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3. Frühe Kommunikations- und Sprachentwicklung bei Kindern mit Autismus-Spektrum-Störung Kindern mit Autismus-Spektrum-Störung

3.4 Besonderheiten der weiteren sprachlichen Entwicklung bei Kindern mit ASS mit ASS

In diesem Abschnitt soll die Frage betrachtet werden, wie sich die lautsprachlichen Kompetenzen bei Kindern mit ASS entwickeln, die die Vorausläuferfähigkeiten für den Spracherwerb erworben haben und in den Spracherwerb „einsteigen“.

Rezeptiver Wortschatz

Wie bereits ausgeführt, verläuft die frühe rezeptive Entwicklung bei vielen Kindern mit ASS zunächst stark verzögert. Erste Anzeichen eines beginnenden Sprachverständ-nisses werden von Eltern autistischer Kinder wesentlich später beobachtet als auf-grund ihrer nonverbalen kognitiven Fähigkeiten zu erwarten wäre, und ihr passiver Wortschatz baut sich wesentlich langsamer auf (Charman et al., 2003; s. auch Abschnitt 3.2.3). In einer prospektiven Längsschnittuntersuchung von Mitchell, Brian, Zwaigenbaum, Roberts, Szatmari, Smith et al. (2006) wurden die Eltern von Risiko-kindern für eine ASS im Alter von 18 Monaten mit dem o. g. CDI befragt. Während die später nicht als autistisch identifizierten Kinder mit 18 Monaten im Durchschnitt bereits 187 Wörter verstanden hatten, gaben die Eltern der Kinder mit ASS zu diesem Zeit-punkt lediglich einen halb so großen passiven Wortschatz an. Die Kinder verstanden

auch nur 12 Phrasen im Vergleich zu 22 Phrasen, die die Kontrollgruppenkinder bereits verstehen konnten.

Produktiver Wortschatz

Aber nicht nur die rezeptive, sondern auch die produktive Sprachentwicklung setzt bei Kindern mit ASS verspätet ein. In der Studie von Mitchell et al. betrug der produktive Wortschatz der Kinder ohne ASS mit 18 Monaten bereits 62 Wörter (range: 0 - 356), während die Kinder mit ASS zu diesem Zeitpunkt erst durchschnittlich 21 Wörter sprachen (range: 0 – 130).

Im weiteren Entwicklungsverlauf scheint der produktive Wortschatz bei Kindern mit ASS langsamer anzuwachsen, so dass die Unterschiede zu typisch entwickelten Kin-dern mit der Zeit größer werden (Anderson et al., 2007). Allerdings gibt es erhebliche interindividuelle Unterschiede in der Geschwindigkeit des Wortschatzaufbaus innerhalb der Gruppe der Kinder mit ASS (z. B. Anderson et al., 2007). Smith, Mirenda und Zaidman-Zait (2007) betrachteten die Wortschatzentwicklung bei 35 entwicklungs-verzögerten Kinder mit ASS über 2 Jahre, indem sie die Eltern in diesem Zeitraum vier-mal mit dem CDI befragten. Die Kinder wiesen alle zum ersten Befragungszeitpunkt einen produktiven Wortschatz von unter 60 auf; zu diesem Zeitpunkt waren die Kinder zwischen 20 und 71 Monaten alt. Bei der Entwicklung der Wortschätze konnten die Autorinnen vier Subgruppen identifizieren:

 Die Kinder der Gruppe 1 (N = 15) zeigten nur einen geringen Zuwachs von durchschnittlich 9,74 Wörtern.

 Die Kinder der Gruppe 2 (N = 8) zeigten im ersten Jahr einen langsamen Wort-schatzaufbau und danach einen beschleunigten Erwerb. Sie erweiterten ihren Wortschatz um durchschnittlich 200,25 Wörter.

 Die Kinder der Gruppe 3 (N = 7) erweiterten ihren Wortschatz von Anfang an kontinuierlich. Sie verbesserten sich im Durchschnitt um 453,43 Wörter.

 Eine ähnliche Entwicklung konnte in der Gruppe 4 (N = 5) beobachtet werden.

Die Kinder dieser Gruppe erweiterten ihren Wortschatz noch schneller als die Kinder der Gruppe 3, und zwar um durchschnittlich 638 Wörter.

