• Keine Ergebnisse gefunden

4. AKTUELLE FORSCHUNGEN ZUM THEMA SCHULISCHE INKLUSION

4.9. D ISKUSSIONEN UND U NEINIGKEITEN RUND UM DAS T HEMA S CHULISCHE I NKLUSION

Da es keine allgemeingültige Definition von Inklusion bzw. i.e.S. Schulischer Inklusion gibt, herrschen bezüglich dieser Thematik auch verschiedene Auffassungen.

Science.ORF.at lud den Bildungswissenschaftler Bernd Ahrbeck und die Menschenrechtsexpertin Marianne Schulze ein, um über Schulische Inklusion und die Abschaffung der Sonderschulen zu diskutieren. Beide sprechen sich für das Wohl des Kindes aus, vertreten aber unterschiedliche Meinungen darüber, wie dies geschehen soll.

(Vgl. Öffentlicher Rundfunk, 2015, o.S.).

Ahrbeck plädiert für unterschiedliche Wahlmöglichkeiten. Eltern sollten entscheiden können, welche Schule für ihr Kind mit Lernschwierigkeiten die richtige ist. Wenn der Schulbesuch an einer allgemeinen Schule gut funktioniere, so könnten alle Beteiligten zufrieden sein. Würde sich der Schulbesuch allerdings als schwierig herausstellen, könne und solle man überlegen, ob nicht der spezielle Weg der bessere wäre. Dass die Eltern keine Freiheit mehr zu wählen hätten, betrachtet er sehr kritisch. Auch wenn Ahrbeck zugibt, dass es auch zum Teil eine Frage der Bildung und des sozialen Status sei, wie viel Eltern tatsächlich über das Schulwesen und die Potenziale ihres Kindes wissen, meint er, dass sich auch Menschen mit gleichem Bildungsgrad unterschiedlich entscheiden würden. U. a. seien die Vorerfahrungen, aber auch die Erfahrungen in der Schule bestimmende Faktoren, wobei diese Erfahrungen wiederum sehr

61 unterschiedlich seien. Marianne Schulze sieht bei einem gemeinsamen Schulbesuch mehrere Vorteile - unter der Voraussetzung, dass das österreichische Bildungswesen so reformiert werden würde, so dass es tatsächlich als „inklusiv“ bezeichnet werden könne,. Der/die betroffene Schüler/Schülerin würde die optimale Förderung für seine/ihre intellektuellen Fähigkeiten erhalten. Im selben Zug bestehe auch die Möglichkeit, die sozialen Fähigkeiten auszubauen. Schulze verweist auf Studien, aus welchen resultiert, dass eine inklusive Beschulung bei Kindern mit besonderen Bedürfnissen den an sich hohen Therapiebedarf sinken lasse. Die Interaktion mit Kindern ohne SPF habe eine positive Wirkung.

(Vgl. ebd.).

Schulze vertritt die Meinung der UN-BRK, dass die Inklusion bei jeder Art und jedem Ausmaß von Lernschwierigkeiten sinnvoll sei. Nach Ahrbecks Ansichten hingegen lasse sich aus der Konvention nicht herleiten, dass es keine Spezialeinrichtungen mehr geben dürfe. Er meint, dass die Konvention die Rechte von Menschen mit Lernschwierigkeiten stärken und für mehr Teilhabe sorgen solle. Auch müsse sie dazu beitragen, dass die Förderung in einem möglichst hohen Maß erfolge. Beides zusammen könne man aber nicht in jedem Fall garantieren.

(Vgl. ebd.).

Über die messbaren Vorteile, die zahlreiche Studien aufzeigen, sagt Ahrbeck, dass es überhaupt nicht zutreffe, dass alle Untersuchungen darauf hinwiesen, dass der gemeinsame Weg immer der bessere sei. Widersprüchliche Ergebnisse zeigten, dass für manche Kinder der Besuch einer „Schule für alle" nicht von Vorteil sei.

Integrationserfahrungen ließen erkennen, dass bspw. Kinder mit psychischen Erkrankungen oft an den Rand einer Klasse gedrängt und gemobbt würden. Des Weiteren berichtet er über eine aktuelle Situation in Berlin. Dort werde derzeit beobachtet, dass die Reduktion pädagogischer Spezialeinrichtungen zu einer Verschiebung der Kinder in Richtung Kinderpsychiatrie führe. Schulze sieht vor allem in den ersten fünf Artikeln der UN-BRK ein an „Klarheit kaum zu schlagendes Vertragswerk“. Sie fügt hinzu, dass es derzeit in keinem Land ein durchgehend inklusives System gebe und derzeit noch nicht klar sei, was das höchste Ziel einer inklusiven Beschulung sein werde. Es sei nicht Ziel der Schulischen Inklusion, das bestehende Schulsystem leicht zu adaptieren und Menschen mit einem hohen

62 Unterstützungsbedarf einfach mit hineinzunehmen. Vielmehr gehe es um eine

„radikale Neuaufstellung des Bildungswesens“, welche alle Kinder an ihrem individuellen Bildungsstand abhole. Dies aber sei eine große Herausforderung, da sich viele Menschen diese Neuaufstellung nicht vorstellen könnten.

