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4. AKTUELLE FORSCHUNGEN ZUM THEMA SCHULISCHE INKLUSION

4.8. S CHULISCHE I NKLUSION IM INTERNATIONALEN V ERGLEICH

4.8.3. A LBERTA (K ANADA ) ALS V ORREITER INKLUSIVER S CHULEN

Bereits seit 1972 führt das kanadische Alberta inklusive Bildung durch. Etwaige Fragen bezüglich der schulstrukturellen und schulkulturellen Herausforderungen in Österreich

55 könnten anhand der Auseinandersetzung mit diesem Schulsystem, das über langjährige Erfahrungen in der Umsetzung von Inklusion verfügt, beantwortet werden.

Im Zentrum dieses Schulsystems stehen drei Zieldimensionen:

Chancengerechtigkeit: Bildungsprozesse müssen so konzipiert sein, dass sie den Menschen die Entfaltung ihres Bildungspotenzials ermöglichen.

Leistungsorientierung: Schüler/Schülerinnen werden ihren Interessen und Fähigkeiten entsprechend gefördert, so dass sie ihr Potential voll entfalten und anspruchsvolle Leistungen erbringen können und so dass möglichst viele Schüler/Schülerinnen auf diese Weise hohe Kompetenzniveaus erreichen.

Wohlbefinden von Schülern/Schülerinnen und Lehrkräften: Entscheidend für einen erfolgreichen und nachhaltigen Lernprozess ist eine möglichst hohe und intrinsische Lern- und Leistungsmotivation, welche durch Wohlbefinden erreicht wird.

Die strategische Entwicklung von Schulsystemen gestaltet sich sehr anspruchsvoll, da diese drei Zieldimensionen auf den ersten Blick in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen, gleichzeitig aber realisiert werden müssen.

(Vgl. Sliwka, 2014, S. 169f.).

Dem Schulsystem von Alberta liegt eine Lernkultur zugrunde, geprägt von sieben transversalen Prinzipien über das Lernen:

 In Lernprozessen ist die menschliche Individualität eine zentrale Ressource.

Persönliche Vorerfahrungen und Vorwissen haben bedeutenden Einfluss auf kognitive und emotionale Strukturen, auf die schulisches Wissen aufbaut, sowie persönliche Interessen, auf deren Grundlage sich eine intrinsische Lernmotivation entwickelt. In Lernprozessen geht es um Potentialentfaltung und die Stärkung der Persönlichkeit. Dies setzt einen sensiblen und responsiven Umgang mit Individualität voraus. Das bedeutende Konzept der

„Personalisierung von Lernprozessen“ (OECD, 2006) wird in Alberta so umgesetzt, dass für Schüler/Schülerinnen mit besonderem Förderbedarf individuelle Bildungspläne zur passgenauen Förderung eingesetzt werden.

 Ausgehend von der Annahme, dass die „kognitive Aktivierung“ von Schülern/Schülerinnen nachhaltige Lerneffekte bewirkt, wird darauf abgezielt, dass möglichst alle Schüler/Schülerinnen auf einem für sie optimalen Niveau zu einer aktiven Auseinandersetzung mit den Lerninhalten angeregt werden. Eine

56 kognitive Aktivierung ist besonders durch die Stärkung ihres Verständnisses für eigene Lernprozesse durch Lehrendenfeedback wirksam. Das Lernen wird in Alberta in 70-minütigen Unterrichtsstunden durchgeführt. Dadurch ergibt sich eine gelungene Balance aus instruktiven Lehrervorträgen und konstruktivistischen Ansätzen des kooperativen, problem- oder projektorientierten Lernens. Hiesige Lehrkräfte arbeiten intensiv in professionellen Lerngemeinschaften zusammen, um umfassende Unterrichtsprozesse gemeinsam zu konzipieren.

 Innere Barrieren beim Lernen können nur dann verstanden und therapiert werden, wenn nicht nur auf kognitive, sondern auch auf emotionale und motivationale Faktoren geachtet wird. Das Wohlbefinden von Schülern/Schülerinnen in der Schule wird in Alberta als wichtige Komponente für die Entwicklung von Lernmotivation gesehen, was sich auch in Prozessen der Schulentwicklung widerspiegelt. Die anwesenden Schulpsychologen/-psychologinnen führen sozial-emotionale Trainings durch und sind für Schüler/Schülerinnen, Lehrer/Lehrerinnen und ebenso für Eltern kompetente Gesprächspartner/-partnerinnen, wenn emotionale Indikatoren auf Schwierigkeiten und Störungen in Lernprozessen schließen lassen.

