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Berchtold von Kremsmünster und die älteste Abschrift einer norischen Inschrift norischen Inschrift

Im Dokument Der sogenannte und weitere (Seite 27-37)

Die erste Abschrift des Textes einer Inschrift aus Noricum taucht um 1300 in den so-genannten Geschichtsquellen von Kremsmünster auf.47 Es handelt sich dabei um einen Grabstein aus Lauriacum (CIL III 5671+11814). Mommsen formuliert an der ent-sprechenden Stelle im Corpus Inscriptionum Latinarum besonders zurückhaltend:

„Lauriaci, vel si magis placet Ennsii, repertum esse titulum videt u r i n di c a re Bernardus Noricus [...]“. Diese vorsichtige Ausdrucksweise ist insofern zu verstehen, als zum Erscheinungszeitpunkt des genannten Corpus-Bandes (1873) noch vieles im Zu-sammenhang mit der Person des sogenannten Bernardus Noricus und seinem Werk im Dunkeln lag.

Die Frage nach dem Verfasser der Kremsmünsterer Geschichtsquellen und damit nach jenem Mann, dem wir die früheste Wiedergabe einer norischen Inschrift ver-danken, hat jahrhundertelang (!) die historische Forschung beschäftigt.48 Auslöser dieses schier endlosen Streites war der bereits erwähnte bayerische Geschichtsschrei-ber Aventin, der in seinen Werken mehrmals einen „Benedictiner Bernhardt von Krembsmynster“ bzw. einen „Beronardus / Veronardus Noricus“ unter seinen Quellen zur bayerischen Geschichte anführt.49 Seither stützte sich die Forschung auf Aventins Autorität. Seit 172750 wogte die wissenschaftliche Diskussion hin und her, ob Sigmar

46 Zitiert nach Pez, SRA I 23.

47 Grundlage für die Überlieferung der Kremsmünsterer Geschichtsquellen sind zwei anonyme Handschriften, die zwischen 1290 und 1330 verfasst wurden. Sie werden heute als CC Cim. 3 (alt:

Cod. 401) in der Stiftsbibliothek Kremsmünster in Oberösterreich bzw. als CVP 610 (alt: Hist. prof.

990) in der ÖNB aufbewahrt. Ferner gehören zu den Geschichtsquellen vom Inhalt her die Zusätze in einem weiteren, ebenfalls in Wien aufbewahrten Manuskript, dem sog. Auctarium Cremifanense (CVP 375, alt: Hist. prof. 82); diese sind jedoch für den vorliegenden Zusammenhang nicht von Bedeutung.

48 Ein detaillierter Forschungsbericht würde an dieser Stelle zu weit führen. Daher wird im Folgen-den nur auf die wichtigsten Erkenntnisse eingegangen und ergänzend verwiesen auf Georg Leidinger, Bernardus Noricus. Untersuchungen zu den Geschichtsquellen von Kremsmünster und Tegernsee (Sitz.ber. d. BAdW, phil-hist. Kl., München 1917, 4. Abh.) 3–16 und, auf Leidinger auf-bauend, Willibrord Neumüller, Bernardus Noricus von Kremsmünster, in: 90. Jahresbericht des Ober-gymnasiums der Benediktiner zu Kremsmünster. Schuljahr 1947, Kremsmünster 1947, 9–15. Vgl.

ferner Lhotsky, Quellenkunde 284.

49 Aventin, S. W. I 340, I 640, II 1, II 13, IV 2 und VI 126. Vgl. dazu Neumüller, Bernardus Noricus 9–10, und Leidinger, Bernardus Noricus 38–49. Auch in einem anonymen handschriftlichen Quellenver-zeichnis aus dem 16. Jh. zu den Schriften Aventins ist unter dem Titel „Bavarica“ folgende Eintra-gung zu finden: „Bernhardus monachus in Chrembsminster scripsit de rebus Boiorum“ (Cod. hist. 2° 404 der WLB, fol. 6v): siehe Romuald Bauerreiss, Ein Quellenverzeichnis der Schriften Aventins, in:

StMBO N. F. 19=50 (1932) 54–77, bes. 63 (Nr. 101).

