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Auswanderung nach Australien

Im Dokument Besitz und Ideal (Seite 124-128)

VII. Loslösung von Konventionen

7.3.1. Auswanderung nach Australien

Mary Turnham kommt 1838 in einem bürgerlichen Wohnviertel Lancasters zur Welt. Ihr ältester Bruder John, der als erster in der Familie nach Australien ausgewandert ist, gilt unter den Familienangehörigen als Vorbild, da er es dort durch sein Macht- und Besitzstreben bereits nach kurzer Zeit zu materiellem Wohlstand und zu der Aussicht auf einen hohen Regierungsposten gebracht hat.

John [...] was regarded as a kind of Napoleon by the younger fry. At thirty, this John was a partner in the largest wholesale dry-goods’ warehouse in Melbourne. He had also married money, and intended in due course to stand for the Legislative Council. (59)

Aus den Worten des Erzählers geht hervor, daß Macht und Besitz in Australien keine Grenzen gesetzt sind. Wie das Beispiel Johns zeigt, besteht sogar die Möglichkeit, bereits mit dreißig Jahren zu beidem zu gelangen. Die Worte „he had married money“ sind nicht nur ein Hinweis darauf, daß die Frau eine Mitgift in die Ehe einzubringen hat, sondern sagen gleichzeitig etwas darüber aus, daß das Macht- und Besitzdenken somit nicht nur in England, sondern auch in Australien eng an den patriarchalischen Herrschaftsanspruch angelehnt ist.

Als Mary vierzehn Jahre alt ist, bietet John ihr an, ihm den Haushalt zu führen. Sie bricht daraufhin die Schule ab und wandert nach Australien aus. Dies spricht dafür, daß sie zu diesem Zeitpunkt vor allem an materiellen Werten interessiert ist. Johns Angebot, ihr die Führung seines Haushalts zu übertragen, ist ebenfalls bezeichnend für sein materielles Denken. Ähnlich wie Darius seinem Sohn nur eine höhere Schulbildung zukommen läßt, um ihn für sein Unternehmen zu qualifizieren, greift auch John auf seine Schwester nur

als Mittel zum Zweck zurück. Sein Materialismus erfährt noch eine Steigerung dadurch, daß er sein Angebot zurückzieht, als Mary in Melbourne ankommt. Ihre ältere Schwester Sarah, die auch in Australien lebt, erscheint ihm inzwischen für die Führung seines Haushalts besser geeignet und daher für sein Geld mehr zu leisten als Mary. Da er auch nicht bereit ist, für ihren Lebensunterhalt aufzukommen, unterrichtet Mary die beiden Töchter der ihr mütterlich zugetanen Mrs. Beamish, die zusammen mit ihrem Mann in der Nähe von Melbourne ein Hotel betreibt. Während der zwei Jahre, die sie hier verbringt, wandern bis auf ihre Schwester Lisby, die sich um die daheimgebliebene Mutter kümmert, alle übrigen vier Geschwister Marys ebenfalls nach Australien aus, da ihnen, wie das Beispiel Neds, Marys jüngstem Bruder, zeigt, das gleiche Macht- und Besitzstreben wie John eigen ist, und sie hoffen, es hier erfolgreicher umsetzen zu können als in England.

[Ned’s] every second word [...] was of how he could amass most money with the minimum of bodily exertion. (59)

Mit sechzehn Jahren heiratet Mary den 28jährigen Aristokraten und Arzt, Dr. Richard Mahony. Die Beziehung zwischen ihnen wird von Anfang an durch die Disharmonie zwischen ihrem materiellen und seinem ideellen Denken überschattet. Palmer schreibt:

In all her essential qualities she is the antithesis of [...] Richard.9

Wie kritisch Mahony materiellen Erwägungen gegenüber eingestellt ist, zeigt seine Reaktion auf Neds Worte:

This calculating, unyouthful outlook was repugnant to Mahony, and for all his goodwill, the longer he listened to Ned, the cooler he felt himself grow. (59)

Während Mahony jedoch in Australien mit seinem Denken auf sich allein gestellt bleibt, teilen Marys Vorstellungen nicht nur ihre Angehörigen, sondern sämtliche übrige australische Einwanderer. So sagt John zu Mahony:

„Mr. Mahony [...] you tell me you are a gentleman. Sir! I had as lief you said you were a blacksmith.

