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2. Karthago auf dem Weg in die moderne Forschung

1.3 Johann Friedrich Wilhelm Boetticher: Karthagische Geschichte im Spiegel christli- christli-cher Sittenlehre und moralischristli-cher Bewertung

1.3.2 Allgemeine Betrachtungen

Die „Geschichte der Carthager nach den Quellen bearbeitet“ stellt die erste große wissen-schaftliche Arbeit Boettichers dar. Leider finden sich keine Hinweise, was ihn zu diesem Werk veranlasst hatte. Innerhalb seines Oeuvres bleibt es auch das einzige Mal, dass er sich mit dieser Thematik beschäftigt. Während Boetticher z.B. zu Tacitus mehrere Schriften oder auch die Geschichte Gustav Adolphs von Schweden zweimal behandelte, blieb sein Erst-lingswerk ohne Nachfolgearbeiten.

418 Zit. n. DBA F.120, S.333 f.

419 Das Reich Gottes, oder zusammenhängende Darstellung des christlichen Glaubens und Lebens. Zum Gebrauch für die oberen Klassen höherer Unterrichts-Anstalten. Berlin 1830.

420 Zu diesem Begriff vgl. v.a. Gerhardt, Martin, Ein Jahrhundert Innere Mission. Die Geschichte des Central-Ausschusses für die Innere Mission der Deutschen Evangelischen Kirche, 1. Teil. Die Wichernzeit, Gütersloh 1948, S.42-47.

421 Die fast ausschließliche Hinwendung zur religiösen Beschäftigung wird in seinem Werk ersichtlich, das ab 1840 beinahe nur noch aus christlichen Schriften besteht.

Die Zielsetzung Boettichers unterscheidet sich zunächst von den beiden vorher behandelten Historikern dadurch, dass er in seinem Ansatz bedeutend weiter ausgreifen will. So gibt er die bislang erfolgte Konzentration auf Kriege, Staatsverfassung oder Handel bei der Betrachtung karthagischer Geschichte auf und möchte statt dessen alle Lebensumstände des karthagischen Volkes berücksichtigen. Karthago verdient seiner Meinung nach eine ausführliche Würdi-gung, da es ein wichtiges Glied innerhalb der alten Geschichte darstellt, ohne dessen Kenntnis auch die Geschichte anderer Staaten der Antike unvollkommen bleibe.422 Boetticher geht so-gar so weit, Karthago für den Westen Afrikas eine ähnliche Bedeutung wie derjenigen Ägyp-tens für den Osten beizumessen.423 Für ihn ist dieser Staat eine Betrachtung wert, da es die

„erste durch Eroberungen mächtige und sogar den Griechen und Römern furchtbare Handels-republik“424 darstellte, deren Bewohner „mit der Willenskraft, der Beharrlichkeit und dem Ernste der Spartaner, die Reizbarkeit, die Beweglichkeit und den kühnen Unternehmungsgeist der Athenienser in ihrem Character vereinigte[n]“425.

Im Folgenden stellt Boetticher die Geschichte der Republik Karthago auf 487 Seiten dar. Da-von enthalten 95 Seiten eine Zustandbeschreibung der punischen Zeit, die folgende Punkte umfasst: Gebiet in Afrika, Provinzen und Kolonien, Verfassung und Einkünfte, Kriegsmacht, Handel, Religion, Sitten und Kulturzustand. Den großen Rest von fast 400 Seiten machen Schilderungen der kriegerischen Auseinandersetzungen aus, die in zwei Abschnitte, nämlich Kriege mit Syrakus (84 Seiten) und punische Kriege (285 Seiten)426 unterteilt sind. Im An-schluss daran erfolgen noch ein kurzer Ausblick auf das römische Karthago427 und einige Nachträge.

Bereits im Vorwort deutet Boetticher an, dass er bei seiner Darstellung durchaus schon auf Forschungsleistungen zurückgreifen konnte. Vor allem Heerens „Ideen“ und Friedrich Mün-ters „Religion der Karthager“428 hebt er besonders hervor, wobei er aber gleichzeitig betont, eigene Gedanken dazu entwickelt zu haben.429

422 Diese Ansicht ähnelt Niebuhrs Ansatz, der karthagische Geschichte immer dann in Exkursen einbaut, wenn die Karthager mit Griechen oder Römern in Berührung kommen.

423 Vgl. Geschichte der Carthager (GDC), Berlin 1827, V.

424 Ebenda. Diese Ansicht wird jedoch auch von Heeren geteilt.

425 Ebenda. Im Gegensatz zu Heeren arbeitet Boetticher mehr mit Kategorien eines Volkscharakters.

426 Daran wird m.E. deutlich sichtbar, dass auch Boetticher sich nicht von der großen Bedeutung der Kriegsge-schichte lösen kann.

427 Diese Perspektive wird hier erstmalig gewählt. Damit deutet Boetticher eine gewissen Kontinuität zwischen den verschiedenen Epochen der Stadt an.

428 Kopenhagen 21821.

429 Bei den Kapiteln „Gebiet in Africa, Provinzen und Colonien, Handel“ verweist er jeweils in der Überschrift mit einer Fußnote auf Heerens Darlegungen.