50 Markus Hansiz, Germania sacra I (Wien 1727).

oder Bernhard von Kremsmünster der Autor der fraglichen Handschriften sei, bzw.

wer welchen Codex verfasst habe. Im Jahre 1872 gelangte Johann Loserth zu dem wichtigen Urteil, dass sämtliche Manuskripte von einer Hand stammen und schrieb die relevanten Codices abermals Sigmar zu.51 Dennoch nennt Mommsen im text-kritischen Apparat der Lorcher Inschrift (CIL III 5671) fünf Jahre später einen

„Bernardus Noricus“ als ersten Gewährsmann.

Auf den Beweis, dass Sigmar als Verfasser nicht in Frage kommt – er war zur frag-lichen Zeit bereits Abt von Lambach52 – folgte durch Leidinger53 die Erkenntnis, dass Aventin die Kremsmünsterer Geschichtsquellen nur indirekt (mittels Abschriften aus dem Regensburger Kloster St. Emmeram und des Geschichtsschreibers Veit Arn-peck) benutzt hat. Ferner schöpfte er an jenen Stellen, wo er scheinbar die Ge-schichtsquellen wörtlich zitiert, in Wahrheit aus dem sogenannten Norikerkapitel der jüngeren Passio Sancti Quirini bzw. der Fundatio monasterii Tegernseensis54. Dabei übernahm Aventin offenbar einen Irrtum aus seiner Quelle: Im heutigen CVP 423, fol. 7r, hatte eine Hand aus dem späten 15. Jahrhundert fälschlicherweise neben den Titel des Norikerkapitels („De origine Bavarorum“) – gleichsam als Autorenangabe –

„Bernardus monachus in Chrembsmonster sub Friderico a(bbate)“ hinzugefügt.55 Den

51 Johann Loserth, Die Geschichtsquellen von Kremsmünster im XIII. und XIV. Jahrhundert, Wien 1872. In seiner Abhandlung Sigmar und Bernhard von Kremsmünster, Wien 1894, verteidigte er neuerlich Sigmar als Verfasser der Handschriften.

52 Altmann Altinger, Bernhard oder Sigmar?, in: MIÖG 19 (1898) 233–243.

53 Leidinger, Bernardus Noricus 16–21.

54 Siehe weiter oben in diesem Kapitel.

55 Leidinger, Bernardus Noricus 26, liest „[...] sub Friderico x“, und stellt auf dieser Basis fest, es gehe aus dem Text nicht hervor, ob Kaiser Friedrich I oder II gemeint sei (35, Anm. 1). Neumüller, Bernardus Noricus 10, schreibt nur „sub Friderico“ und weist in Anm. 2 darauf hin, dass „sub Fride-rico nicht heißen muß sub Friderico imperatore, sondern ebensogut sub Friderico abbate heißen kann“. Franz Lackner (ÖAW), dem hier nochmals herzlich für seine Bemühungen gedankt sei, be-stärkte mich in meiner Ansicht, dass der letzte Buchstabe in der Bemerkung eindeutig als „a“ zu lesen ist. Demnach kann hier nur Abt Friedrich von Aich (reg. 1275–1325) gemeint sein.

Zur Frage der Herkunft und Geschichte des CVP 423 und damit verbunden zur Frage, ob Aventin diesen oder einen anderen Codex benützt hat, gibt es zwei Theorien:

Leidinger, Bernardus Noricus 22–34, vertritt mit plausiblen Argumenten die Ansicht, dass es sich bei der heute in Wien befindlichen Handschrift CVP 423 um einen vermeintlich verschollenen Regensburger Codex handelt. Genau diesen habe Aventin (gest. 1534) ebenso noch in der Dombibliothek der bayerischen Stadt benutzt wie wenige Jahre später Matthias Flacius Illyricus (nach 1562).

Ebenso plausibel ist allerdings der Ansatz von Hermann Menhardt, wonach die betreffende Handschrift von Wolfgang Lazius 1549 aus dem Stift Gurk nach Wien gebracht worden und aus seinem Nachlass in die damalige Hofbibliothek gelangt ist: CVP 423, fol. 1, enthält einen Auszug aus einer Gurker Chronik und weist eindeutig die Hand des Wiener Humanisten und Hand-schriftensammlers auf. Es ist bekannt, dass Lazius auf einer seiner Bibliotheksreisen im Jahre 1549 auch in das Kärntner Stift gekommen ist und von dort gegen Revers Handschriften mitgenommen hat. Abgesehen davon, dass keiner der betreffenden Codices jemals zurückgegeben wurde, be-findet sich CVP 423 nicht (!) unter jenen im Empfangsschein genannten Handschriften – siehe Hermann Menhardt, Die Kärntner Bibliotheksreise des Wolfgang Lazius 1549, in: Archiv für vater-ländische Topographie 24/25 (1936) 103 und ders., Handschriftenverzeichnis der Kärntner Bibliotheken, Bd. I: Klagenfurt, Maria Saal, Friesach, Wien 1927, 13. Zu Menhardts Ausführungen passen die Be-obachtungen von Johann Weissensteiner, Tegernsee 233–235, wonach der CVP 423 durchaus in Gurk/Kärnten entstanden sein könnte.

