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2. Karthago auf dem Weg in die moderne Forschung

1.1 Arnold Hermann Ludwig Heeren: Karthago zwischen Universal- und Kulturge- Kulturge-schichte

1.1.2 Analyse der Karthagodarstellung Heerens: Karthago als Staat mit „Eigenwert“

Das Interesse an Karthago erwachte bei Heeren im Rahmen der Vorbereitung einer Vorle-sung, als er zwischen der älteren römischen Geschichte und dem Zeitalter der punischen Krie-ge einen Abschnitt über Karthago einbaute. Dabei Krie-genügte ihm ein einfacher Überblick bald nicht mehr, und er begann, sich intensiver mit dem „Wesen“ und der „Geschichte“ dieser Re-publik auseinanderzusetzen, wobei er dabei diesem Untersuchungsgegenstand zunehmend politische Relevanz zubilligte: „Das Wesen, der Geist der ersten großen, zugleich handelnden und erobernden, Republik wurden mir klar; eine neue Ansicht trat nach der anderen hervor;

aber der Gesichtskreis erweiterte sich immer mehr; die alte Welt überhaupt zeigte sich mir von einer neuen Seite, von der Seite des Handels und des Verkehrs, und was damit in genauer Verbindung stand, des Ursprungs, der Bildung und der Verfassung der alten Staaten.“204 Inso-fern kann Karthago als Mitauslöser für die zukünftige Konzeption Heerens dienen, die eine stetige Verknüpfung von Handels- und Eroberungsgeist darstellt.

teren dann meist sachliche Ordnungen dominieren, so dass man z.B. zwar keine Ahnung vom Kulturstand eines bestimmten Volkes hat, dafür aber einen Überblick erhält, wie Kultureinrichtungen in diesem oder jenem Jahr-hundert generell ausgesehen haben. Heeren dagegen möchte nicht allgemeine Kulturgeschichte betreiben, son-dern aufzeigen, wie der Kulturstand in seinen Einzelkomponenten ein Teilaspekt der politischen Geschichte der einzelnen Völker wird. Vgl. dazu Becker-Schaum, Heeren, S.165.

201 Heeren, Ideen..., 1. Theil, Asiatische Völker; 1. Abtheilung , Allgemeine Vorerinnerungen, 31815, S.52:

„Möge der Zug der friedlichen Caravane uns das Schauspiel verwüstender Heere, mögen die werdenden Mauern der neugegründeten Colonie den Anblick zertrümmerter Städte ersetzen.“

202 Gerade diese Thematik wird bei der Behandlung der karthagischen Geschichte eine höchst bedeutende Rolle spielen. Siehe unten S.54-57.

203 Vierhaus, Universität, S.26.

204 Zit. n. Becker-Schaum, Heeren, S.98.

Heeren gliedert seine Karthagodarstellung205 in Vorbemerkungen und acht Abschnitte. Die Abschnitte sollen aufgeführt werden, da sie in überzeugender Weise die beabsichtigte Kon-zeption widerspiegeln:

Bildung und Zustand des Carthagischen Gebietes in Africa (29-67), Auswärtige Beziehungen der Carthager: 1. Provinzen (68-98), 2. Auswärtige Colonien (99-114), Carthagische Staats-verfassung (115-147), Carthagische Staatseinkünfte (148-162), Schifffahrt und Seehandel Carthagos (163-187), Landhandel von Carthago (188-253), Carthagische Kriegsmacht (254-275), Sinken und Fall von Carthago (276-306).