(Vgl. ebd.).

Im Falle der Beschulung eines „schwer verhaltensgestörten“ Kindes bedeute Inklusion laut Schulze ein Mehr an Unterstützung - nicht nur durch die Lehrkräfte, sondern auch durch Experten/Expertinnen - und selbstverständlich solle es Rückzugsmöglichkeiten für das Kind geben. Des Weiteren solle Klarheit dahingehend geschaffen werden, dass es auch andere Gründe außer einer Lernschwierigkeit gebe, aus welchen Kinder gemobbt würden. Aufgrund der vielen Möglichkeiten einer individuellen Unterstützung würden von einem inklusiven System alle Beteiligten profitieren. Für Ahrbeck zählt das Hier und Jetzt und nicht die Frage, wie Inklusion in Zukunft aussehen könnte. Für jedes Kind müsse der beste Weg vor Ort gefunden werden. Das Kindeswohl stehe dabei an erster Stelle. Alltägliche Erfahrungen und empirische Untersuchungen veranlassen Ahrbeck zu der Ansicht, dass das Kindeswohl nicht für alle Kinder am gleichen Ort realisiert sei.

(Vgl. ebd.).

Sonderschulen seien bisher immer auch ein Ort gewesen, an den man unliebsame Schüler - jene, die nicht in das System gepasst hätten - verwiesen habe. Bezüglich der Frage, ob es gut sei, dass dies endlich ein Ende habe, meint Ahrbeck, es sei nicht richtig, dass es sich immer nur um Abschiebung und Etikettierung handle. Erfolgreiche Sonderschulen erreichten etwas, was unter anderen Bedingungen nicht möglich sei.

So gebe es in Deutschland Sprachheilschulen, die aufgrund ihrer Spezialisierung erreichen können, dass betroffene Kinder danach wieder in das Regelschulsystem wechseln könnten, wenn in den ersten vier Jahren einer Schullaufbahn die

„Beeinträchtigung“ möglichst behoben würde. Dies sei aber eine Frage der Empirie und nicht des guten Willens oder einer moralischen Position. Laut Schulze gelte in Österreich aber: einmal Sonderschule, immer Sonderschule. Was bedeute, dass nach der Sonderschule zum Beispiel Werkstätten besucht würden, in denen Menschen ohne eine adäquate Entlohnung einer Beschäftigung nachgingen. Abgesehen davon

63 finde in Österreich nach wie vor ein viel zu geringer gemeinsamer Alltag von beeinträchtigten und nicht beeinträchtigten Menschen statt.

(Vgl. ebd.).

Schulze berichtet, dass der Nationale Aktionsplan für Menschen mit Behinderungen in Österreich bis 2020 „inklusive Modellregionen“ vorsehe. Ein Bildungssystem, das nach sämtlichen Kriterien saniert werde, sei in unser aller Interesse, auch deswegen, weil es sich auch volkswirtschaftlich auszahle (kurze Erläuterung folgt im Anschluss).

Ahrbecks Vorstellung umfasst durchaus mehr Gemeinsamkeit. Es solle aber keine Entdifferenzierung des Schulsystems und schon gar nicht eine „Schule für alle“

erfolgen. Er plädiert für den Erhalt spezieller Einrichtungen, allerdings in dem Ausmaß, welches pädagogisch sinnvoll und notwendig sei.

(Vgl. ebd.).

Exkurs: Wie ein inklusives Schulsystem sparen helfen kann

Lernen gehört zu den Grundbedürfnissen des Menschen und sollte im Idealfall ein lustbesetzter Vorgang sein. Dennoch weisen viele Lehrkräfte und Schüler/Schülerinnen hohe Belastungswerte auf. Bezüglich der Förderschüler/-schülerinnen kommt hinzu, dass nur 15% eine Realschule besuchen, während 76%

nicht einmal einen Hauptschulabschluss erreichen. Jörg Dräger (2011) bringt die Thematik auf den Punkt, indem er betont, dass ein exklusives, ausgrenzendes Schulsystem nicht nur unzureichende Leistungsergebnisse erbringe und zu viele Lehrkräfte und Schüler/Schülerinnen überfordere, sondern vielmehr auch den Staatshaushalt massiv belaste. Ebenso seien das Wohlbefinden und der Wohlstand unserer Gesellschaft durch Desintegration, steigende Arbeitslosigkeit, Kriminalität und Krankheit stark gefährdet. Die Entwicklung eines inklusiven Schulsystems würde es nicht nur ermöglichen, bislang ungenutzte Begabungspotentiale auszuschöpfen und für mehr Bildungsgerechtigkeit zu sorgen, sondern es könnten bis zu 2090 – durch den Zusatznutzen und sinkende Sozialkosten – die gesamten Staatsschulden getilgt werden.

(Vgl. Burow, 2013, S. 27ff.).

64