kunftsbezeichnenden Beinamen Noricus scheint Aventin selbst seiner vermeintlichen Quelle gegeben zu haben.56 Demnach ist es nur allzu verständlich, dass man in den Aufzeichnungen des Stiftes Kremsmünster keinen „Bernardus Noricus“ finden konnte.

Im Jahre 1947 rollte der Kremsmünsterer Bibliothekar P. Willibrord Neumüller die Frage der Verfasserschaft in den Geschichtsquellen seines Klosters neu auf, indem er den gesamten Kremsmünsterer Handschriftenbestand bis 1330 für diese Unter-suchung heranzog. In seiner überaus profunden, vor allem paläographisch ange-legten Studie beschäftigte er sich mit jener Hand, von der ein Großteil der Krems-münsterer Geschichtsquellen stammt und die aufgrund ihrer schönen Schrift sowie der Häufigkeit ihres Vorkommens aus der Kremsmünsterer Schreibschule um die Wende vom 13. zum 14. Jahrhundert hervorsticht. Neumüller gab dem Schreiber zu-nächst das Pseudonym „Bernardus Noricus“, stellte in einem ersten Schritt die Eigen-arten seiner Hand fest und untersuchte alle anderen Codices Cremifanenses auf deren Vorkommen hin. Er konnte schließlich in 68 Kremsmünsterer Handschriften die Hand unseres Schreibers feststellen, entweder als mehr oder minder maßgebende Texthand oder in Form von (Rand-)Bemerkungen, (Inhalts-)Verzeichnissen, Besitz- und Schenkungsvermerken für das Stift.57 Neumüller zog diese Eintragungen auf der Suche nach dem wahren Namen des „Bernardus Noricus“ heran. Ein erst 1947 im Kloster gefundenes Schreiberverzeichnis lieferte weitere Anhaltspunkte, die es dem

Nach meiner Ansicht können grundsätzlich beide Entstehungstheorien argumentiert werden, da Lazius den Codex sowohl aus Gurk (1549) als auch aus Regensburg (1546/47) – zum ersten Mal – nach Wien gebracht haben könnte, was seine Spuren der Codex-Benutzung (fol. 1r) um 1551 er-klärt. Da Lazius später einige Bücher über Caspar Niedbruck an Matthias Flacius Illyricus entlehnt hat, wie wir aus Briefen der Jahre 1552/1553 wissen, ist die Handschrift möglicherweise auf die-sem Weg (neuerlich?) nach Regensburg gelangt. Vgl. Viktor Bibl, Der Briefwechsel zwischen Flacius und Niedbruck, in: Jahrbuch der Gesellschaft für die Geschichte des Protestantismus in Österreich 17 (1896) 1–24; 18 (1897) 201–238; 19 (1898) 96–110; 20 (1899) 83–116.

Von Flacius Illyricus stammt im Übrigen die älteste gedruckte Ausgabe des Norikerkapitels: Cata-logus testium veritatis, qui ante nostram aetatem Pontifici eiusque erroribus reclamaverunt (Argentinae/

h. Strasbourg 1562), 128–129.

56 Im 1980 erschienenen Lexikon des Mittelalters heißt es in einem Artikel von K[arl] Schnith inter-essanterweise noch immer „Aventin nennt einen Bernardus Noricus als Verfasser“, obwohl das 1947 publizierte Buch von Leidinger im Literaturteil genannt wird (Lexikon des Mittelalters I, s. v.