Insgesamt umfassen diese Ausführungen 285 Seiten, von denen sich nur 30 Seiten mit den römisch-karthagischen Auseinandersetzungen beschäftigen.206 Diese Verteilung wird vom Autor auch noch zusätzlich erläutert: „Eine Geschichte von Carthago zu schreiben, ist nicht unser Endzweck; und seine letzte Periode ist nicht diejenige, die uns eigentlich beschäftigen darf.“207 Diese Aussage deckt sich mit seiner Einschätzung der karthagischen Geschichte, nach der die Zeit der punischen Kriege nur noch einen Kampf um Selbsterhaltung darstellte, wobei die eigentlich „typische“ Politik bereits aufgeopfert werden musste.208 Aus diesen Gründen gibt sich Heeren selbst als Arbeitsziel vor: „Wir wollen unseren Standpunct in jenem glücklichen Zeitraum nehmen, wo dieser Staat noch in seiner vollen Thätigkeit, und dem un-gehinderten Gebrauch seiner Kräfte war“209. Für ihn stellt die Frage, was Karthago gewesen ist und welche Faktoren seine Entwicklung prägten, den Kern der Untersuchungen dar. Um eine differenzierte Sichtweise anbieten zu können, nimmt er zunächst eine Periodisierung vor, nach der die karthagische Geschichte in drei Epochen gegliedert werden kann.210 So wird die Zeit von den Anfängen bis zum Beginn der Kriege mit Syrakus (878-480) als Zeitraum der Entstehung und des Wachstums gesehen, die vor allem die Ausbreitung innerhalb Afrikas, auf Sardinien und den kleineren Inseln umfasste. Kriegerische Auseinandersetzungen waren in

205 Auch in seinem Handbuch der Geschichte der Staaten des Alterthums mit besonderer Rücksicht auf ihre Verfassungen, ihren Handel und ihre Colonien, (Göttingen 11799; hier zitierte Auflage: 51828 ) beschäftigt sich Heeren mit Karthago. Allerdings stellen diese Ausführungen im Wesentlichen eine Kurzfassung der „Ideen“ dar, die auf das Niveau eines Studienhandbuches „zurechtgestutzt“ wurde. Deshalb werden die Ausführungen des Handbuches nur dann erwähnt, wenn sie einen Aspekt oder eine Wertung bieten, die im Hauptwerk anders dar-gestellt ist.

206 Die Bedeutung Karthagos für Griechen und Römer ist nach Heeren nur hauptsächlich aufgrund dieser Kämp-fe gegeben und somit rein militärisch geprägt. Vgl. Ideen, S.24. Heeren kritisiert seine Vorgänger im Bereich der Alten Geschichte, dass diese weitgehend die kriegerische Perspektive vertreten hätten, ohne auf die inneren Zustände der Staaten Rücksicht zu nehmen. Vgl. Becker-Schaum, Heeren, S.151.

207 Heeren, Ideen, S.27.

208 Vgl. ebenda, S.24: „Von dem Zeitpunkt an, wo der Kampf mit Rom anfing, hörte Carthago auf zu seyn, was es gewesen war.“

209 Ideen, S.27.

den Handelskriegen mit Massilia und den Etruskern gegeben. Als zweite Epoche bezeichnet Heeren die Kriege mit Syrakus bis zum Beginn des Römerkriegs (480-265). Diese stellt für ihn die Zeit der größten Macht und Ausbreitung dar, während die Zeit der Kämpfe mit Rom bis zur Zerstörung (265-146) den Charakter einer Verfallsepoche trägt. Bereits an dieser Stel-le könnte eine Inkonsequenz Heerens gegenüber seinen Absichtserklärungen konstatiert wer-den, da seine Zeiteinteilung auf Zäsuren durch Kriege beruht und eben nicht auf verfassungs- bzw. handelsgeschichtlichen Einschnitten aufbaut.

