• Keine Ergebnisse gefunden

3. Karthagische Geschichte im Kaiserreich

3.2 Reduktion karthagischer Geschichte auf Aspekte der Kriegsgeschichte?

3.2.3 Der Cannae-Begriff im Ersten Weltkrieg: Tannenberg als modernes Cannae?

3.2.3.1 Militärische Lage an der Ostgrenze819

Wenngleich fast jeder bedeutende Feldzug eine Ausschmückung mit phantastischen Ge-schichten erfährt, so ist gleichwohl in kaum einer Schlacht mehr Wirklichkeit und Legende vermischt als in der von Tannenberg vom August 1914. Dabei herrschte lange Zeit die Über-legung vor, dass diese unter der Leitung Schlieffens bereits 25 Jahre früher geplant worden sei.820 Dazu muss festgestellt werden, dass Schlieffen sich zwar angesichts der Bedrohung durch einen Zweifrontenkrieg durchaus Gedanken hinsichtlich der Ostgrenze gemacht hatte.

Allerdings wollte er - im Vertrauen auf die österreichisch-ungarische Armee und eine wahr-scheinlich sehr langsam vonstatten gehende russische Mobilmachung - dort vorläufig nur eine kleine Armee stationieren, die defensiv zum Schutz der Grenze tätig sein sollte. Diese Aufgabe jedoch sollte - gemäß der Vernichtungsdoktrin - offensiv durch Angriffe erfüllt wer-den, wobei die Kette der Masurischen Seen den gegnerischen Angriff in zwei exzentrische

814 Wallach, Dogma, S.119.

815 Vgl. dazu auch Groote, Historische Vorbilder, S.45.

816 Elze, Walter, Tannenberg. Das deutsche Heer von 1914: Seine Grundzüge und deren Auswirkung im Sieg an der Ostfront, Breslau, 1928, S.32.

817 Vgl. dazu auch Wallach, Der Dogmatiker, S.101 f.

818 Vgl. zu diesem Resümee auch Groote, Historische Vorbilder, S.50, der jedoch auch für die französische Seite, die sich auf die Austerlitz-Schlacht Napoleons berief, eine ähnlich verfehlte Schülerschaft annimmt.

819 Vgl. zum Folgenden Wallach, Dogma, S.225-228. Vgl. z.B. auch Mommsen, Wolfgang J., Die Urkatastrophe Deutschlands. Der Erste Weltkrieg 1914-1918 (Gebhardt Handbuch der deutschen Geschichte, Bd. 17) Stuttgart

102001, S.40-47, Keegan, John, Der Erste Weltkrieg. Eine europäische Tragödie (Deutsch von Karl und Heidi Nicolai), Hamburg 22000, S.203-219, Kielmansegg, Peter Graf, Deutschland und der Erste Weltkrieg, Stuttgart

2

Richtungen teilen würde und so gegen die zuerst anrückende russische Marschkolonne ein vernichtender Schlag der deutschen Kräfte geführt werden könnte.

Allerdings sollte die Lage 1914 zunächst ganz anders aussehen: Von der raschen russischen Mobilmachung überrascht bestand die Gefahr, dass die deutsche Armee in eine Defensive ostwärts der Weichsel gedrängt und vernichtet werden würde. Nach der Schlacht von Gum-binnen drohte der Anmarsch einer zweiten russischen Armee, die die deutschen Truppen von der Weichsel hätte abschneiden können. Deshalb wollte sich der kommandierende General von Prittwitz hinter diesen Fluss zurückziehen und damit Ostpreußen preisgeben. Er wurde aber durch von Hindenburg und Ludendorff ersetzt, die statt dessen eine Offensivlösung be-fürworteten.

Deren Grundidee bestand darin, dass die deutschen Truppen zunächst die Narewarmee schla-gen und sich danach geschla-gen die Njemenarmee wenden sollten. Aufgrund der besseren Aufklä-rung und Beweglichkeit des zahlenmäßig unterlegenen deutschen Heeres, aber in erster Linie durch grobe Fehler und die Rivalität der beiden russischen Heerführer gelang es, die erste russische Armee einzukesseln und die zweite zum Rückzug aus Ostpreußen zu veranlassen.821