In this grand country of ours, where progress is the watchword, effete standards and clogging traditions must go by the board. Grit is of more use to us than gentility. Each single bricklayer who unships serves the colony better than a score of gentlemen.“ (69)

Die Worte „progress is the watchword, effete standards and clogging traditions must go by the board“ sind ein Beweis für den in Australien herrschenden Antagonismus zwischen materiellen und ideellen Zielen. Das Wort „progress“ steht dabei unmittelbar für das Macht- und Besitzstreben. Mahony ergreift angesichts der gegen seinen Idealismus gerichteten Worte Partei für sich:

„Without a leaven of refinement, the very raw material of which the existing population is composed - “ (69)

9N. Palmer. Henry Handel Richardson. S. 77

Auch wenn der Satz unvollendet bleibt, läßt sich seine Bedeutung erschließen: Das Macht- und Besitzstreben führt ohne den Einfluß ideeller Werte zur Selbstzerstörung.

Der frühe Tod Johns und der schon davor einsetzende Niedergang seiner Familie sind ein Beispiel dafür. Auch Johns Geschwister bekommen die destruktiven Folgen seines einseitigen Macht- und Besitzstrebens zu spüren. So überredet er sie nur deswegen, nach Australien zu kommen, um als künftiges Regierungsmitglied über noch mehr Einwanderer Macht ausüben zu können. Zu Mahony sagt er:

„What we need here is colonists.“ (70)

Seinen Geschwistern zur Seite zu stehen, während sie sich eine Existenz aufbauen, beabsichtigt er hingegen nicht. Der Erzähler zeichnet ein sehr kritisches Bild von ihm.

[John] - the successful man of business held his relatives at arm’s length. [...] Mahony conceived John to himself as a kind of electro-magnet, which, once it had drawn these lesser creatures after it, switched off the current and left them to their own devices. (59)

Mary hat im Vergleich zu John jedoch nicht nur materielle, sondern darüber hinaus auch ideelle Ziele.

Mary is, by nature, sociable and forthcoming; though born overseas, she has become part of the country; her natural buoyancy makes her always ready to give an affirmative answer to life.10

Dadurch, daß beide Bestrebungen in ihr vereint sind, steht sie nicht nur als Bindeglied zwischen John und Mahony, sondern zeichnet sich im Vergleich zu ihnen durch eine konstruktive Lebensweise aus, die ihr letztlich, wie im folgenden dargestellt, dazu verhilft, weder so wie John noch wie Mahony in Selbstzerstörung zu enden. Da sie sich wegen ihrer hier lebenden Geschwister und den Beamishs mit Australien verwurzelt fühlt und an dem Fortschritt im Land teilhaben will, überredet sie Mahony, in Ballarat eine Praxis zu eröffnen und nicht, wie er es sich wünscht, nach England zurückzukehren.

It passed belief that anybody could really dislike this big, rich, bustling, go-ahead township, where such handsome buildings were springing up and every one was so friendly. (113/4)

Die Gedanken „Every one was so friendly.“ und die Worte „big, rich, bustling, go-ahead township“ sind eine Bestätigung dafür, daß menschliche Werte und materielles Denken in ihr einander bedingen. Dies zeigt auch ihre Argumentation, die sie Mahony gegenüber vorbringt, um in Ballarat zu bleiben.

„You’re known here, Richard, and that’s always something; in England you’d be a perfect stranger.

And though you may say there are too many doctors on the Flat, still, if the place goes on growing as it is doing, there’ll soon be room for more; and then, if it isn’t you, it’ll just be some one else.“ (148)

Das Wort „known“ tritt als ideeller Wert zu ihrem materiellen Denken. Durch ihre Absicht, Mahony zum Bleiben zu überreden, läßt sie in ihr Gespräch mit ihm noch eine Vielzahl ähnlicher Worte einfließen:

10N. Palmer. Henry Handel Richardson. S. 77

„You’d call yourself by your full name again, and write it down on the visiting list at Government House, and be as good as anybody, and be asked into society, and keep a horse. You’d live in a bigger house, and have a room to yourself and time to read and write. I’m quite sure you’d make lots of money and soon be at the top of the tree.“ (149)

