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Bewertung der karthagischen Religion im Spiegel von Friedrich Münters kar- kar-thagischer Religionsgeschichte und der christlichen Sittenlehre Schleiermachers

2. Karthago auf dem Weg in die moderne Forschung

1.3 Johann Friedrich Wilhelm Boetticher: Karthagische Geschichte im Spiegel christli- christli-cher Sittenlehre und moralischristli-cher Bewertung

1.3.3.2 Bewertung der karthagischen Religion im Spiegel von Friedrich Münters kar- kar-thagischer Religionsgeschichte und der christlichen Sittenlehre Schleiermachers

Boetticher beruft sich zu Beginn seiner Ausführungen über die Religion und den sittlichen Zustand Karthagos auf eine Schrift des dänischen Bischofs Münter452, die er als wesentliche Monographie zu diesem Gegenstand betrachtet. Als Einschränkung erwähnt er aber zugleich, dass er in seiner Gesamtgeschichte zu Karthago nicht die Ausführlichkeit Münters überneh-men könne.453

448 Vgl. GDC, S.51 f: „ ..., und in keinem anderen Punkte erscheint der Charakter der römischen Politik im Ver-gleich mit der carthagischen in einem vorteilhafteren Lichte als in diesem. Mit welchem wahrhaft großherzigen Sinne dankte man nach der Schlacht bei Cannä dem Consul Terentius Varro, daß er an der Rettung des Staates nicht verzweifelt habe, obwohl er allein an der Niederlage Schuld war; ein Edelmuth, von welchem sich in der ganzen Geschichte Carthagos keine Spur findet.“ Diese für ihn so lobenswerte römische Haltung, die sich soli-darisch mit ihren Feldherrn zeigt, nimmt er auch innerhalb der Darstellung des zweiten punischen Krieges nochmals auf: „ Alle Kräfte des Volkes waren zur muthigen Fortsetzung des Krieges aufgeregt, und nie war von Frieden die Rede; ... . Welch ein ganz anderes Schicksal hätte einen punischen Feldherrn unter diesen Verhält-nissen in Carthago erwartet!“ (309)

449 Siehe S.56.

450 GDC, S.53.

451 GDC, S.56.

452 Religion der Carthager, 2te Auflage 1821. Im Folgenden wird Münters Werk mit „RDC“ abgekürzt. Vgl.

GDC, S.77 FN 1.

453 Vgl. ebenda.

Die Schrift Münters stellt in erster Linie das karthagische Pantheon sehr detailliert dar. Erst in einem zweiten Schritt unternimmt der Autor den Versuch einer Beurteilung des karthagischen Volkes aufgrund seiner religiösen Praktiken.454 Allerdings stützt er sich hierbei nur auf antike Autoren, denen er in etwas naiver Weise folgt.455 Aus diesem Grunde tradiert Münter die be-reits häufig geäußerten Vorwürfe griechischer und römischer Autoren.456 Andererseits ver-sucht Münter jedoch auch, die karthagischen Religionsgräuel etwas zu relativieren, indem er sie zum einen historisch zu erklären versucht457, zum anderen Beispiele aus Zivilisationen aufführt, die einen ähnlichen Charakter besitzen.458 Ebenfalls interessant ist sein Versuch, die Authentizität der Kinderopfer zumindest in ihrer Anzahl etwas anzuzweifeln, indem er nicht alle Kinder durch das Feuer getötet wissen will, sondern unter Bezugnahme auf das Alte Tes-tament sowie Schriften von Rabbinern und Kirchenvätern die Vermutung aufnimmt, dass manche der Kinder „nur mitten durch ein heiliges Feuer hindurchgeführt und ihm dadurch geweiht wurden“459. Er gibt auch einen möglichen Grund für seine Vermutung an: „Denn Gefühle der Menschlichkeit und Liebe zu den Kindern müssen sich doch oft geregt und Ver-suche veranlasst haben, das unmenschliche Gesetz zu mildern!“460 Die Darstellung der kar-thagischen Religionspraktiken ist zwar bei Münter überwiegend negativ, und er stellt die Kluft zwischen diesen und dem allgemeinen karthagischen „Kulturstandard“ sowie zu den anderen Völkern der alten Welt als besonders auffällig dar, aber er erwähnt gleichwohl posi-tive Züge im Nationalcharakter: „Häusliche Zucht und Familiensitten ... konnten viele Män-gel der öffentlichen Institutionen zwar nicht heben, aber doch einigermaßen mildern: ...; und selbst die lange Dauer des Staates macht es nicht nur sehr wahrscheinlich, sondern selbst ge-wiss, dass das moralische Verderben, dem die Religion nur wenig entgegen arbeiten konnte, nicht immer gleich gros und vorherrschend gewesen ist.“461

