossen wurde und auch für Tierärzte Gültigkeit besaß. Auf dieser Grundlage erhielten Tierärzte zur Abrechnung ihres Wegegeldes zwei Drittel der für Ärzte vorgesehenen Entschädigungshöhe:

"§. 34. Bei Geschäften ausserhalb ihres Wohnortes dürfen die Thierärzte an Meilen-geldern und Transportkosten, sowie für Zeitversäumniss, wie die nicht zur innern Praxis berechtigten Wundärzte nach §. 21 berechnen […]

Bei Geschäften außerhalb seines Wohnortes erhält der Arzt neben den Gebühren für die besondere Verrichtung:

A bei Benutzung gewöhnlicher Transportmittel:

1) An Meilengeldern für jede ¼ Postmeile [1 Postmeile = 7,59 Kilometer], vom Wohnorte des Arztes an gerechnet, 8 bis 12 Sgr. [Silbergroschen], jedoch nicht über 6 bis 8 Thlr. [Thaler] für einen Tag.

2) Für Transportmittel, gleichviel ob er dieselben benutzt oder nicht, für jede ¼ Postmeile 10 Sgr.

a) Erreicht die Entfernung eine volle ¼ Postmeile nicht ganz, so wird der Besuch wie ein erster Besuch am Wohnorte berechnet.

b) Erreicht die Entfernung nach der ersten ¼ Postmeile, eine weitere ¼ Postmeile nicht, so wird zu bis ⅛ Postmeile die Hälfte der obigen Sätze, über ⅛ Postmeile der volle Satz gutgethan.

c) Transportkosten werden nicht vergütet, wenn sich der Arzt eines ihm gestellten Transportmittels bedient.

d) Bedient sich der Arzt bei Mangel eines eigenen Transportmittels unter Beistimmung des Kranken oder in Eilfällen einer Miethfuhre, so werden ihm die gehabten Auslagen ersetzt. Sämmtliche Bestimmungen und Ansätze für Meilengelder und Transportkosten begreifen die Hin- und Zurückreise in sich."263

262 Preußische Medicinaltaxe (wie Anm. 261), 31.

263 Adam, Theodor; Probstmayr, Wilhelm (1867): Regulativ zur Feststellung der thierärztlichen Gebühren-Rechnungen. In: Wochenschrift für Thierheilkunde und Viehzucht 11 (2), 14-15.

Zusätzlich deckte das Regulativ noch die Abrechnung zurückgelegter Wege mit der Eisenbahn ab. Demnach erhielt der Tierarzt pro Stunde Abwesenheit von seinem Wohnort 20 Silbergroschen bis 1 Thaler (zum Vergleich: im Jahr 1866 kostete 1 kg Roggenbrot etwa drei Silbergroschen264). Allerdings musste sichergestellt sein, dass die Reise mit der Bahn nötig und nicht langsamer als mit einem Wagen war. Bei Nacht-besuchen durfte der Tierarzt den zweifachen Satz an Wegegeldern in Rechnung stell-en.265 In den Erlassen erfolgt die Abrechnungsgrundlage nach der Klasse der Tier-ärzte. Beamtete Tierärzte wurden grundsätzlich höher vergütet als nicht beamtete.

Das tierärztliche Zweiklassensystem existierte in Preußen von 1838 bis 1855. Für ei-nen Tierarzt erster Klasse setzte man die Sekundareife und ein Studium mit einer Min-destdauer von sieben Semestern voraus. Für Berufsanwärter, die lediglich einen Volksschulabschluss vorweisen konnten, war nach maximal sechs Semestern die Approbation zum Tierarzt zweiter Klasse möglich. Erst ab Mitte des 19. Jahrhunderts wurde an den meisten tiermedizinischen Lehranstalten Deutschlands die Obersekun-dareife als Zulassungsvoraussetzung verlangt. Tierärzte waren zu diesem Zeitpunkt den anderen akademischen medizinischen Berufen noch nicht gleichgestellt. Vorraus-setzung dafür war eine Abgrenzung zu anderen, sich mit der Tierheilkunde befass-enden Berufen wie den sog. Heilkundigen oder Kurpfuschern. Eine wichtige Grundlage dafür bildete die Gewerbeordnung des Norddeutschen Bundes aus dem Jahr 1869, in welcher in § 29 eine Zuordnung der Tierärzte zu den Ärzten erfolgte. Außerdem wurde

Das tierärztliche Zweiklassensystem existierte in Preußen von 1838 bis 1855. Für ei-nen Tierarzt erster Klasse setzte man die Sekundareife und ein Studium mit einer Min-destdauer von sieben Semestern voraus. Für Berufsanwärter, die lediglich einen Volksschulabschluss vorweisen konnten, war nach maximal sechs Semestern die Approbation zum Tierarzt zweiter Klasse möglich. Erst ab Mitte des 19. Jahrhunderts wurde an den meisten tiermedizinischen Lehranstalten Deutschlands die Obersekun-dareife als Zulassungsvoraussetzung verlangt. Tierärzte waren zu diesem Zeitpunkt den anderen akademischen medizinischen Berufen noch nicht gleichgestellt. Vorraus-setzung dafür war eine Abgrenzung zu anderen, sich mit der Tierheilkunde befass-enden Berufen wie den sog. Heilkundigen oder Kurpfuschern. Eine wichtige Grundlage dafür bildete die Gewerbeordnung des Norddeutschen Bundes aus dem Jahr 1869, in welcher in § 29 eine Zuordnung der Tierärzte zu den Ärzten erfolgte. Außerdem wurde

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