Bernhard von Kremsmünster). Auch in einem erst vor wenigen Jahren erschienenen Aus-stellungskatalog ist fälschlich von einer „Bernhard von Kremsmünster zugeschriebenen Dar-stellung über die Herkunft der Baiern und über die Genealogie der österreichischen Herzöge bis 1177 (fol. 7r–8v)“ die Rede: Hemma von Gurk. Katalog der Ausstellung auf Schloss Straßburg/Kärnten.

14. Mai bis 26. Oktober 1988, Klagenfurt 1988, 399 (Nr. 6.9): Beschreibung des CVP 423 von E[va]

I[rblich] und Ch[ristine] T[ropper].

57 Vgl. Neumüller, Bernardus Noricus 55–87, sowie Hauke Fill, Katalog der Handschriften des Benediktinerstiftes Kremsmünster. Teil 1: Von den Anfängen bis in die Zeit des Abtes Friedrich von Aich; ca. 800–1325 (Denkschriften der ÖAW, phil.-hist. Kl., CLVI; Veröffentlichungen der Kommission für Schrift- und Buchwesen des Mittelalters, 2. Reihe, III 1), Wien 1984, Register-band 145–146.

Benediktiner schließlich ermöglichten, das Pseudonym „Bernardus Noricus“ in Berchtold von Kremsmünster aufzulösen.58

Aus den verschiedenen Bemerkungen und Textstellen in jenen Manuskripten, an denen Berchtold in irgendeiner Form Hand angelegt hat, lassen sich auch eine ganze Reihe von Informationen über seine Person und seinen Aufgabenbereich im Rahmen des monastischen Lebens herauslesen.

Berchtolds Herkunft und der genaue Zeitpunkt seines Eintrittes in das Kloster sind zwar nicht bekannt, wohl aber der Tag seiner Weihe zum Diakon im Dom zu Passau (23. Mai 1290) und das Jahr seiner Priesterweihe (1300).59 Bis November 1326 bleibt er im Stift Kremsmünster nachweisbar – er dürfte vermutlich nicht viel später verstor-ben sein.60 In der Blütezeit des Klosters unter Abt Friedrich von Aich scheint Berchtold eine zentrale Rolle gespielt zu haben. Er unternahm einige Reisen, etwa in das konföderierte Kloster Oberaltaich in Bayern (1314?)61 und im Mai 1319 nach Avignon zu Papst Johannes XXII., wo er sein Kloster vertreten sollte; diese Mission spricht zweifellos für seine Fähigkeiten.

In seinem Heimatkloster Kremsmünster lebte er getreu dem Ordensgrundsatz „Ora, labora et studia“. Schon 1300 verfasste er für das Fest des Stiftspatrons Agapitus inner-halb von 14 Tagen ein (nicht erhaltenes) Offizium samt der zugehörigen Choral-melodie.62 Dies sollte nicht das einzige Werk aus seiner Feder bleiben. Eine geordnete Niederschrift eines Urbars und eines Kopialbuches, ein Verzeichnis der Heiligen und der Wohltäter des Stiftes63, sowie ein Anniversarienverzeichnis für Kremsmünsterer Mönche64 lassen den Schluss zu, dass Berchtold auch das Amt des Kustos bekleidet hat. Vermutlich diente er auch einige Jahre als Scholasticus. Besonders eifrig war Berchtold im klösterlichen Skriptorium tätig. Wie oben erwähnt, ist in einem Großteil der erhaltenen Kremsmünsterer Manuskripte aus dem späten 13. und frühen 14. Jahrhundert seine schöne, sorgfältige Hand nachzuweisen. Er fungierte aber nicht nur als Schreiber, sondern trat auch als Korrektor, Rubrikator und Miniator in Er-scheinung. Er war in späteren Jahren maßgeblich an der Entstehung einiger Hand-schriften beteiligt, und zwar mit einiger Sicherheit als Leiter des Skriptoriums.

58 Einzig Ignaz Zibermayr, Das Oberösterreichische Landesarchiv in Linz im Bilde der Entwicklung des heimatlichen Schriftwesens und der Landesgeschichte, Linz 31950, 13, hegt – m. E. unbegründete – Zweifel an Neumüllers These.

59 Vgl. Neumüller, Bernardus Noricus 130. Die biographischen Daten im Verfasserlexikon zur deut-schen Literatur des Mittelalters I (1978) 715 (s. v. Berchtold von Kremsmünster; Artikel von P[aul]

Uiblein) sowie im oben erwähnten Lexikon des Mittelalters beruhen im Wesentlichen auf den Ergebnissen von Neumüller.