 Lernen ist auch ein sozialer Prozess. Die soziale Gestaltung von Lernprozessen birgt Potentiale für kognitive Aktivierung, emotionales Wohlbefinden und soziales Lernen. Dazu werden vorher geplante lernförderliche Sozialsituationen bewusst eingesetzt, um bestimmte Lernziele zu fördern, sowie auch

 individuelle, kompetitive und kooperative Elemente. In Alberta finden nach wie vor lehrerzentrierte Unterrichtsphasen statt, in denen Wissen strukturiert kommuniziert wird. Abwechselnd finden dann in kleinen Gruppen zusätzlich Phasen des individuellen Lernens und des kooperativen und problemorientierten Lernens statt. So unterstützen leistungsstärkere Schüler/Schülerinnen in heterogenen Gruppen die leistungsschwächeren und in homogenen Gruppen arbeiten Schüler/Schülerinnen an Aufgaben, die ihrem kognitiven Entwicklungsniveau entsprechen.

 Erst wenn Schüler/Schülerinnen in jedem Unterrichtsfach in einem für sie angemessenen Anspruchsniveau lernen können, kann sich eine selbstbestimmte und nachhaltige Lernmotivation entwickeln. Jeder Mensch hat in den Kompetenzbereichen eine individuelle Zone, in der er mit Hilfe

57 kompetenter Individuen und entsprechender Hilfsmittel wirksam lernen kann.

Lernprozesse, die bezüglich ihres Herausforderungsgrades unterhalb dieser Grenze liegen, können alleine mit Erfolg bewältigt werden, aber auch manchmal zu Langeweile und Frustration führen. Der Herausforderungsgrad darf aber auch nicht so hoch liegen, dass Aufgaben nicht einmal mit Unterstützung bewältigt werden können.

 Einer der wirksamsten Interventionen in Lernprozessen sind formative Leistungsrückmeldungen, die den Lernprozess in den Mittelpunkt stellen. Es werden keine Noten mitgeteilt, sondern differenzierte und lernprozessbezogene Informationen (vgl. Black & William, 2009; Black & William, 2010; Marzano, 2006; Stiggins et al., 2006; Hattie, 2012 in Sliwka, 2014, S. 175). Dem/der Schüler/Schülerin wird dabei ein Korridor aufgezeigt, in dem er/sie sich weiter entwickeln und verbessern kann. Durch diese transparente Bewertung erhalten Schüler/Schülerinnen Informationen über den aktuellen Leistungsstand, wobei zusätzlich ein Erwartungshorizont aufgezeigt wird, in dessen Richtung sich Schüler/Schülerinnen eigenverantwortlich entwickeln können. Diese individuelle Bezugsnorm ist für Schüler/Schülerinnen motivierend, wenn sie Fortschritte, für deren weiteren Verlauf die Schüler/Schülerinnen selbst Verantwortung übernehmen, verdeutlichen kann.

 Wirksame Lernprozesse bedürfen der Vernetzung der Wissensgebiete und der Öffnung der Schule zur Lebenswelt. So können Schüler/Schülerinnen an außerschulischen Orten authentisch lernen und Personen und Organisationen können mit ihrer Expertise die Schule von außen bereichern. In Alberta gehen Schulen gezielt Partnerschaften zu Unternehmen, öffentlichen Einrichtungen und medizinisch-therapeutischen Angeboten ein, um das Lernen der Schüler/Schülerinnen zu unterstützen und zu stärken.

(Vgl. Sliwka, 2014, S. 170f.).

Schulsystem in Alberta

Ausgehend von einer Klage wurde 1972 mit der Auflösung der Sonderschulen begonnen. Ungefähr 15 Jahre lang dauerte der Prozess, in dem fast alle sonderpädagogischen Ressourcen in die Regelschulen überführt wurden.

(Vgl. ebd. S. 177).

58 In inklusiven staatlichen Schulen werden Kinder und Jugendliche mit verschiedenen Lernvoraussetzungen auf jeweils individuellen Wegen gemeinsam beschult. Die Grundschulzeit beginnt für gewöhnlich mit dem kostenfreien Vorschuljahr (in etwa wie der Kindergarten) für vier -bis fünfjährige Kinder. Der auf spielerischem Lernen basierende Bildungsplan legt bereits einen starken Fokus auf die Kompensation herkunftsbedingter Bildungsbenachteiligung in den Bereichen „Literacy und Numeracy“. Anschließend folgt meist eine sechsjährige Grundschule und eine genauso lange dauernde Sekundarschule, die für alle Schüler/Schülerinnen den Schulabschluss nach der zwölften Klasse vorsieht.

(Vgl. ebd. S. 176f.).

