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Analyse des Briefmaterials: Preußen als Erbe des karthagischen Schicksals Als erster Zugang zu Niebuhrs Vorstellung von Karthago wird das reich überlieferte

2. Karthago auf dem Weg in die moderne Forschung

1.2 Barthold Georg Niebuhr: Karthagische Geschichte im Rahmen der römischen Ge- Ge-schichte

1.2.2 Niebuhrs Annäherungen an die Geschichte Karthagos

1.2.2.1 Analyse des Briefmaterials: Preußen als Erbe des karthagischen Schicksals Als erster Zugang zu Niebuhrs Vorstellung von Karthago wird das reich überlieferte

Briefma-terial durchgearbeitet.293 Da gerade Briefe eine momentane persönliche Verfasstheit gut wi-derspiegeln, wurde dieser Zugang gewählt. So soll versucht werden, den Gebrauch Karthagos und seiner Geschichte als „Analogienfundus“ herauszuarbeiten.

Den Überlegungen Rytkönens zufolge müssen die von Niebuhr verwendeten Analogien gene-rell vor einem größeren Hintergrund gesehen werden. Im Zuge seiner großen Untersuchung, die die für Niebuhr eigentümliche Verbindung von politischer Wirksamkeit und Geschichts-forschung in ihren wechselseitigen Beeinflussungen analysierte, führte er überzeugend aus, wie „pragmatisch“294 Niebuhr Geschichte betrieb. Dabei verlief die Entwicklung von der Be-schäftigung mit den römischen Staatsländereien und der Bauernschaft295, die für Niebuhr vor allem den Zweck erfüllte, Antworten auf die ihn bedrängende Frage der dänischen und hol-steinischen Bauernbefreiung in Abgrenzung zur Privilegienbewahrung der holhol-steinischen Ritterschaft zu finden, hin zu einem vertieften Interesse an außenpolitischen Fragen.296 Als Umschwung setzt Rytkönen dabei den Zeitraum 1805/06 an, als zum einen durch die aggres-siv geführte Außenpolitik Frankreichs der dritte Koalitionskrieg297 ausbrach.298 Zum anderen wechselte Niebuhr im September 1806 in den preußischen Staatsdienst299, so dass er den Zu-sammenbruch dieses Staates durch die Niederlagen von Jena und Auerstedt unmittelbar miter-lebte.300

293 Als Material lag zugrunde: Gerhard, Dietrich / Norvin, William (Hgg.), Die Briefe Barthold Georg Niebuhrs, 2 Bde., Berlin 1926/29 sowie Vischer, Eduard (Hg.), Briefe. Neue Folge, 4 Bde., München/ Bern 1981- 1984.

Als zusätzliche Kontrolle der Auswahl fungierte Rytkönen, der auch die „Lebensnachrichten“ ausgewertet hatte.

294 Rytkönen, Politiker, S.14 f, wobei er als Kriterium dafür herausstellt, dass „Geschichte als Instrument zur Lösung von Zeitproblemen herangezogen wird oder doch in dieser Richtung benutzt wird, also einer praktischen Nutzanwendung dient“ (ebenda, S.15). Die schwächere Form bezeichnet Rytkönen als „Präsentatismus“, der weniger deutlich auf Nützlichkeitsstandards abzielt. Zum Pragmatismus in Niebuhrs Hauptwerk „Römische Geschichte“ vgl. auch Küntzel, Römische Geschichte, S.181.

295 Zu Niebuhrs wissenschaftlichen Anfängen und ihren Hintergründen vgl. v.a. Walther, Niebuhrs Forschung, S.152-176. Seine Auseinandersetzung mit dem französischen loi agraire analysiert vor allem Heuss näher. Vgl.

z.B. Heuss, Vom Ursprung Niebuhrscher Geschichtsschreibung, S.15-19 (wiederabgedruckt in: Gesammelte Schriften III, S.1664-1668).

296 Vgl. Rytkönen, Politiker, S.54-85.

297 Zur Enstehung der Dritten Koalition vgl. Raumer, Kurt von: Deutschland um 1800 – Krise und Neugestal-tung in: Raumer, Kurt von / Botzenhart, Manfred (Hgg.), Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, Handbuch der Deutschen Geschichte Band 3, Abschnitt 1, 1. Teil, Wiesbaden 1980, S.144 –149 und Schroeder, Paul W.:

The Transformation of European Politics 1763-1848, Oxford 1994 (Oxford History of Modern Europe), S.231-286.