In seiner Darstellung führt Heeren diejenigen Komponenten, die für sein Verständnis von Karthago prägend sind, aus. Dabei zählt er keineswegs nur Kuriosa auf, die vielleicht der Er-wähnung wert wären, oder kontrastiert Karthago mit Rom und Griechenland als den „ganz anderen (und schlechteren) Staat“, sondern in seinem Verständnis von Geschichte als empiri-scher Wissenschaft versucht er, Kunde von geschehenen Begebenheiten zu vermitteln, deren innerer Zusammenhang in der Geschichte selbst liegt.211

Als Einstieg umreißt Heeren zunächst in ausführlicher Weise das Staatsgebiet innerhalb Afri-kas, dann die Provinzen und Kolonien. Dabei ist seine Tendenz, die unterschiedlichen Gebiete ihrem rechtlichen Charakter nach systematisch zu erfassen, unverkennbar.212 Ebenso hervor-zuheben ist sein Bemühen, alle Völker, die mit den Karthagern in Kontakt standen, zu erfas-sen und sowohl geografisch als auch ethnografisch einzuordnen.213 Aus diesen Beschreibun-gen heraus versucht er, Rückschlüsse auf den grundsätzlichen Staatscharakter Karthagos zu ziehen: „[Anm.: Phönizische Staaten konnten nicht erobern, da sie von zu mächtigen Reichen umschlossen waren.] Ganz anders war die Lage von Carthago. Am Rande eines großen Welttheils gebaut, dessen kriegerische Nomaden ihm gegen Sold zahlreiche Heere darboten, und umgeben gleichsam von herrenlosen Ländern, konnte es erobern, und fand es bald seinem Interesse gemäß, wirklich zu erobern.“214 Anhand dieser Argumentation wird die Vorgehens-weise Heerens deutlich. Die geografischen bzw. ethnografischen Ausführungen werden nicht um ihrer selbst gegeben, sondern stellen vielmehr den ersten Schritt zur Verknüpfung von Geschichte und Geografie dar. Sie entsprechen der Einstellung Heerens, dass „der Vortrag der

210 Vgl. ebenda, S.29 FN 7.

211 Vgl. Vierhaus, Universität, S.26.

212 Vgl. z.B. die Unterscheidung zwischen karthagischen Pflanzstädten und alten phönizischen Kolonien in Af-rika (Ideen, S.48). Ebenso versucht er Unterschiede zwischen karthagischen Provinzen und Kolonien herauszu-arbeiten (Ideen, S.68-114). Dabei fällt es ihm jedoch schwer, sich einer eindeutigen Terminologie zu bedienen, wobei dies aber auch nicht sein vorrangiges Ziel darstellt. Vielmehr will er aus der Interessenlage Karthagos die Notwendigkeit der eingeschlagenen Politik erklären. Vgl. dazu auch Becker-Schaum, Heeren, S.164.

213 Vgl. z.B. die Beschreibung der wichtigsten nordafrikanischen Stämme (Ideen, S.53-56).

214 Ideen, S.69.

erstern [Anm.: Geschichte] allein notwendig zu trocken ausfallen müßte“ 215. Durch die Schil-derung von Staatsgebiet und umgebenden Völkern wird das von Heeren propagierte Bedürf-nis nach Lebensnähe und Lebendigkeit gestillt.216 Aufgrund der Erkenntnisse seiner bisheri-gen Betrachtunbisheri-gen, ist es Heeren dann möglich, Karthago als einen „Sonderfall“ innerhalb der phönizischen Geschichte zu sehen, der aber gleichwohl keine singuläre Erscheinung in-nerhalb der Universalgeschichte darstellt, sondern in der Geschichte anderer Freistaaten wie Athen, Sparta, Rom bis hin zu Venedig, Genua und Nordamerika seine Entsprechung fin-det.217 Die Vergleiche, die Heeren wählt, belegen zudem seine universalhistorische Perspek-tive, die vom Altertum bis zu seiner aktuellen Gegenwart reicht. Außerdem weisen sie auf eine Sichtweise hin, die Gemeinsamkeiten betont218 und nicht nur auf Abgrenzung aufbaut.