3.2.3.2 Vergleich mit Cannae

Dass bereits Hindenburg in der Schlacht von Tannenberg822 ein zweites Cannae zu sehen glaubte, hängt sicherlich damit zusammen, dass er sich in der Tradition Schlieffenscher Kriegsführung sah, für die nun einmal der „Cannae-Begriff“ repräsentativ stand. Hindenburg selbst zeigte, wie er unter Einfluss seines Lehrmeisters stand: „ Das war wirklich ein Cannae á la Schlieffen.“823 Aber auch bei anderen Militärangehörigen wie z.B. Kronprinz Wilhelm, Oberbefehlshaber der 5. Armee, herrschte der Gedanke an die Nachfolgerschaft zu Schlieffen vor: „ Hier waren bei der 8. Armee Führer am Werk, die von Schlieffens Geist durchdrungen seinen operativen Cannae-Gedanken unentwegt verfolgten. Die Schlacht bei Tannenberg hätte den Lehrmeister des deutschen Generalstabes mit stolzer Befriedigung erfüllt ...“824

Aufgrund der auf militärischer Seite vertretenen Meinung, es handle sich bei Tannenberg um das posthum bekannt gewordene Erbe Schlieffens, setzte sich dieser Gedanke auch bei

820 Vgl. Wallach, Dogma, S.225.

821 Vgl. Angelow, Jürgen, Paul von Hindenburg, in: Fröhlich, Michael (Hg.), Das Kaiserreich. Portrait einer Epoche in Biographien, Darmstadt 2001 S.186 (184-194).

822 Der Ort Tannenberg selbst spielte für das eigentliche Schlachtgeschehen eine eher untergeordnete Rolle; die entscheidenden Gefechte fanden vielmehr unterhalb von Allenstein bei Hohenstein und im Kessel von Passen-heim-Neidenburg und Willenberg statt. Zunächst gratulierte der Kaiser auch zum Sieg bei Allenstein. Der Name Tannenberg als Schlachtort fiel erstmals am 28. August 1914 auf Veranlassung Ludendorffs. Vgl. dazu Tietz, Jürgen, Das Tannenberg-Nationaldenkmal. Architektur, Geschichte, Kontext, Berlin 1999, S.15-17.

823 Brief Hindenburgs an General von Bernhardi vom 3.9.1914, zit. n. Wallach, Dogma, S.232. Vgl. dazu auch Ludendorff, Kriegserinnerungen, S.45: „Ich dachte an General von Schlieffen und dankte diesem Lehrmeister.“

listen durch.825 In der offiziellen Militärgeschichtsschreibung wurde Tannenberg ebenfalls als erneuertes Cannae gesehen.826

Die Möglichkeiten eines Vergleichs schienen dadurch gegeben, dass es sich bei beiden Schlachten um Umfassungssiege handelte, die zudem mit einer zahlenmäßig unterlegenen Armee erfochten wurden. Das Verhältnis zwischen deutscher Ostarmee und russischer Armee war allerdings weniger einschneidend als das antike Vorbild, da etwa 153.000 Mann gegen 191.000 Mann zu bestehen hatten.827 Zudem waren beide Schlachten äußerst kühn angelegt, d.h. mit äußerster Konsequenz und unter Inkaufnahme eines beträchtlichen Risikos wurden alle Kräfte auf einem Punkt der Front zusammengezogen.828 Allerdings muss an dieser Stelle auch bereits ein wesentlicher Unterschied festgestellt werden: Hannibal hatte die Schlacht von Cannae nach wohlüberlegten taktischen Erwägungen geschlagen, während Hindenburg und Ludendorff zunächst keine solchen Überlegungen anstellen konnten, sondern aufgrund der vorgefundenen Lage rasch einen Plan entwickeln mussten, wobei ihnen das erfolgreiche Ab-hören des russischen Funkverkehrs sehr zustatten kam.829 Zudem waren die Karthager damals die Angreifer, während der Auftrag der deutschen Ostarmee auf Verteidigung abzielte.830 Weiterhin hatte es Hannibal mit einer einzigen römischen Armee zu tun und konnte darauf bauen, dass ihn nach deren Vernichtung keine weiteren militärischen Kräfte attackieren wür-den, während Hindenburg und Ludendorff immer noch eine zweite russische Armee gegenü-berstand, die jederzeit hätte aktiv werden können. Diese zweite Armee wurde auch nicht in die Umfassung miteinbezogen.831

Die eigentlichen Vergleichsparameter zeigen sich m.E. jedoch erst in der Retrospektive: Zwar war der Erfolg von Tannenberg zunächst überwältigend, aber er war weder kriegsentschei-dend noch konnte er die russische Armee nachhaltig schwächen, wie die von ihr später unter-nommenen Offensiven gegen Österreich-Ungarn beweisen.

824 Kronprinz Wilhelm, Erinnerungen, S.95-96, zit. n. Wallach, Dogma, S.233.

825 Vgl. z.B. Niemann, Hans, Hindenburgs Siege bei Tannenberg und Angerburg. August-September 1914. Das Cannae und Leuthen der Gegenwart, Berlin 1916; Schulzen, A., Tannenberg und Cannae, in: Allerlei vom Krieg und Frieden. Ein vierter Gruß der Universität Erlangen an ihre Studenten, Erlangen 1917, S.23-41.