298 Vgl. Rytkönen, Politiker, S.43.

299 Zu den näheren Umständen vgl. Walther, Niebuhrs Forschung, S.217-222.

300 So befand sich auch Niebuhr gemeinsam mit den preußischen Zentralbehörden auf der Flucht aus Berlin und wurde bis nach Riga verschlagen. Vgl. ebenda, S.222f .

Die Anlehnung an den Themenbereich „Karthago“ erfolgte zunächst in zwei Briefen, die in der Zeit zwischen der Schlacht von Austerlitz (Dezember 1805) und den Friedensverhandlun-gen von Tilsit (Juli 1807), also dem „Tiefpunkt“ preußischer Geschichte, verfasst wurden, und passten sich demnach in den Interessenumschwung Niebuhrs ein.

Die erste Briefstelle, die Assoziationen an punische Geschichte weckt, formuliert eine Analo-gie zwischen der Schlacht bei Zama, die den langen zweiten punischen Krieg entschied, und der von Napoleon gewonnenen Schlacht bei Austerlitz: „Die Bekanntmachung der Rede [Anm.: Übersetzung der ersten Philippischen Rede des Demosthenes, Hamburg 1805301) ward so verzögert, daß Zama schon entschieden hatte, ehe ich selbst die Exemplare erhielt, und so war mir damit wie den Nachgelassenen eines Toten, die einen an ihn geschriebenen Brief erhielten.“302 Diese eher beiläufig wirkende Analogie, die zudem nicht einmal explizit ausge-sprochen wurde, sondern aus dem Zusammenhang erschlossen werden muss, darf jedoch in ihrer Aussagekraft nicht unterschätzt werden. So wie Karthagos politisches Schicksal durch die Niederlage gegen Scipio bei Zama besiegelt wurde, so scheint auch das Europas durch eine bedeutende Schlacht entschieden. Insofern bereitet diese Analogie eine Gleichsetzung zwischen dem Beginn der nach 202 v. Chr. beständig wachsenden römischen Herrschaft und der sich aktuell ausbreitenden französischen Hegemonie vor. Diese Analogie zwischen dem Anwachsen der beiden Reiche stellt im historischen Denken Niebuhrs keine Ausnahme dar, sondern wird von ihm häufiger bemüht, wobei bei dieser Perspektive, die die römische und französische Weltherrschaft als jeweils unabänderlich betrachtet, eine resignierende Haltung beim Verfasser vorherrscht.303

Während in der Zama-Austerlitz-Analogie eine Gleichsetzung zwischen den europäischen Mächten und Karthago zumindest von der äußeren Situation her besteht, erfolgt in demselben Brief eine gewisse Distanzierung von Karthago, indem Niebuhr eine Reminiszenz an die Sa-guntiner304 herstellt, deren Stadt von Hannibal belagert und zerstört wurde. Die Bewohner aber leisteten tapferen Widerstand und gingen schließlich heldenhaft in den Tod.305

301 Vgl. Thomas, Makedonien, S.137-140, v.a. S.139: „Allerdings verpuffte die mit dem ganzen Pathos antiker Rhetorik geladene Flugschrift seinerzeit ohne Wirkung; denn als sie herauskam, hatte bereits am 2. Dez. 1805 der siegreiche Korse in der Dreikaiserschlacht von Austerlitz Österreicher und Russen vernichtend geschlagen.“, und Rytkönen, Politiker, S.44 f

302 Briefe I, S.322 (Brief an Moltke vom 17.1.1806).

303 Vgl. Rytkönen, Politiker, S.46.

304 Brief I, S.325:„Ich habe die Franzosen als Staat stets gehaßt, und über Deutschlands Herabwürdigung dies-selben Gefühle gehabt, die Deine Oden reden. Es ist aus, und ich würde jetzt wie der Prophet Jeremias gegen

In diesem Falle wird eine andere Rollenverteilung als im vorausgehenden vorgenommen.