60 Das genaue Todesdatum ist aus dem Kremsmünsterer Nekrolog nicht mit Sicherheit zu ermitteln;

siehe Neumüller, Bernardus Noricus 129.

61 In der autobiographischen Bemerkung im CC 24, fol. 59r, heißt es „circa annum domini M CCC X IIII“.

62 Die Legenda S. Agapiti und der Sermo S. Agapiti sind dagegen erhalten (CC Cim. 3, fol. 85ra–96vb bzw. fol. 97ra–104vb).

63 CC Cim. 5, fol. 83rb (Heilige) und fol. 83rb, 83vab (Wohltäter).

64 CC Cim. 5, 46vcd.

Zudem muss er die Stellung des Klosterbibliothekars innegehabt haben, da uns von seiner Hand einige Bücherverzeichnisse erhalten geblieben sind.65 Schon aus dem zweiten Teil des von Berchtold verfassten Wohltäterverzeichnisses wird deutlich, dass er sich auch viel und gerne mit Geschichte beschäftigte. Es passt also durchaus in das Bild dieses vielseitig interessierten Mönches, dass wir gerade ihm die erste Überlieferung einer norischen Inschrift verdanken. An der Entstehung der „eigen-artigen, auch die Haus- und Landesgeschichte erfassenden Sammel-, ja geradezu Inventurarbeit der Kremsmünsterer Geschichtsquellen“66 war er ganz maßgeblich beteiligt. Während in der heute in der Österreichischen Nationalbibliothek aufbe-wahrten, aber zweifellos ebenfalls in Kremsmünster verfassten Handschrift CVP 610 vor allem eine Unzahl an Bemerkungen und Notizen aus seiner Feder stammt, so handelt es sich bei dem Kremsmünsterer Codex Cim. 3 um ein echtes Autograph, dem vielfach die Texte in der Wiener Handschrift zugrunde liegen.

Im Rahmen der Bearbeitung des im CVP 610 enthaltenen Kataloges der Bischöfe von Lorch und Passau67 verfasste Berchtold einen neuen Prolog.68 Gegen Ende dieser Ein-leitung kommt er auf die Gründung der Lorcher Kirche zu sprechen und berichtet, dass „tempore Rudolfi regis et domini Wernhardi episcopi Pataviensis“, also zwischen 1285 und 1291, bei Renovierungsarbeiten an der Ostseite des Gotteshauses „quaedam imagines cum litteris sculptis in lapidibus“ gefunden worden seien.69 Da Berchtold diese

„litterae“ für wichtig hält, gibt er sie in der Folge so wieder, wie er sie nach eigenen Angaben selbst gesehen hat („sicuti ibi vidi“)70: „d m Seccius secundinus vet leg t alpf eiula severio cona eius si bite seccio secundino filte mariis maximo te secundo nepotibus suis vivi fecerunt te. et infra: obito anno XXV.“

65 Zu seiner Tätigkeit in der Bibliothek vgl. neben der bereits genannten Literatur auch Willibrord Neumüller, Zur mittelalterlichen Bibliotheksgeschichte Kremsmünsters (bes. Kap. IV: Die Bibliothek unter Abt Friedrich von Aich. 1275–1325), in: Festschrift zum 400jährigen Bestande des öffentlichen Ober-gymnasiums der Benediktiner zu Kremsmünster, hrsg. vom Professorenkollegium, Wels 1949, 281–292 sowie ders. und Kurt Holter, Die mittelalterlichen Bibliotheksverzeichnisse des Stiftes Kremsmünster (Schriftenreihe des Institutes für Landeskunde von Oberösterreich 2), Linz 1950, Verzeichnisse III–

IX.

66 Lhotsky, Österreichische Historiographie 27.

67 CVP 610, fol. 82r–83v, 89v–90v.

68 CC Cim. 3, fol. 1r–8r. Nach Neumüller, Bernardus Noricus 108, stammt dieser bis 1321 reichende Katalog ebenso wie die folgenden drei Zusammenstellungen zweifelsfrei von Berchtold selbst.