Leider berichten die Autorinnen nicht, ob das Erreichen des 50-Wörter-Kriteriums bei den Kindern – unabhängig von ihrer Zuordnung zu einer Subgruppe – zu einer erkenn-baren Beschleunigung des Worterwerbs (Wortschatzspurt) führte, wie dies aus der Entwicklung sich typisch entwickelnder Kinder bekannt ist (vgl. Abschnitt 2.2). Die in der Publikation berichteten Entwicklungsverläufe der einzelnen Kinder deuten jedoch auf einen solchen Zusammenhang zwischen Wortschatzgröße und Erwerbsgeschwin-digkeit auch bei Kindern mit ASS hin. Andere Studien, die sich dieser Frage direkt widmen, liegen leider nicht vor.

Die Erweiterung des Wortschatzes geht in der typischen Entwicklung mit Verände-rungen in der Zusammensetzung des Wortschatzes einher. Dies scheint auch bei Kin-dern mit ASS in ähnlicher Weise zu geschehen. In den Untersuchungen von Charman

et al. (2003) und Weismer et al. (2010) variierte der Anteil unterschiedlicher Wortkate-gorien und Wortarten am Gesamtwortschatz in ähnlicher Weise in Abhängigkeit von der Gesamtgröße des Wortschatzes wie bei typisch entwickelten Kindern.

Syntax und Morphologie

Wenn die Kinder einen ersten Grundwortschatz aufgebaut haben, verläuft die weitere Sprachentwicklung in den meisten Fällen zwar deutlich verzögert, aber häufig in ähn-lichen Mustern wie bei typisch entwickelten Kindern. Ein Teil der Kinder ist nun in der Lage, die morpho-syntaktischen Regeln der Umgebungssprache ohne größere Schwierigkeiten abzuleiten. Anderen Kindern mit ASS bereitet die Ableitung gramma-tischer Regeln dagegen größere Schwierigkeiten, und sie machen beim Aufbau gram-matischer Strukturen ähnliche Fehler wie Kinder mit einer Spezifischen Sprachentwick-lungsstörung. Bei diesen Kindern können somit vom regulären Entwicklungsverlauf ab-weichende Dissoziationen zwischen (besseren) semantischen und (schwächeren) formal-grammatischen Fähigkeiten beobachtet werden (für einen Überblick s. Rice, Warren & Betz, 2005).

Kjelgaard und Tager-Flusberg (2001) untersuchten eine Gruppe von 89 sprechenden Kindern mit ASS im Alter von 4 bis 14 Jahren und analysierten die unterschiedlichen Sprachprofile innerhalb dieser Gruppe. Sie kommen zu dem Schluss, dass die formal-linguistischen Kompetenzen bei Kindern mit Sprachentwicklungsrückständen i. d. R.

stärker beeinträchtigt sind als ihre semantischen Fähigkeiten – ähnlich wie bei Kindern mit einer Spezifischen Sprachentwicklungsstörung. Bei den untersuchten Kindern mit ASS und unbeeinträchtigter Sprachentwicklung dagegen waren die Wortschatzfähig-keiten in etwa vergleichbar mit ihrem sonstigen semantischen und syntaktischen Wissen.

Pragmatik

Unabhängig vom sprachlichen und/oder kognitiven Entwicklungsstand bereitet allen Menschen mit ASS der sozial angemessene Gebrauch von Sprache große Schwierig-keiten, d. h. die pragmatische Sprachkomponente ist bei ASS grundsätzlich beeinträch-tigt. So ist bereits bei jungen Kindern zu beobachten, dass die Bandbreite der verwen-deten Sprechakte im Vergleich zu unauffälligen Gleichaltrigen begrenzt ist. Die sprach-lichen Möglichkeiten werden vor allem genutzt, um Forderungen und Protest auszu-drücken; Fragen an den Gesprächspartner oder Kommentare werden seltener ver-wendet (Überblick bei Kastner-Koller & Deimann, 2000).

Ferner treten bei manchen Kindern - mehr oder weniger ausgeprägt – autismus-spezifische sprachliche Besonderheiten auf: Hierzu zählt u. a. die Echolalie, bei der die Kinder gehörte sprachliche Äußerungen unmittelbar oder zeitlich verzögert wörtlich wiederholen. Während Echolalie früher als dysfunktionales, stereotypes Verhalten ge-wertet wurde, wird diese Besonderheit inzwischen als Versuch der Kinder angesehen zu kommunizieren – wenn auch noch mit unzureichenden Mitteln. In der Regel lässt die Echolalie mit wachsender Sprachkompetenz nach (Paul, 2007).