Basierend auf einem Kompetenzmodell bildet das Schulsystem in Alberta zentrale Kompetenzen in den Kernfächern für die unterschiedlichen Klassenstufen auf vier Kompetenzstufen ab. Entsprechend diesem Modell erfolgen die Diagnostik und Förderung, welche zum Ziel haben, dass möglichst viele Schüler/Schülerinnen durch eine passgenaue Förderung die Kompetenzstufe drei erreichen. Diese gilt als Voraussetzung dafür, dass ein/e Schüler/Schülerin als Erwachsene/Erwachsener ein ökonomisch eigenständiges und politisch selbstbestimmtes Leben in der kanadischen Gesellschaft führen kann. Die durch diagnostische Tests und Erhebungen gewonnenen Daten dienen der Feststellung des jeweiligen Entwicklungsstandes eines/einer Schülers/Schülerin und sind Ausgangspunkt für die Planung seiner/ihrer Förderung. Diese Daten werden vertraulich behandelt und dienen des Weiteren auch den Schulleitungen und dem regionalen Schulsystem, um Personalentwicklungsmaßnahmen oder zusätzliche Personal- und Sachressourcen so passgenau zuzuweisen, dass die strategischen Ziele des Schulsystems erreicht werden können. Auch Hochbegabte und Schüler/Schülerinnen mit ausgeprägten Teilleistungsbegabungen werden von entsprechend qualifizierten sonderpädagogischen Experten/Expertinnen begleitet.

(Vgl. ebd. S. 177f.).

Jede/r Schüler/Schülerin mit „special educational needs“ (SEN) – also speziellen Lernbedürfnissen – erhält einen sogenannten „Individual Programme Plan“ (IPP). In diesem ist festgelegt, welche Unterrichtszeit der/die Schüler/Schülerin im Regelunterricht verbringt und auf welcher Niveaustufe er/sie in den einzelnen Fächern

59 eingestuft wird, welche Zeit der/die Schüler/Schülerin in kleineren Pull-out-Gruppen zur besonderen Förderung verbringt und welche sonstigen Angebote (u.a.

Therapieangebote, Praktika bei Partnereinrichtungen der Schule) er/sie nutzen kann.

Zur Erstellung eines IPPs erhält jede/r Schüler/Schülerin mit SEN ein „Learning Support Team“, welches für gewöhnlich aus dem/der verantwortlichen Sonderpädagogen/-pädagogin aus dem Special Needs Department der Schule, Lehrkräften aus wichtigen Unterrichtsfächern sowie in bestimmten Fällen auch den zusätzlich eingesetzten Therapeuten/Therapeutinnen besteht. Zum Treffen der Learning Support Teams werden grundsätzlich die Eltern und wenn möglich der/die Schüler/Schülerin eingeladen. Es wird nämlich davon ausgegangen, dass Lernprozesse von einer engen und vertrauensvollen Kooperation und Abstimmung zwischen Schule und Familie profitieren. Neben den Kindern mit IPPs gibt es noch jene, die aufgrund ihrer Zuwanderungsbiografie auf besondere sprachliche Unterstützung angewiesen sind. Diese werden in Kleingruppen gefördert, damit sie möglichst schnell ein sprachliches Niveau erreichen, welches gewährleistet, dass mangelnde sprachliche Kompetenz keine Bildungsbarriere mehr darstellt.

(Vgl. ebd. S. 178f.).

Sonderpädagogen/-pädagoginnen in Alberta werden aufgrund der besonderen Erfordernisse bezüglich der Inklusion nach einem T-Modell ausgebildet. Alle Fachrichtungen der Sonderpädagogik werden dabei abgedeckt, auch der Themenkomplex (Hoch-)Begabung. Spezialisierungsmodule dienen dazu, dass die Lehrkräfte auch über unterschiedliche Expertisen in den Spezialisierungsrichtungen verfügen. Die Erstellung der Individual Programme Plans für die Schüler/Schülerinnen ist dabei eine zentrale Aufgabe der Sonderpädagogen/-pädagoginnen. Jede/r Schüler/Schülerin erhält eine/n Sonderpädagogen/-pädagogin als feste/n Partner/Partnerin, welche/r die Planung koordiniert und für eine Fortschreibung des IPPs sorgt.

(Vgl. ebd. S. 180).

Wraparound/Full Service Schools

Wie zuvor erwähnt, gehen die Schulen in Alberta Verträge und Partnerschaften mit externen Organisationen ein, um bestimmte Bildungsressourcen aus dem Umfeld nutzen zu können. Unterschiedliche therapeutische Dienstleistungen können somit in

60 die Bildungsplanung der Schüler/Schülerinnen einbezogen werden, wodurch eine berufliche Integration von Schülern/Schülerinnen gewährleistet wird.

(Vgl. ebd. S. 181).

Das Schulsystem in Alberta scheint wohl durchdacht zu sein. Dennoch stellt sich die Frage, ob kulturell gewachsene Schulsysteme überhaupt voneinander lernen können.

Allein die Erfahrung, die Alberta in den letzten 40 Jahren bezüglich der Gestaltung schulischer Inklusion gesammelt hat, spricht dafür, organisatorisches Know-How aus solchen Schulsystemen zu übernehmen.

(Vgl. ebd. S. 182).

4.9. Diskussionen und Uneinigkeiten rund um das Thema