Gedruckt bei Loserth, Kremsmünsterer Geschichtsquellen 32–33, und in den MGH SS XXV, hrsg. von Georg Waitz, Hannover 1880, Ndr. Stuttgart 1974, 651–652. Die Ausgabe von Waitz ist als die bessere zu bezeichnen. Eine Konkordanz zwischen den beiden Druckwerken bietet Lhotsky, Quellenkunde 285–286. Zur Beschreibung der Handschrift CC Cim. 3 siehe Fill, Kremsmünsterer Handschriftenkatalog, Katalogband 40–49.

69 CC Cim. 3, fol. 1r. Die Regierungszeit König Rudolfs I. (1273–1291) und des Passauer Bischofs Wernhard von Prambach (1285–1313) überschnitt sich im oben genannten Zeitraum; vgl. Lothar Eckhart, Die St. Laurentius-Kirche zu Lauriacum-Lorch (Enns in Geschichte und Wissenschaft), in:

JOÖMV 120 (1975) 37–55, hier: 49.

70 Die Vermutung, dass Berchtold (auch) der Inschrift wegen nach Lorch gereist sein könnte, drängt sich zwar angesichts seiner peniblen Arbeitsweise fast auf, scheint aber letztlich doch zu gewagt.

Abb. 1: CC Cim. 3, fol. 1rb (Ausschnitt; vgl. Taf. 1)

Es handelt sich bei dieser Abschrift – wie oben bereits erwähnt – um die heute noch erhaltene Inschrift CIL III 567171, die um 1856 im niederösterreichischen Ferschnitz (südöstlich von Amstetten) wiederentdeckt und nach einigen Jahrzehnten der Aufstellung im örtlichen Pfarrgarten im Jahre 1904 an das Museum Lauriacum in Enns abgegeben wurde.72

Ein Blick auf das Original zeigt, dass Berchtold die Abschrift nicht wirklich gelungen ist. In der ersten Zeile hat sich der Mönch offenbar noch selbst korrigiert, denn nur auf den ersten Blick scheint es, als hätte er die Buchstaben „D M“ (für „dis manibus“) übersehen oder absichtlich weggelassen. Bei genauerem Hinsehen ist jedoch festzu-stellen, dass die interlineare Ergänzung aus seiner eigenen Hand stammt. Eine Zei-lentrennung berücksichtigt Berchtold einzig an dieser Stelle. Mit dem übrigen Inschrifttext hatte er teilweise beträchtliche Schwierigkeiten: Während er das mit dem „s“ verbundene „u“ im Namen „SECVNDINVS“ (Z. 2) noch richtig lesen konnte – zweifellos kam ihm dabei die mittelalterliche Gepflogenheit, die Endung „-us“ zur

71 Mit Zusätzen auf S. 1049 und 2287.

72 Vgl. den textkritischen Apparat im CIL und die Notizen in den Mittheilungen der K.K. Central-kommission N. F. 2 (1876) 28 (basierend auf einem Schreiben von Florian Wimmer, der unab-hängig von Mommsens Bemerkungen im CIL zu ähnlichen Ergebnissen kam). Zur wechselvollen Geschichte des Inschriftsteines siehe Sacken, Archäologischer Wegweiser 29, und – immer noch grundlegend – Adolf Bauer, Zu der Inschrift CIL III 5671, in: AEM 17 (1894) 166–169. Vgl. vielfach darauf basierend Gerhard Winkler, Oberösterreichs ältester Römerstein. Die wechselvollen Schicksale der Inschrift CIL III 5671+11814, in: Ders., Varia Norica 103–105 (erstmals publiziert in: MMVLaur 81, 1973, 19–21). Ebenfalls jüngeren Datums ist der bereits zitierte Beitrag von Lothar Eckhart, Laurentius-Kirche, in: JOÖMV 120 (1975), überarbeitet unter dem Titel „Die St. Laurentius-Basilika von Enns-Lorch/Lauriacum in Geschichte, historischer Theorie und archäologischer Praxis. Eberhard Marckhgott zum 70. Geburtstag“ in: Rudolf Zinnhobler (Hrsg.), Lorch in der Geschichte, Linz 1981, 57–

71, bes. 61–62. Vgl. auch Katharina Hasitzka, Custos Armorum: Eine Grabinschrift aus Lauriacum (?) im Diözesanmuseum St. Pölten, in: Peter Scherrer (Hrsg.), Landeshauptstadt St. Pölten. Archäologische Bausteine II (Sonderschriften des ÖAI 23), Wien 1994, 159–160.