Um jedoch das für Karthago Typische nicht aus den Augen zu verlieren, erläutert Heeren die Mäßigung, die sich dieser Staat freiwillig auferlegte, indem er seine Eroberungen hauptsäch-lich auf Inseln beschränkte und nur dort Kolonien anlegte, wo sie auch beherrschbar schie-nen.219 Um seinen Lesern diese Politik noch deutlicher vor Augen zu führen, zieht Heeren einen Vergleich mit der europäischen Kolonisation ab dem 17. Jahrhundert.220 Dabei lobt er die niederländische Kolonisation, die vor allem hinsichtlich ihrer Ostindischen Besitzungen viel mehr erreicht habe als die der Engländer und Franzosen.221 Gerade die Vorgehensweise der niederländischen Vereinigten Ostindischen Compagnie (VOC) scheint nach Heeren Kar-thagos Politik wieder aufzunehmen. Dabei erklärt er an anderer Stelle den Erfolg der VOC damit, dass diese Gesellschaft, die die Tradition des niederländischen Handels fortsetzte, ein politischer und merkantilistischer Körper gewesen sei, der den Generalstaaten nur wenig

215 Entwurf zu Vorlesungen über alte Geschichte in Verbindung mit alter Geographie, S.47, zit. n. Becker-Schaum, Heeren, S.89.

216 Vgl. Becker-Schaum, Heeren, S.89.

217 Vgl. Ideen, S.69: „Zum erstenmal also zeigt uns hier die Geschichte einen freyen und mächtigen Handels-staat, der seine Größe auf gewaltsam erworbene auswärtige Besitzungen gründete.“

218 Gerade zur römischen Kolonisation in Italien stellt Heeren Parallelen her, wenn er die von Karthago im Lan-desinneren von Libyen angelegten Pflanzstädte als Ackerbürgerstädte sieht, die nicht zuletzt deshalb gegründet wurden, um eine Versorgungsmöglichkeit für die wachsende Zahl der Stadtbewohner zu schaffen bzw. Schutz vor Erhebungen der einheimischen Völkerschaften zu bieten. Vgl. dazu Ideen, S.44. Auch versucht er so, das Bild, das Karthago als ausschließlichen Handelsstaat sieht, zu korrigieren.

219 Vgl. Ideen, S.71. Diese maßvolle Politik wird im „gesunden“ Zeitalter karthagischer Politik auch ausdrück-lich auf Spanien bezogen: „Da sie Mäßigung genug besaßen einen ruhigen Verkehr dem Glanze der Eroberun-gen vorzuziehen, konnten sie die Vortheile gut gebrauchen“ (98). Erst in „der Zeit der Noth“ verändert sich die Politik gegenüber Spanien, „wo ihre Politik schon völlig aus ihrem Gleichgewichte gebracht war“. (71)

220 Die Auseinandersetzung mit einem von Heeren gewählten Vergleich wird hier exemplarisch vorgenommen, um die Argumentationslinie Heerens nachzuzeichnen, aber auch eventuelle Widersprüche aufzuzeigen.

221 Vgl. Ideen, S.72.

tergeordnet war.222 Aus dieser Charakteristik kann man zunächst folgern, dass nicht staatliche Herrschafts- und Machtinteressen, sondern eher realistische Kaufmannsüberlegungen das Vorgehen gegenüber den Kolonien bestimmt hätten. Insofern ist die Bedeutsamkeit des Ver-gleiches hier noch gegeben. Für das Wachsen der VOC führt Heeren in erster Linie die mitun-ter durch Gewalt erlangten und behaupteten Monopole, nicht aber die intensive Kolonisierung und Besiedelung der neuen Länder an.223 Auf karthagischer Seite schildert Heeren den sog.