454 RDC, S.152: „Aber doch blieb der Charakter der Nation im ganzen genommen, bis zur letzten Katastrophe, hart und barbarisch: auch ihrer Religion blieb er unauslöschlich eingedrückt.“

455 Vgl. dazu Münter, RDC, S.153: „Es ist wahr, Cicero war ein Römer; ... und sollte der römische Nationalhass gegen einen bereits vor mehr als hundert Jahren zerstörten Staat einen so edlen Mann wie Cicero es war, zu geflissentlicher Unwahrheit und Ungerechtigkeit haben verleiten können? Nein, wir müssen wohl die Grundzü-ge des karthagischen Nationalcharacters, wie die Alten sie einmüthig entwerfen, anerkennen.“

456 Vgl. dazu v.a. RDC, S.155 f: „... aber Treulosigkeit ward ihnen allgemein vorgeworfen, und fides punica war zum Sprichwort geworden. Dies konnte aber keine Verläumdnung, sondern musste in der Erfahrung gegründet seyn, und floss aus ihrer unersättlichen Gewinnsucht.“ Vgl. dazu auch oben S.11-14.

457 Vgl. RDC, S.18, wo Münter die Menschen- und Kinderopfer zu erklären versucht.

458 Vgl. z.B. RDC, S.20: Münter stellt Ähnlichkeiten zwischen der Selbstopferung in Karthago und im Indien seiner eigenen Zeit heraus. Vgl. dazu auch RDC, S.80: Münter nimmt auch bei den griechischen Völkern Tem-pelprostitution an.

459 Münter, RDC, S.24.

460 Ebenda.

461 Münter, RDC, S.156 f.

Bei der Betrachtung der bisherigen Ausführungen Boettichers462 fällt dem Leser als Unter-schied zu Münter auf, dass sich Boetticher bevorzugt der Darstellung und moralischen Bewer-tung von Kinderopfern und Tempelprostitution widmete463 sowie - in anderen Kapiteln - die Grausamkeit der Karthager im Kriege und gegenüber eigenen Feldherrn besonders scharf tadelte.464 Berücksichtigt man dann auch noch seinen schon beinahe theologischen Zugang zur Geschichte, den er selbst offen darlegte, so scheint es durchaus angemessen, nach einer konkreten theologischen Beeinflussung Boettichers zu suchen. Wenn auch wenig über seinen Lebenslauf bekannt ist, so stimmen doch alle Fundstellen überein, dass zumindest bis 1829/30 Schleichermacher großen Einfluss auf seine geistige Entwicklung und Einstellung ausübte und er mit ihm auch freundschaftliche Beziehungen unterhielt.465 Innerhalb der Ausführun-gen zu Karthagos Religion und ihren AuswirkunAusführun-gen fällt auf, dass die von Boetticher beson-ders favorisierten Themenbereichen, v.a. Verhältnis zu Kindern, Ehe, Grausamkeit im Kriege, auch in Schleiermachers Schrift „Christliche Sittenlehre“ 466 thematisiert werden.467

Die einzelnen Rezeptionsstränge sollen im Folgenden aufgedeckt werden.

Zunächst betont Boetticher den engen Zusammenhang zwischen der Religion eines Volkes und dessen sittlichem Zustand sowie geistigem Streben und Wirken.468 Insofern wirkt sich seiner Meinung nach die ernste und düstere Weltansicht der Karthager auch auf ihr gesamtes Leben aus: „Mit banger Furcht und doch mit erzwungenem Lächeln, um der Gottheit Wohlge-fallen zu erwerben, opferte die Mutter ihr liebstes Kind dem schrecklichen Götzen, und nicht anders gestaltete sich Sinn und Leben des Volkes“.469 Bereits an dieser kurzen, aber

462 Siehe dazu auch Kapitel 1.3.3.1 (S.87-89).

463 Vgl. GDC, S.81-89.

464 Vgl. z.B. GDC, S.51 f.

465 Vgl. dazu DBA, Fiche 120, S.335. Zu Schleiermacher vgl. aus der neueren Literatur z.B. Clements, Keith W., Friedrich Schleiermacher. Pioneer of modern theology, Minneapolis 1991 (The making of modern theology, 1);

Fischer, Hermann, Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, München 2001 (Becksche Reihe, 563: Denker), No-wak, Kurt, Schleiermacher. Leben, Werk und Wirkung, Göttingen 2001.