Andere Kinder haben besondere Schwierigkeiten, Personalpronomina korrekt anzu-wenden und produzieren ich-du-Verwechslungen (sog. Pronominalumkehr) oder be-zeichnen sich noch lange mit ihrem Vornamen. Offenbar fällt es den Kindern schwer, den erforderlichen Perspektivenwechsel vorzunehmen, der es erlaubt, die verschie-denen Gesprächsrollen durch den Gebrauch von Pronomen zu differenzieren. Einen ähnlichen Hintergrund dürfte auch die Verwechslung von Aussagen und Fragen haben, die bei manchen Kindern mit einer ASS beobachtet werden kann.

Aber auch dann, wenn Kinder, Jugendliche oder Erwachsene mit ASS über fortge-schrittene oder sogar sehr elaborierte sprachliche Fähigkeiten verfügen, bleibt ihr Ge-sprächsverhalten auffällig (Überblick bei Bölte, 2009a; Kastner-Koller & Deimann, 2000). Es fällt ihnen schwer, eine Konversation zu initiieren und aufrecht zu erhalten.

Sie haben Schwierigkeiten, Gesprächsbeiträge des Gegenübers abzuwarten und sich darauf zu beziehen, und sie unterhalten sich bevorzugt über begrenzte Themen aus dem eigenen Interessensspektrum. Auch die Erzählfähigkeiten sowie die Fähigkeit, im Gespräch die Perspektive des Zuhörers zu berücksichtigen (z. B. welche Informationen liegen dem Zuhörer bereits vor, welche müssen noch beigetragen werden), sind bei Menschen mit ASS beeinträchtigt (vgl. auch Rice et al., 2005). Darüber hinaus fassen Menschen mit ASS Sprache in der Regel sehr wörtlich auf, so dass es ihnen schwer fällt, übertragene Bedeutungen, metaphorische Begriffe, Redewendungen, Ironie o. ä.

zu verstehen

Prosodie und Phonologie

Eine weitere störungsspezifische Besonderheit, die ebenfalls unabhängig vom Funk-tionsniveau der Betroffenen mit ASS zutrifft, besteht in einer auffälligen Sprach-prosodie. Menschen mit ASS fallen beim Sprechen häufig durch Besonderheiten in der Intonation, Lautstärke und/oder Geschwindigkeit ihrer Äußerungen auf; oft sind ihre Äußerungen weniger lebendig moduliert und wirken monoton (für einen Überblick s.

Kastner-Koller & Deimann, 2000; McCann & Peppé, 2003).

Die Artikulationsfähigkeiten bei Menschen mit ASS werden dagegen oft als relativ un-beeinträchtigt beschrieben (Rice et al., 2005; Kjelgaard & Tager-Flusberg, 2001). Aller-dings konnten in einer Reihe von Studien besondere Defizite in der Ausführung artiku-lationsmotorischer Bewegungen bei Kindern mit ASS nachgewiesen werden (für einen Überblick s. Rogers, Hayden, Hepburn, Charlifue-Smith, Hall & Hayes, 2006). Es liegt daher die Vermutung nahe, dass die Entwicklung lautsprachlicher Fähigkeiten zu-mindest bei einigen Kindern mit ASS noch zusätzlich durch Dyspraxie-ähnliche Schwächen in der zentralen Planung artikulationsmotorischer Fähigkeiten erschwert ist (vgl. hierzu Adams, 1998). In einer Untersuchung von Shriberg, Paul, McSweeny, Klein, Cohen und Volkmar (2001) bei Jugendlichen und Erwachsenen mit HFA im Alter von 10 bis 50 Jahren traten bei immerhin einem Drittel der Versuchspersonen im Ver-gleich zu Kontrollpersonen ohne ASS vermehrt subtile Artikulationsfehler auf (sog.

„residual articulation distortion errors“). Gesonderte Untersuchungen zur Entwicklung der Lautbildung bei Kindern mit LFA liegen nicht vor; klinische Beobachtungen zeigen jedoch, dass Artikulationsprobleme auch in dieser Gruppe nicht selten sind. Die

Be-fundlage ist somit uneindeutig. Offenbar variieren die Artikulationsfähigkeiten erheblich zwischen Menschen mit ASS; anders als die prosodischen Fähigkeiten scheinen die phonologischen Fähigkeiten jedoch nicht grundsätzlich bei ASS beeinträchtigt zu sein.

3.5 Zur Bedeutung der Sprachentwicklung für die Prognose von