„Handelsegoismus“224, durch den die karthagischen Kaufleute andere Interessenten vor allem von den wichtigen Seewegen und Häfen fernhielten225 und so auch eine faktische Monopol-politik aufbauten. Dafür äußert Heeren aber Verständnis: „Mit Recht, glaube ich, darf man hieraus die Folge ziehn, daß Carthago eine notwendige Politik nach seiner Lage befolgte, wenn es gleich in Rücksicht auf das Ganze eine kleinliche und eigennützige Politik war.“226 Am bemerkenswertesten ist m.E. an dieser Stelle, dass Heeren eben nicht mit dem Volkscha-rakter der Karthager227 argumentiert, sondern eher eine allgemein anthropologische Erklärung und Begründung aus der jeweiligen Situation heraus gibt. 228 Bei der Weiterverfolgung des Vergleiches mit der Kolonisierung der Neuzeit nimmt er die Abgrenzung zur Konkurrenzor-ganisation in England, der East India Company, dadurch vor, dass er dieser nur merkantilisti-sche Zwecke zuschreibt.229 Durch den Vergleich mit ihr230 kann Heeren seinen Standpunkt

222 Vgl. Heeren, Handbuch der Geschichte des europäischen Staatensystems und seiner Colonieen, Bd.

1,Göttingen 1809, S.135.

223 Vgl. Heeren, Europäisches Staatensystem, S.179.

224 Ideen, S.164.

225 Vgl. Ideen, S.166 f.

226 Ideen, S.167.

227 Diese Argumentation wird von Heeren jedoch an anderer Stelle einmal verwendet. In Bezug auf Sizilien spricht Heeren von den „mit aller Sparsamkeit“ angelegten und „mit aller Eifersucht, die kargen und argwöhni-schen Kaufleuten eigen ist“ (Ideen, S.84) bewachten Kolonien, die er in Gegensatz zu den lebens- und genuss-freudigeren griechischen Städten stellt.

228 Vgl. Ideen, S.164: „Schon bey dem einzelnen Menschen, der einen vortheilhaften Erwerbszweig entdeckt hat, entsteht das Bestreben diesen so viel möglich für sich allein zu behalten. Wie natürlich ist dieses auch bey den Staaten, die dazu so viel größere Mittel in Händen haben? ... In keinem anderen Handelsstaat der alten Welt mußte sich diese Politik aber mehr ausbilden als in Carthago; weil kein anderer eine solche Abhängigkeit seiner Colonien zu behaupten wußte, und eben daher auch keine solche Mittel in Händen hatte, den Handelsegoismus so weit zu treiben, und so dauern zu behaupten.“ Hinsichtlich der anthropologischen Komponente vgl. den Einfluss Meiners (siehe S.40).

229 Vgl. Heeren, Europäisches Staatensystem, S.140.

230 Dieser Vergleich ist bei genauerer Betrachtung nicht unproblematisch. Zwar kann der mangelnde Erfolg der französischen Kolonialpolitik durch die übergroße Abhängigkeit der Compagnie de l` Orient von der Krone, die sich weniger in Profit- als in Machtstreben äußerte, erklärt werden. Aber gerade die englische und niederländi-sche Vorgehensweise sind nicht so verschieden. Vgl. dazu ausführlich Reinhard, Wolfgang, Geschichte der europäischen Expansion, Bd. 1: Die Alte Welt bis 1818, Stuttgart 1983. Der Erfolg der VOC wird heute viel-mehr auf viel-mehrere Entscheidungen zurückgeführt, die eine straffe Verwaltung der überseeischen Gebiete ermög-lichten. Gerade aber die teuere Expansionspolitik, die die VOC immer mehr in einen Konflikt zwischen Kauf-mann und Souverän brachte, sollte sich auf lange Sicht als schädlich erweisen. Vielmehr kann man einen Grund für die dennoch lange Einflussdauer der Niederländer vor allem in Indien darin erkennen, dass sich diese eher