466 Vgl. als Ausgaben: „Christliche Sittenlehre. Einleitung (Wintersemester 1826 / 27)“, hg. v. H. Peiter, Stutt-gart u.a. 1983 sowie „Die christliche Sitte nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt“ Aus Schleiermachers handschriftlichem Nachlasse und nachgeschriebenen Vorlesungen hg. v. L.

Jonas (SW 1. Abt. XII. Bd.), Berlin 1843. Es ist anzunehmen, dass Boetticher die Vorlesung „Christliche Sitten-lehre“ bei Schleiermacher hörte, die zu dessen Hauptvorlesungen gehörte. Vgl. dazu als Übersicht Christliche Sittenlehre, hg. v. Peiter, S.XXIII.

467 Vgl. dazu v.a. Birkner, Hans-Joachim, Schleiermachers Christliche Sittenlehre im Zusammenhang seines philosophisch-theologischen Systems, Berlin 1964 (Theologische Bibliothek Töpelmann, 8. Heft), bes. 113-141.

468 Vgl. GDC, S.77. Vgl. dazu auch Münter, Religion der Karthager, S.150 f, der zwar einen Zusammenhang zwischen religiösem und moralischem Zustand annimmt, aber anderweitige geistige Entwicklungen wie z.B. die Wissenschaften davon ausgenommen wissen möchte. Insofern ist Boetticher im Gegensatz zu Münter als „radi-kaler“ zu betrachten.

469 Ebenda.

lichen Stelle werden zwei Grundzüge der karthagischen Religion deutlich: Zum einen die Grausamkeit, die nicht davor zurückschreckt, Familienbande zu zerreißen, zum anderen die Verstellung, die wahre Gefühle nicht zeigen lässt. Gerade ersteres muss Boetticher mit tiefster Abscheu erfüllen, stellt doch die Familie gemäß der Christlichen Sittenlehre die „Elementar-sphäre des kirchlichen Lebens“470 dar. Die hohe Wertschätzung, die dieser sittlichen Grund-gemeinschaft, die alle anderen großen Formen der Gemeinschaft keimhaft in sich trägt, von Boetticher auch in seinem eigenen Leben entgegengebracht wurde471, ist seiner Meinung nach für Karthago keineswegs anzunehmen, so dass das Wissen um dieses Defizit bei der Anklage der Kinderopfer sicherlich eine Rolle spielt.

Im Folgenden schildert er kurz das Pantheon der Karthager und kommt im Rahmen des Baal-dienstes nochmals auf die grausamen Menschenopfer, „welche gewiß den nachtheiligsten Einfluß auf den ganzen Charakter des Volkes ausübten“472, zu sprechen. Um dies zu verdeut-lichen, beschreibt er erneut ein Kinderopfer in sehr dramatischer Manier. Diese Stelle soll zitiert werden, um über den Eindruck der Sprache Boettichers Einblick in seine Gedankenwelt zu erhalten: „Unter lärmender Musik, damit man das Wimmern der unglücklichen Schlacht-opfer nicht vernehmen möchte, wurden die Kinder, die man auf jede Weise zu beruhigen ver-suchte, um das Opfer desto wohlgefälliger zu machen, dem Götzen auf die Arme gelegt, daß sie in die Glut des Ofens hinabrollten. Schweigend standen die Mütter dabei, und ein strenges Gesetz untersagte ihnen selbst die Thränen des herzzereißenden Schmerzes.“473 Um aber auch gleichzeitig die bereits oben erwähnte Verschlagenheit zu belegen, führt Boetticher noch eine