Worte wie „read and write“, „make lots of money“ und „be at the top of the tree“ zeigen, daß in Mary Idealismus und Macht- und Besitzstreben in einer Wechselbeziehung zueinander stehen. Daher hätte sie im Vergleich zu Mahony auch keine Probleme, um Patienten zu werben. Er hingegen ist dem Macht- und Besitzstreben gegenüber so antagonistisch eingestellt, daß er nur den Profit vor sich sieht, um dessen willen es ihm widerstrebt, sich als gentleman öffentlich zu repräsentieren. Er übersieht, daß mit dem materiellen Wert, der für ihn in der Sicherstellung seines Lebensunterhalts und letztlich auch in der Rückgewinnung des Vermögens seiner Angehörigen in Dublin besteht, ein ideeller Wert einhergeht. Dieser besteht darin, in der Gewinnung von Patienten in der Form, wie sie Mary vorschlägt, gleichzeitig auch eine Gelegenheit zu sehen, den Menschen auf diese Weise näherzukommen. Der Erzähler schreibt:

[Mary] would have announced the beginning of her practice in big letters in the Star, and she would have gone down into the township and mixed with people and made herself known. With Richard, it was almost as if he felt averse from bringing himself into public notice. (165)

Die Sätze „[Mary] would have mixed with people and made herself known.“ und

„[Mahony] felt averse from bringing himself into public notice.“ sind ein Hinweis darauf, daß selbst dann die Beziehung zwischen Mary und Mahony keine Annäherung erfährt, wenn Mary sich seinen Idealen assimiliert. Der Grund dafür besteht in der Einseitigkeit, mit der Mahony die bürgerliche Gesellschaft in Gestalt Marys betrachtet. Das Unverständnis, das daraus in Mary gegenüber Mahony erwächst, stellt Elliott wie folgt dar:

[Mary] does not know what [Mahony] demands of life, because - by education, upbringing, association, environment - she has never experienced even the idea of it. [She] represents the vigorous youth of an emerging national character - at a stage when staying power was more important than fineness of mind.11

Marys korrelierendes materielles und ideelles Denken verhilft ihr gegenüber Mahonys

„fineness of mind“ zu der Überlegenheit, die Elliott mit „staying power“ umschreibt.

Zugleich spiegelt dieses Denken, wie sich aus dem Satz „[She] represents the vigorous youth of an emerging national character.“ herleiten läßt, Marys Loslösung von Konventionen wider. Die Tatsache, daß Mary eine menschlichen Idealen gewidmete Lebensweise dem Macht- und Besitzstreben vorzieht, ist daran erkennbar, daß sie letzteres in dem Moment aufgibt, in dem Mahony durch seine Australia-Felix-Aktien zu Wohlstand gekommen ist.

11B. Elliott. Singing to the Cattle. S. 100

Mary’s ambitions for him - that he should climb the tree, make a name - also gradually sank to rest.

(454)

In ihren Wertvorstellungen ist sie Edwin Clayhanger und Osmond Orgreave ähnlich, da sich beide, wie im letzten Abschnitt besprochen, nur solange dem materiellen Denken verschreiben, solange sie der finanziellen Voraussetzungen für ein Leben nach ihren Idealen entbehren.

[Mary] had plenty of time to devote herself to what Richard called her true mission in life: the care of others - especially of the poor and suffering, the unhappy and unsure. And many a heart was lightened by having Mary to lean on, her strong common sense for a guide. Her purse, too, was an unending solace. Even in the latter years in Ballarat, she had had to dispense her charities carefully, balancing one against another. Now her income was equal to all the calls made on it ... and more ...

(454)

Die Worte „[her] care of others“ und „Her purse was an unending solace.“ sind ein Hinweis darauf, daß Mary in ihre Wertauffassungen soziales Engagement einbezieht.

Dadurch erinnert sie an Edwin, der sich für die Töpfer in Bursley einsetzt und an Irene in der Forsyte Saga, die Frauen hilft, die zu Opfern desselben Besitzdenkens ihrer Männer geworden sind wie sie.

Im Dokument Besitz und Ideal (Seite 124-128)