hinsichtlich Karthagos noch einmal deutlich machen, den er in der klugen Verbindung von Handelsstaat und Eroberungsmacht sieht und so die gegenseitige Interdependenz von Wirt-schafts- und Politikinteressen bereits markant andeutet. Bei der konsequenten Weiterverfol-gung des Vergleichs, die über Heerens Ausführung hinausgeht, muss man konstatieren, dass er in der Wahl der Vergleichsobjekte nicht ungeschickt war. Wenn England und Frankreich gegenüber den Niederlanden den Fehler begingen, Kriege mit anderen Staaten eben in ihre jeweiligen Kolonialgebiete zu verlagern, und dadurch ihre Besitzungen gefährdeten, so trifft dies auch für Karthago zu, das seine wichtigsten Besitzungen außerhalb Afrikas (Sizilien, Sardinien, Spanien) ebenfalls infolge verlorener Kriege mit der ausländischen Macht Rom abgeben musste. Vor allem für Spanien kann man diesem Vergleich zustimmen, da in diesem Land der zweite punische Krieg mitentschieden wurde. Für Sizilien und Sardinien dagegen gelten andere Umstände, so dass der Vergleich hierbei etwas hinkt.

Ebenfalls von einer Herangehensweise, die sich um tatsächliche Erhellung des geschichtli-chen Dunkels bemüht, zeugen Heerens Ausführungen zur karthagisgeschichtli-chen Verfassung. Im Be-wusstsein der schmalen und sehr vergleichsgeprägten Quellenlage versucht er, einen eigenen Ansatz in der Erweiterung der Untersuchungsbasis herauszuarbeiten, indem er nicht nur die Konstitution im engeren Sinn in den Blick fasst, sondern ebenso die Bürger des Staates und ihre Lebensbedingungen, d.h. die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisses, be-rücksichtigt.231 Aufgrund der bereits als maßvoll geschilderten Außenpolitik schließt Heeren auf eine überwiegend aristokratische Verfassung mit einigen demokratischen Elementen;

nicht zuletzt die hartnäckige Verfolgung der Pläne über einen längeren Zeitraum spricht sei-nes Erachtens für diese Form.232 Dass der Charakter eines Handelsstaates wiederum Auswir-kungen auf seine Verfassung hat, stellt für Heeren eine Selbstverständlichkeit dar: „In einer reichen Handelsstadt waren sehr natürlich die Reichthümer ein Hauptmaaßstab des

der indischen Kultur anpassten und somit nicht so sehr als Fremdkörper empfunden wurden. Einen Vorteil ge-genüber Engländern und Franzosen könnten sie jedoch darin gehabt haben, dass sie keine europäischen Streitig-keiten wie z.B. den Siebenjährigen Krieg im jeweiligen Kolonialbesitz austrugen.

Zur weiteren Auseinandersetzung mit der VOC vgl. v.a. Schmitt, Eberhard (Hg.), Kaufleute als Kolonialherren:

Die Handelswelt der Niederländer vom Kap der Guten Hoffnung bis Nagasaki 1600-1800 (Ausstellung zum Rahmenthema des 37. Deutschen Historikertages in Bamberg: „Europa und die außereuropäische Welt“) Bam-berg 1988 (Schriften der Universitätsbibliothek BamBam-berg 6), S.1-65. Vgl. auch Blussé, Léonard (Hg.), Compa-nies and trade. Essays on overseas trading compaCompa-nies during the Ancient Régime, Leiden 1981 (Comparative studies in overseas history, 3).

231 Vgl. Ideen, S. 117-120. Dabei warnt er ausdrücklich davor, die Karthager als reine Kaufleute zu sehen, son-dern hebt vielmehr die Bedeutung des Ackerbaus gerade für die Großen des Staates hervor, so dass dieser Er-werbszweig von ihm noch bedeutungsvoller als der Handel eingestuft wird.