„Alternative“ dazu an: „Es war natürlich, daß man versuchte, diese grausame Sitte dadurch einigermaßen zu mildern, daß man Sklavenkinder kaufte, um die eigenen zu schonen.“474 Obwohl Boetticher hinsichtlich dieses Brauches schon seiner Empörung deutlich Ausdruck verleiht, gibt es für ihn noch eine Steigerung der karthagischen Unmoral, die für sein sittli-ches Empfinden noch abstoßender ist. Im Rahmen des Dienstes der Göttin Astarte, beschreibt er die Tempelprostitution475 als „gräßlichste Unzucht“.476

470 Birkner, Christliche Sittenlehre, S.127.

471 Vgl. Nekrolog, Fiche 120, S.335 f.

472 GDC, S.81.

473 GDC, S.82.

474 Ebenda.

475 Die Verurteilung der Tempelprostitution innerhalb der christlichen Kirche geht bis auf Paulus (1 Kor 5,9-11) zurück, während die alten Völker (z.B. Kanaaniter, Syrer und Phönizier (!)) damit unbefangen umgingen. Inner-halb der christlichen Lehre bedeutet jeglicher sexueller Verkehr außerInner-halb der Ehe Unzucht. Vgl. dazu z.B.

Denzler, Georg, Die verbotene Lust. 2000 Jahre christliche Sexualmoral, München 1988, S.205.

476 GDC, S.84: „Dieser Ort [Anm.: Tempel der Astarte zu Sicca], ..., wurde durch den furchtbaren Glauben, daß der Naturgöttin die Keuschheit der Jungfrauen und Mädchen zum Opfer gebracht werden müsse, der Sitz der

Anhand dieser mit Abscheu geschilderten religiösen Praktiken zieht Boetticher Rückschlüsse auf das sittliche Leben in Karthago. Dies glaubt er damit begründen zu können, dass gerade die Gottesfurcht der orientalischen Völker Auswirkungen auf ihre Lebensgestaltung hatte.477 Während er die Wahl der Eigennamen, die in engen Beziehungen zu den verschiedenen Gott-heiten stehen, Gebete vor wichtigen Ereignissen, an Altären geleistete Eide und die Hoffnung auf ein glückseliges Leben nach dem Tode noch wertneutral schildert, bezeichnet er die Aus-wirkungen des unmenschlichen Aberglaubens auf den Volkscharakter als höchst negativ:

„Wie diese [Anm.: karthagische Religion] einen düstern, knechtischen und grausamen Cha-rakter an sich trug, so waren auch die Carthager selbst mürrisch und finster, sklavisch ergeben dem Gebieter und der Obrigkeit, hart und grausam gegen Untergebene und Fremde, trotzig im Zorne, verzagt in der Furcht. Jedes menschliche Gefühl mußte ja durch die gräßlichen Mo-lochsopfer in ihnen erstickt werden; kein Wunder, daß sie ohne Schonung und mit kalter Grausamkeit gegen überwundene Feinde wütheten, daß sie in ihrem Fanatismus selbst die Tempel und Gräber im feindlichen Lande nicht schonten.“478 Dieses grausame, ja unmensch-liche Vorgehen wird vor allem in den Kriegen gegen Syrakus mehrfach hervorgehoben.479 Exemplarisch soll eine Schilderung vorgestellt werden, in deren Muster auch die weiteren Vorwürfe passen: „Hier [Anm.: Nach der Eroberung von Selinus im Jahre 409 v.Chr.] zeigte sich, daß die Carthager die Niederlage ihrer Vorfahren bei Himera noch nicht vergessen hat-ten, und mit einer kaum zu beschreibenden Grausamkeit, zu welcher Hannibal, der gleich Anfangs den Seinigen die Plünderung der Stadt versprochen hatte, und auf der anderen Seite der hartnäckige Widerstand der Belagerten nicht wenig mitwirken mochte, wurde kein Alter, kein Geschlecht verschont; selbst Leichname wurden verstümmelt, Hände und Köpfe auf eine gräßliche Weise durch die Straßen geschleppt. Auch die, welche in Tempel geflohen waren, verschonte man nur deshalb, damit sie nicht in der äußersten Verzweiflung, ihre

gräßlichsten Unzucht, und die benachbarten Numider, ..., ein dem sinnlichen Genusse im höchsten Grade erge-benes Volk, mögen auf eine noch sittenlosere Weise als die Assyrer und Babylonier mit dem Dienste der Göttin Mißbrauch getrieben haben.“