Karthago wird von der Rolle des Unterlegenen und des Vergleichsobjekts mit den europäi-schen Staaten zu einem grausamen Angreifer, der Sagunt so harte Kapitulationsbedingungen stellt, dass sie den Bewohnern unannehmbar erscheinen und diese ihren Besitz und sogar ihr Leben lieber freiwillig aufgeben.

Es erscheint unwahrscheinlich, dass Niebuhr dieser Widerspruch der beiden Analogien nicht aufgefallen sein dürfte. M.E. kann diese gegenteilige Verwendung nur dadurch erklärt wer-den, dass Niebuhr keine allzu großen Intentionen mit ihnen verfolgte. Sie besitzen beide einen resignierenden Charakter, bieten zudem keine Lösungsvorschläge an. Ihre Verwendungsab-sicht lässt sich am ehesten in einen illustrativen Rahmen einfügen, mit dem Niebuhr einerseits seine umfassende Kenntnis der alten Geschichte belegt, andererseits auch seine Betroffenheit über bzw. Furcht vor aktuellen und künftigen Ereignissen zeigt.

Eine weitere Analogie führt Niebuhr dagegen direkter und ausführlicher aus. In einem Brief an den preußischen Außenminister Hardenberg306 hebt er dessen Opferbereitschaft hervor, da dieser trotz der harten Friedensbedingungen von Tilsit auf besonderen Wunsch des Königs einwilligte, bis auf weiteres in seinem Amt zu bleiben. In diesem Schreiben vergleicht er Har-denberg mit den Führern derjenigen Völker, die sich trotz der Weltherrschaft Roms für ihre Heimatstaaten aufopferten. Dabei erwähnt er neben den Achäern ausdrücklich Hannibal, des-sen Tätigkeit im Frieden er mehr schätzte als seine kriegerischen Erfolge.307 Er gibt weiterhin an, welche Maßnahmen Hannibal zur Rettung seiner Heimatstadt unternahm. Allerdings wird auch in dieser Analogie wieder die Resignation ersichtlich, die Niebuhrs Vergleiche mit der Ausbreitung der römischen Weltherrschaft immer prägen; insofern hält Niebuhr Widerstand für zwecklos und kann nicht einmal dem Wirken Hardenbergs einen positiven Ausgang

diejenigen eifern, welche an Widerstand denken möchten, wofern nicht solche Umstände eintreten, wo wir gleich den Sanguntinern und wie Antigone den Tod wählen müssen.“

305 Vgl. dazu Livius XXI, c.14. ; Als kritischen Kommentar vgl. Händl-Sagawe, Ursula, Der Beginn des 2.

Punischen Krieges. Ein historisch-kritischer Kommentar zu Livius Buch 21, München 1995 (Münchner Univer-sitätsschriften: Münchner Arbeiten zur Alten Geschichte, hg. v. Hatto H. Schmitt, Bd.9), S.90-92.

306 Vgl. Briefe, I, S.398-405 (Brief an Hardenberg vom 7.7.1807). Dieser Brief ist in einem sehr herzlichen Ton gehalten, was auf die damalige enge Zusammenarbeit zurückzuführen ist, die sich ergeben hatte, als Hardenberg nach der Entlassung des Freiherrn vom Stein zu Niebuhrs direktem Vorgesetzten wurde. Zudem bewunderte Niebuhr die Festigkeit, mit der Hardenberg am Reformkurs Steins festhielt. Vgl. dazu Walther, Niebuhrs For-schung, S.244 f. Der Bruch zwischen Hardenberg und Niebuhr vollzog sich erst 1810, als es wegen der von Hardenberg eingeschlagenen Maßnahmen in der Finanzpolitik, die Niebuhr zu unseriös und inflationsfördernd erschienen, zu massiven Unstimmigkeiten kam. Vgl. dazu Witte, Tacitus, S.69-73.