Hinsichtlich der Aufteilung der karthagischen Geschichte geht Boetticher den schon beinahe

„klassischen“ Weg, nach dem die Kriege mit Syrakus bzw. Rom wesentliche Zäsuren set-zen.430

Auch in der Beurteilung der weiteren Grundlinien der karthagischen Politik gibt Boetticher weitgehend den Meinungen Heerens recht, so dass z.B. die Besitznahme der Inseln des west-lichen Mittelmeeres bei ihm ebenfalls das Hauptziel karthagischer Politik ausmacht431 und die unzusammenhängende Herrschaft über die afrikanischen Gebiete als eine ständige Belastung gesehen wird.432 Ebenso stimmen Heeren und Boetticher in der Gesamtbewertung karthagi-scher Politik überein, indem sie die maßvolle Ausdehnung des Staates bis zu Beginn des ers-ten punischen Krieges loben.433 Allerdings schwächt Boetticher diese Aussage ab, wenn er an anderer Stelle davon spricht, dass Karthago bereits im Verlauf der Kriege mit Syrakus seine Bestimmung als Handelsmacht aus den Augen verlor. Damit kann er hier ein „lehrreiches Beispiel“434 für das Aufgeben einer gleichsam gottgewollten Politik geben: „Aber auch da-durch wird die Geschichte dieses Zeitraums anziehend und lehrreich, daß sie auf die große und durch die Erfahrung aller Jahrhunderte bestätigte Wahrheit aufmerksam macht, daß ein Staat sobald sein Streben über die Grenzen hinausgeht, welche ihm die Vorsehung gesteckt hat, er damit die Grundpfeiler seiner Macht und seines ganzen Daseins untergräbt“.435 So gesehen lässt Boetticher den Untergang Karthagos unter Berufung auf transzentale Kriterien früher als Heeren einsetzen, der die ursprüngliche Verfasstheit Karthagos bis zu den puni-schen Kriegen fortdauern lässt.

Im Gegensatz zu Heeren und vor allem zu Niebuhr verzichtet Boetticher jedoch auf einen häufigen Gebrauch von Vergleichen und Analogien mit seiner Gegenwart, so dass bei ihm kein individueller politischer Standpunkt eruiert werden kann. Nur einmal bringt er einen Vergleich zwischen Karthago und dem Frankreich seiner Zeit an, bei dem er herausstellt, dass Staaten trotz innerer sittlicher Verdorbenheit auf dem Felde von Kunst, Wissenschaft,

430 Vgl. GDC, S.6 f.

431 Vgl. GDC, S.21.

432 Vgl. GDC, S.25 f. Allerdings gebraucht auch Boetticher den Vergleich zwischen der römischen Kolonisation Italiens und derjenigen Karthagos in Libyen. Vgl. dazu GDC, S.28.

433 Vgl. GDC, S.40.

434 Die Verwendung lehrreicher Beispiele findet bei Boetticher öfters statt. Meist bestehen diese allerdings in bloßem Rachedenken nach dem Prinzip „Auge um Auge, ...“. Vgl. z.B. 164 f, wo ein großes Feuer mit vielen Toten im karthagischen Lager als „gerechte Strafe für ihre Grausamkeit gegen die Gefangenen“ bezeichnet wird.

Die Bezeichnung „lehrreiches Beispiel“ deutet m.E. auf den Schulmann in Boetticher hin, der versucht, mora-lisch auf seine Schüler einzuwirken.

435 GDC, S.96.

triebsamkeit und äußerer Kultur durchaus zu Ruhm gelangt sein mögen.436 Insofern könnte man hier eine Antipathie gegen Frankreich vermuten, für die sich aber keine weiteren Belege anführen lassen.

Die sehr ausführlichen Darstellungen der militärischen Auseinandersetzungen stellen eigent-lich nur eine Nacherzählung der dazu jeweils einschlägigen Quellen dar, setzen aber keine eigenen Akzente, so dass sie auch nicht näher analysiert werden sollen. In seinen einleitenden Vorbemerkungen führt Boetticher die wichtigsten einschlägigen antiken Autoren auf, die sei-ne Basis dafür bilden.437 Für den Bereich der griechisch-karthagischen Auseinandersetzungen zieht er vor allem die „Historische Bibliothek“ Diodors von Agyrion heran, dem er insgesamt eine hohe Glaubwürdigkeit zubilligt. Für den römischen Bereich stellt er die „Historien“ des Polybios an die erste Stelle, dem Werk des Livius („Ab urbe condita libri“) rechnet er eben-falls einen hohen Wahrheitswert zu, „besonders in der Beschreibung von Kriegsvorfällen“438. Appians „Lybike“ stellt seine Basis für den dritten punischen Krieg dar; daneben finden sich zahlreiche Stellen, die Boetticher aus der „Weltchronik“ des mittelalterlichen byzantinischen Epitomators Zonaras übernommen hat.439

Letztlich lassen die Darstellungen der kriegerischen Ereignisse zwar den Fleiß ersichtlich werden, sehr viel an Material zusammengetragen zu haben, ein eigener Blickwinkel der Be-trachtung wird darin allerdings nicht ersichtlich.

1.3.3 Individueller Schwerpunkt: Die Religion als Erklärungsansatz440

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