477 Vgl. GDC, S.86.

478 GDC, S.87.

479 Vgl. z.B. GDC, S.105, 109, 111,124; Vgl. dazu auch GDC, S.243 (Erstürmung Sagunts durch Hannibals Truppen). Allerdings finden gelegentlich auch von den Gegnern begangene Grausamkeiten Erwähnung. Vor allem dem Tyrannen Agathokles werden mehrfach Kriegsgräuel und Verschlagenheit vorgeworfen. Vgl. dazu z.B. GDC, S.148,159f. Ebenso brandmarkt Boetticher das brutale Vorgehen der Söldner im Krieg gegen Kar-thago. (Vgl. dazu GDC, S.227). Die Misshandlung von Boten aus Capua durch die Römer wird erstaunlicher-weise nicht verurteilt, sondern als „warnendes Beispiel“(S.354 FN 1) beschrieben.

Asyle in Brand steckten, und den habsüchtigen Feind der reichsten Beute beraubten“.480 Die Ausführlichkeit und drastische Darstellungsweise könnten ihren Ausgangspunkt auch wieder in den Ideen Schleiermachers haben. Wenn dieser auch in seiner Sittenlehre einen Verteidi-gungskrieg als extreme Form des reinigenden Handelns, das ein Staat gegenüber einem ande-ren ausüben konnte, billigt, so handelt ein kriegfühande-render Staat doch immer dann unsittlich, wenn er Untertanen eines gegnerischen Staates töten lässt, wo auch immer sie angetroffen werden.481 Da Boetticher mehrfach herausstellt, dass nicht einmal in Tempel geflohene Men-schen geschont wurden, kann das Vorgehen karthagischer Feldherren und auch des Staates als höchst unsittlich verurteilt werden.482

Zu diesen Einflüssen der Religion kommen noch der Handelscharakter und die Gewinnsucht der Nation hinzu, so dass dem „Volkscharakter“ „alle Wahrheit und Gradheit“483 verloren geht, was sich schließlich sogar darin äußert, dass die Karthager auch die Götter durch die Opferung von gekauften statt eigenen Kindern betrügen wollen.484

Als weitere Negativfolge aus der Religion schließt Boetticher auf die „Unsittlichkeit“, womit er sexuelle Ausschweifung meint, die die „ehelichen Bande auflöste“485, so dass selbst die Monogamie nur noch eine Farce darstellte.486 Allerdings beschränkt Boetticher diesen Vor-wurf nicht nur auf Karthager, sondern schreibt ihn allen afrikanischen Völkern zu. Die mora-lische Entrüstung, die Boetticher dabei zeigt, ist m.E. wiederum in Schleiermachers und auch seinem eigenen sittlichen Verständnis von Ehe zu finden, demzufolge diese den Mittelpunkt der Familie und des Hauswesens bildet. Ihr Hauptzweck ist in der Fortpflanzung zu sehen, so dass hier eine karge und strenge Auffassung dieser Lebensform vorherrscht, die durch ihre

480 GDC, S.105.

481 Vgl. Birkner, Christliche Sittenlehre, S.133-135.

482 Vor einem ähnlichen Hintergrund muss auch die grausame Behandlung erfolgloser Feldherren durch den Staat betrachtet werden. Zwar hat der Staat eine Strafgerichtsbarkeit mit dem Zweck, reinigendes Handeln, das vom Ganzen ausgeht, auszuführen, aber Strafe darf nur als abschreckende Drohung verstanden werden, d.h. wer sich als ungehorsam erweist, lässt die Drohung gegen sich selbst wirksam werden. Allerdings darf nur das als Strafe auferlegt werden, was jeder sich selbst als Übel zuzufügen berechtigt ist. Aus diesem Grunde scheidet die Todesstrafe aus, die sich als Relikt barbarischer Zeiten und Beweis von politischem Unvermögen gehalten hat.

Vgl. dazu Birkner, Christliche Sittenlehre, S.132 f. Unter Zugrundelegung dieses Gedankenganges ist Boetticher über das Verhalten der Karthager gegenüber glücklosen Feldherren wohl doppelt empört: Zum einen wird eine Strafe ausgesprochen, obwohl keinesfalls zwingend der Gehorsam gebrochen sein musste, zum anderen hat die Bestrafung meist den Tod der Verurteilten zum Ziel, wozu jedoch keine Gesellschaft ein Recht hat.