307 Vgl. Briefe, I, S.400: „Ich habe es immer für größer gehalten, daß Hannibal sein zerrüttetes Vaterland nach dem bittersten Frieden herzustellen suchte als daß er die Weltfeinde schlug...“.

ligen. Vielmehr dehnt er Hannibals Scheitern auch auf das Schicksal des preußischen Politi-kers aus: „Aber Hannibal nährte die Hoffnung, dass die Nachkommen später vorbereitete Ra-che nehmen könnten, wie sie für seinen Krieg vorbereitet worden war: Zama war nur Auster-litz, noch nicht Friedland, oder die schlimmeren Tage welche folgten: - und wie lange erlaub-ten ihm die Römer die bluerlaub-tenden Wunden Karthagos zu heilen? Als er die zerstörerlaub-ten Finanzen kaum wieder hergestellt, als Wohlstand wieder aufzublühen anfing, und sein Name der herab-gewürdigten Republik doch noch einige Würde erhielt: da eilten sie ihn zu vertreiben. Unser Zeitalter aber faßt in Monaten zusammen womit in der alten Geschichte Jahre verstrichen.“308 Neben der sichtlich resignierenden Haltung fällt an dieser Stelle auf, dass die

Zama-Austerlitz-Analogie auch wieder aufgegriffen wird, wobei diese beiden Schlachten noch nicht den schlimmsten Tiefpunkt der jeweiligen Staaten widerspiegelten, sondern Niebuhr noch schlimmere Zeiten andeutete. Dass er als aktuelles Ereignis die für Preußen äußerst demüti-genden Friedensverhandlungen in Tilsit vor Augen hat, dürfte ohne Zweifel feststehen.

Ohne direkten Zeitbezug, aber als Einblick in Niebuhrs historische Gedankenwelt kann die Bemerkung dienen, bei der Hannibal auf Rache für die Nachkommen hofft, „wie sie für sei-nen Krieg vorbereitet worden war“309. Danach nimmt Niebuhr die seit Fabius Pictor immer wieder vertretene Meinung auf, dass Hannibal mit dem zweiten punischen Krieg die Rache-pläne seines Vaters und Schwagers ausführte. Somit sieht er das Revanchestreben Karthagos als eigentliche Kriegsursache des Hannibalkriegs.

Fasst man die bisher aufgeführten brieflichen Äußerungen zu Karthago zusammen, so kann man an ihnen den zeitlichen Hintergrund ihrer Entstehung gut nachzeichnen. Die Ausbreitung der römischen Weltherrschaft findet ihre Entsprechung in der aktuellen Machterweiterung Frankreichs. Dabei wird Preußen als das unterlegene Karthago gesehen, das Vernichtung er-fährt und nach dem Willen des Siegers keinen Aufschwung mehr erleben darf.

Jedoch kann man sich bei der Betrachtung dieser Analogien des Eindruckes nicht erwehren, dass sich Niebuhr eher von seinen jeweiligen Gefühlen leiten ließ als dass er die Ähnlichkei-ten der historischen Situationen eingehend untersuchte und analysierte. Es interessierÄhnlichkei-ten ihn vor allem die äußeren Züge.310

308 Ebenda.

309 Ebenda.

310 Vgl. Rytkönen, Politiker, S.148 f.

In Briefen nach der Zeit des Tilsiter Friedens findet man fast keine Erwähnung Karthagos mehr. Lediglich in einem Brief an Gneisenau wird die Schlacht von Zama nochmals am Ran-de aufgenommen; diesmal allerdings mit genau umgekehrten Rollen. Niebuhr gratuliert zum preußischen Sieg bei Belle-Alliance und stellt diesen sogar noch über Scipios Erfolg bei Za-ma.311 Allerdings sollte auch diese Bemerkung nicht dahingehend überbewertet werden, dass Preußen nun nach der Vorherrschaft in Europa strebte, sondern kann wohl auch wieder als Ausdruck dafür gelten, dass Niebuhr in Briefen gerne seine Gelehrsamkeit zeigte und bei sei-nen Briefpartnern auch mit einem ähnlichen Verständnishorizont rechsei-nen konnte.

Weitere briefliche Erwähnungen zu Karthago beziehen sich nicht direkt auf dessen Geschich-te, sondern geben zum einen geplante wissenschaftliche Tätigkeiten Niebuhrs wieder.312 Zum anderen gewähren sie einen Einblick, wie vielfältige Anregungen er aufnahm, um für sich noch offene wissenschaftliche Fragen zu klären.313

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