826 Vgl. zur amtlichen deutschen Militärgeschichtsschreibung Pöhlmann, Kriegsgeschichte, S.179, der heraus-hebt, dass das Reichsarchiv am Tannenberg-Mythos kräftig mitarbeitete, und diese Schlacht sogar über das anti-ke Vorbild stellte, da „bei Kannae die Rücanti-kenbedrohung [fehlte]“.

827 Vgl. Kielmannsegg, Deutschland, S.53.

828 Vgl. ebenda. Kielmannsegg hebt hervor, dass der Njemenarmee lediglich eine einzige Kavalleriedivision gegenüberstand.

829 Vgl. Kielmannsegg, Deutschland, S.52.

830 Vgl. Wallach, Dogma, S.229.

Ähnlich wie bei Cannae wurde jedoch auch Tannenberg zu einem Mythos832, was nicht zu-letzt damit zusammenhängt, dass der Sieg an diesem historischen Platz auch als Rache für eine Niederlage von Deutschordensrittern gegen polnisch-litauische Scharen im Jahre 1410 gesehen wurde.833 Zudem bedeutete er eine Abwehr des russischen Vorrückens gegen Berlin oder Schlesien.834

Die hohe Zahl der russischen Gefangenen bei gleichzeitig geringen eigenen Verlusten deutete auf eine technische Vollkommenheit hin, die in der Retrospektive auch im Kontrast zur Mar-neschlacht gesehen wurde, die sich ebenfalls in diesem Zeitraum abzuspielen begann. So vermag es nicht zu verwundern, dass manche Zeitgenossen, in Tannenberg sogar ein „Über-Cannae“ sehen wollten.835

3.2.4 Zusammenfassung

In der wilhelminischen Zeit wuchs die Bedeutung der Militärgeschichte aus zwei Gründen:

Zum einen war im deutschen Generalstab eine hohe Bereitschaft vorhanden, Erkenntnisse der Vergangenheit nutzbar zu machen. Zum anderen entwickelte sich vor allem unter dem Ein-fluss Hans Delbrücks die Idee, dass durch eine methodisch korrekt erforschte Militärgeschich-te neue AspekMilitärgeschich-te für die allgemeine GeschichMilitärgeschich-te nutzbar gemacht werden könnMilitärgeschich-ten. Allerdings unterstützten sich diese Entwicklungen nicht gegenseitig, sondern traten teilweise sogar in Konkurrenz, wer das Monopol der Militärgeschichte nun haben dürfe. Obgleich der Streit dabei vor allem um die Feldzüge Friedrichs des Großen eskalierte, gewann auch die Schlacht von Cannae ungeahnte Bedeutung. Vor allem durch den Chef des Generalstabes, Schlieffen, wurde sie einem breiteren Publikum bekannt und sollte künftig als Synonym für die perfekt geschlagene Vernichtungsschlacht aufgrund von doppelter Umfassung gelten. Die Gefahr dieser einseitigen Sichtweise bestand allerdings in einer zu eklektischen Rezeption der Alten Geschichte, bei der schlichtweg übersehen wurde, dass Hannibal zwar eine große Schlacht gewann, den Krieg aber letztlich verlor. Die Begeisterung über den deutschen Sieg von Tan-nenberg führte dazu, dass diese Schlacht zu einem neuen Cannae deklariert wurde, obgleich große Unterschiede zum antiken „Original“ bestanden.

Wissenschaftlich gesehen brachte die wilhelminische Epoche zwar einerseits eine genauere und methodisch überlegtere Betrachtung der militärischen Seite der Geschichte; diese Fort-schritte wurden aber andererseits dadurch wieder eingeschränkt, dass ein Rezeptionsprozess

832 Vgl. dazu Showalter, Dennis E., Tannenberg. Clash of Empires, Hamden, Conn. 1991, S.329-331; 347-354.

833 Vgl. dazu Tietz, Tannenberg-Nationaldenkmal, S.16 f.

834 Vgl. Keegan, Der Erste Weltkrieg, S.217.

835 Vgl. z.B. Niemann, Hindenburgs Siege, S.17: „Die größte Vernichtungsschlacht der Geschichte, ein zweites

begann, der diese neu gewonnenen Erkenntnisse zu sehr trivialisierte und lediglich als Schlagworte einsetzte.

3.3 Ulrich Kahrstedt: Neue Ansätze in der Karthagoforschung oder das Ende von

Outline

ÄHNLICHE DOKUMENTE