483 GDC, S.87. Boetticher übernimmt dabei weitgehend die Argumentation Ciceros.

484 Vgl. GDC, S.88. Dieser Vorwurf wurde weder von Heeren noch von Niebuhr, obgleich auch sie Menschen-opfer und Grausamkeit im Kriege beiläufig erwähnten, ohne sie meistens jedoch zu bewerten.

485 GDC, S.88.

486 Hierbei geht Boetticher über die Anklagepunkte Münters noch hinaus, der für Karthago zumindest teilweise noch „häusliche Zucht und Familiensitten“ annimmt, die so den moralischen Verfall etwas aufhielten. Vgl. dazu Münter, RDC, S.156 f .

prinzipielle Unauflösbarkeit zusätzlich noch verschärft wird.487 Dass jede Abweichung davon bei einem gläubigen Menschen Empörung hervorrufen muss, erscheint verständlich. Zudem kann der Hinweis, dass die Monogamie in Karthago ohne eigentliche Wirkung geblieben sei, mit der Schleiermacherschen Ansicht zur Deckung gebracht werden, gemäß welcher diese Partnerschaftsform erst im Christentum ihre wahre sittliche Begründung erhalten hat.488 Wenn auch Boetticher die Religion und den sittlichen Zustand der Karthager als mangelhaft betrachtet, so billigt er ihnen doch zu, zumindest in den Bereichen der Kultur große Leistun-gen vollbracht zu haben, was er vor allem auf ihre phönizische Herkunft zurückführt.489

1.3.4 Zusammenfassung

Das Bild, das sich Boetticher von Karthago macht, zeigt ein grausames und herzloses Volk, das aufgrund seiner Religion, die vor Menschenopfern und Tempelprostitution nicht zurück-schreckt, keineswegs den Anforderungen genügen kann, die Boetticher gemäß seiner christli-chen Überzeugung an jedes Volk stellt. Die Übelstände, die in der karthagischristli-chen Verfassung und im Staatsleben erkannt werden können, vor allem die Grausamkeit gegenüber glücklosen Feldherrn und Kriegsgegnern, die Kinderopfer, daneben aber auch die allgemeine Geldgier und Gewinnsucht, führt Boetticher konsequent auf die Religion zurück. Insofern verarbeitet er in seiner Charakteristik diejenigen Vorurteile, die auch von antiken Autoren bereits zur Ab-wertung der Karthager gebraucht wurden, versieht sie aber gleichsam mit einer christlichen Deutung. Daneben hebt er gleichwohl hervor, dass der Kulturzustand in Karthago durchaus hoch war, was vor allem dem phönizischen Erbe zugeschrieben wird. Damit folgt Boetticher in seiner Geschichtsdarstellung der Einteilung der antiken Quellen, die die Phönizier im Ge-gensatz zu den Karthagern ob ihrer kulturellen Errungenschaften höher schätzen.

Der religiös motivierte Ansatz, der zudem Boettichers Selbsteinschätzung als Wissenschaftler entsprach, stellt in der Tat ein Novum dar. Die Schilderung der kriegerischen Ereignisse zwi-schen Griechen bzw. Römern und Karthago dagegen erfolgt sehr nahe an den einschlägigen Quellen, so dass keine weltanschauliche Linie oder Beeinflussung durch wissenschaftliche oder auch außerwissenschaftliche Strömungen zu erkennen ist. Boetticher verfolgt in seiner Darstellung auch nicht das Ziel, den Leser politisch zu beeinflussen.

487 Vgl. Birkner, Christliche Sittenlehre, S.127-131.

488 Vgl. ebenda, S.129.

489 Vgl. GDC, S.89 f.

Insofern stellt die „Geschichte der Carthager“ einen Versuch dar, ein Gesamtbild karthagi-scher Geschichte von den Anfängen bis zum Untergang zu zeichnen, wobei auch das römi-sche Karthago kurz gestreift wird und so zumindest eine dünne Linie der Kontinuität gezogen wird.

2. Theodor Mommsen: Karthagische Geschichte und der Maßstab des Nationalen

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