Abb. 2: CIL III 5671 = lupa 4512 (Museum Lauriacum, Enns)

D(is) M(anibus) / Seccius Secundinus / vet(eranus) leg(ionis) II Ital(icae) p(iae) f(idelis) et Iulia / Severio coni(ux) eius si/bi et Secciae Secundinae / fil(iae) et Mariis Maximo et / Secundo nepotibus /suis vivi fecerunt et / Iul(io) Apricio fil/io) mil(iti) leg(ionis) s(upra) s(criptae) / b(ene)f(iciario) praef(ecti) stip(endiorum) VI Θ (obito) an(norum) XXV

Kürzung hochzustellen, zugute –, konnte er in der dritten Zeile die Zahl „II“ nicht als solche erkennen und ließ sie ebenso aus wie das folgende „I“ aus „ITAL“. Die übrigen Buchstaben zog er zu „alpf“ zusammen. In Zeile 4 schrieb er „cona“ für

„coni“, das auf die Zeilen 4 und 5 aufgeteilte „SIBI“ erkannte er trotz seiner „guten philologischen Schulung“73 nicht als ein Wort. Am wenigsten kam Berchtold mit den zahlreich verwendeten Ligaturen zurecht. Ganz besonders fällt auf, dass er die Ver-schränkung „TE “ nicht als „et“ erkannte, obwohl er – entsprechend der mittelalter-lichen Schreibweise – für diese Konjunktion selbst ein Kürzungszeichen verwendete.

Abgesehen von Zeile 3, wo er „e“ las, transkribierte er die besagte Ligatur mit „te“:

zweimal in Zeile 6, einmal in Zeile 8; in Zeile 5 zog er sie gar mit dem Vorher-stehenden zu der unsinnigen Verbindung „si bite“ zusammen. Die am Wortende stehende Verschränkung „Æ“ (Z. 4) gab er mit „-o“ wieder, wodurch ein Dativus femininus zu einem Dativus masculinus wurde. Die Tatsache, dass er in Zeile 3 die Ligatur „LI“ mit dem nur schwer erkennbaren, nach oben verlängerten Schaft des

„L“ übersah, wird man ihm allerdings nicht wirklich vorwerfen können, denn auch im CIL III 5671 wurde sie nicht verzeichnet.

73 So Uiblein im Verfasserlexikon I 717. Neumüller, Bernardus Noricus 122, schreibt gar: „Er (sc. Berch-told) [...] meistert die lateinische Sprache.“

Es ist offensichtlich, dass Berchtold den Inschrifttext nicht verstanden hat, ja sogar kaum lesen konnte. Er selbst macht daraus aber ohnedies kein Hehl, indem er meint:

„[...] licet non ipsarum litterarum intellectus legentibus pateat manifeste“. Aus dem Weni-gen, das er korrekt entziffern konnte, zog er den falschen Schluss, dass es sich bei dem Stein um einen Beweis für die frühe Gründung der Laurentiuskirche handelte.

Dabei dürfte ihn zum einen der Name Secundinus am Anfang der Inschrift irrege-führt haben74, zum anderen die Zahlenangabe am Ende der Inschrift, die Berchtold wohl für die Jahreszahl 25 (n. Chr.) hielt. Der dazwischenliegende Text war für den Mönch weniger interessant, und so ließ er in seiner Abschrift die ganze neunte Zeile und einen Großteil der zehnten Zeile absichtlich weg75.

Dennoch muss sein Bemühen um den Text dieses epigraphischen Zeugnisses hoch-geschätzt werden, und es scheint durchaus gerechtfertigt, Berchtold von Krems-münster als „Pionier der Epigraphik“ zu bezeichnen76: In seinem Versuch, eine rö-merzeitliche Inschrift als Quelle für die Geschichte der Laurentiusbasilika heran-zuziehen, ging er zwar fehl, war aber gerade dadurch seiner Zeit weit voraus. Es

Dennoch muss sein Bemühen um den Text dieses epigraphischen Zeugnisses hoch-geschätzt werden, und es scheint durchaus gerechtfertigt, Berchtold von Krems-münster als „Pionier der Epigraphik“ zu bezeichnen76: In seinem Versuch, eine rö-merzeitliche Inschrift als Quelle für die Geschichte der Laurentiusbasilika heran-zuziehen, ging er zwar fehl, war aber gerade dadurch seiner Zeit weit voraus. Es

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