ses“233. Allerdings leitet Heeren aus der Verbindung „demokratische Elemente“ und „reiche Handelsstadt“ bereits Risiken ab: Vor allem die Gefahr der Bestechlichkeit und der Käuflich-keit bei der Wahl zu den hohen Magistratstellen könne zu einem Schwachpunkt der Verfas-sung werden.234 Ebenso könne das 104-Männer-Kollegium235, das zunächst Rechenschaftsbe-richte von heimkehrenden Feldherren einforderte, eine Belastung für die Republik darstellen, wenn es der Gefahr erliege, ein Organ der „Spionerei und Inquisition“236 zu werden. Diese Gefahr wurde in der letzten Phase der Geschichte Karthagos aktuell und führte zur Einrich-tung einer „Despotie“.237 Inwieweit diese eine Entartung für das ursprüngliche Karthago dar-stellt, wird dem Leser dann besonders deutlich, wenn er sich an die Einleitung der Ideen erin-nert, in der Heeren den Despotismus als charakteristische Staatsform nomadisierender Hirten-völker beschrieb: „In einem durch Eroberung gestifteten Reiche kann die Herrschaft nur durch die Gewalt der Waffen behauptet werden, und wenn daher die Verfassung desselben nicht bloß militärisch ist, so wird sie doch stets davon einen Anstrich behalten. Unausbleib-lich aber wird dadurch der Grund zu einem Despotismus gelegt, der es solchen Reichen un-möglich macht, die Form einer freien Verfassung anzunehmen.“238 Somit macht Heeren für die letzten Jahrzehnte Karthagos die Abkehr von dem ursprünglichen Zustand, die er bereits in der Einleitung angedeutet hatte, deutlich.

Bei der weiteren Erörterung der Verfassung behandelt Heeren auch den Einfluss der Religion, wobei die interessanteste Stelle m. E. darin zu sehen ist, dass der Verfasser aus der von ihm sehr wohl zur Kenntnis genommenen Tatsache der Kinderopfer keine Rückschlüsse auf die Zivilisation oder Moral Karthagos zieht239, wie Heeren überhaupt bei moralischen

232 Vgl. Ideen, S.122 f. Im Gegensatz dazu führt Heeren an, dass Monarchien an schnellen und wechselnden Eroberungen interessiert sind.

233 Ideen, S.124.

234 Vgl. Ideen, S.128. Die Meinung Heerens hinsichtlich der demokratischen Elemente innerhalb der Verfassung dürfte von seiner grundsätzlichen Ablehnung eines allgemeinen Wahlrechts beeinflusst sein: „Wo der Pöbel zu wählen hat, da wird am schlechtesten gewählt.“, zit. n Seier, Heeren, S.64, in Zusammenhang mit der Wahl-rechtsreform in England. Wenn auch diese Aussage nicht für Karthago absolut gesetzt werden darf, so kann doch wohl eine gewisse geistige Nähe zwischen der Einschätzung des aktuellen Tagesgeschehens und der histo-rischen Betrachtung angenommen werden!

235 Vgl. Ideen, S.138 f: „Staats- und Policeytribunal von aristokratischen Republiken“. Heeren zieht einen Ver-gleich mit dem Rat der Zehner und der Staatsinquisition in Venedig.

236 Ideen, S.138 f.

237 Die Auseinandersetzung Heerens mit dem Despotismus, der im 18. Jahrhundert ein bevorzugtes Thema bei der Erörterung politischer Theorien darstellte, wird besonders deutlich bei der Behandlung der Perser in den

„Ideen“. Vgl. dazu Blanke, Verfassungen, S.148-151.

238 Zit. n. Nippel, Wilfried, Über das Studium der Alten Geschichte, München 1993, S.65.

239 Vgl. Ideen, S.144 FN 5.

gen oder Beurteilungen um große Zurückhaltung bemüht ist.240 Die Analyse des Karthago-werkes von Boetticher (Kapitel 1.3) wird zeigen, dass es auch Historiker gab, die dazu eine

gen oder Beurteilungen um große Zurückhaltung bemüht ist.240 Die Analyse des Karthago-werkes von Boetticher (Kapitel 1.3) wird zeigen, dass es auch Historiker gab, die dazu eine

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